»Und? Was den­ken Sie über mein Land?« Ich schaue aus dem Fens­ter, über Tehe­ran legt sich die Nacht. Stahl und Beton zie­hen an mir vor­über, Lich­ter­ket­ten blin­ken, und von den Fas­sa­den glot­zen die bär­ti­gen Aya­tol­lahs auf mich herab. Der Taxi­fah­rer hat die Musik lei­ser gedreht, lächelt in den Rück­spie­gel. Was denke ich über den Iran? Jetzt im Aus­klang, zum Schluss? Eine Frage, die mir in den letz­ten Wochen unzäh­lige Male gestellt wurde mit den immer glei­chen erwar­tungs­fro­hen Augen. Ich möchte ihm ant­wor­ten und kann es nicht. Die Worte haf­ten am Gau­men, las­sen sich nicht spre­chen. Was denke ich über den Iran? Über die­ses Land, das mich ver­wirrt und das keine schlichte Ant­wort zulässt? Es gibt so viel, was ich sagen könnte. Ich könnte ihm sagen, dass mich der Iran wütend macht. Dass ich die letz­ten 37 Jahre nicht ver­stehe. Dass ich die Isla­mi­sche Revo­lu­tion nicht ver­ste­hen will. Mit all ihrem Zorn auf Kör­per und Frei­heit. Ich ver­stehe nicht, warum die Revo­lu­ti­ons­gar­dis­ten damals Frauen auf der Straße in Stü­cke schlu­gen, nur weil das Kopf­tuch eine Haar­lo­cke preis­gab. Ich ver­stehe nicht, warum die Sit­ten­po­li­zei den Mäd­chen ihren Lip­pen­stift mit einem Mes­ser vom Mund kratzte.

Ich könnte ihm sagen, dass ich das Régime ver­achte. Dass ich nie­mals akzep­tie­ren werde, wie es seine Ein­woh­ner ver­letzt. Immer noch. Wie es in Got­tes Namen straft und schlach­tet. Wie es seine Kin­der frisst und aus­kotzt. Ich könnte ihm sagen, dass die Ira­ne­rin­nen schön sind. Doch viel­leicht weiß er das bereits. Die Män­ner hier ver­eh­ren ihre Frauen. Aber die staat­lich ver­ord­nete Ver­schleie­rungs­pflicht bleibt. Die Man­te­aus wer­den jedoch enger, und das Kopf­tuch rutscht nach hin­ten. Ein­zig der Haar­kno­ten im Nacken hält das Stück Stoff. Ein reli­giö­ses Pos­sen­spiel. Auch das Rouge auf den Wan­gen und die ope­rier­ten Nasen sind unor­tho­dox und trotz­dem da. Wenn nur noch ein Schnip­sel Haut zu sehen ist, so soll er leuchten.

Ich könnte sagen, dass dies die Anek­do­ten sind, die Rei­sende über den Iran erzäh­len. Jedes Mal. Viel­leicht weil das Erschei­nungs­bild der Frauen die erste Wider­sprüch­lich­keit ist, die ihnen ins Auge springt. Auch mir. Dabei ist im Iran alles widersprüchlich.

Ich könnte ihm sagen, dass ich Men­schen traf, die das Régime has­sen. Und andere, die mir Bil­der der Aya­tol­lahs auf ihrem Smart­phone zeig­ten und dabei jubel­ten. Ich könnte sagen, dass ich Angst hatte, in sein Land zu rei­sen, und wie lächer­lich ich mich auf­führte. Wie ich mich die ers­ten 102 Minu­ten im Got­tes­staat fürch­tete, auf der »Achse des Bösen«. In einem Taxi, so wie die­sem. Wie ich auf mei­ner Unter­lippe her­um­kaute und mich von mei­nen Kli­schees ein­wi­ckeln ließ. In mir fla­ckerte das Gefühl einer Bedro­hung, einer Angst, so mil­chig wie die Dunst­wol­ken über Tehe­ran. Doch nichts bedrohte mich. Gar nichts. Keine Pis­tole an mei­nem Kopf, kein häss­li­ches Wort, keine Gefahr. Ich saß nur in einem Taxi und ließ die Stadt vor­bei­rau­schen. Nichts weiter.

Ich könnte sagen, dass ich dumm war. Trotz all der Geschichts­bü­cher, all der Zei­tungs­ar­ti­kel und all der Doku­men­ta­tio­nen, die ich zuvor über Per­sien ver­schlun­gen hatte, war ich stock­dumm. Stän­dig plopp­ten grimm­graue Bil­der wie Inter­net­wer­bung in mir auf. Immer wie­der sah ich Mul­lahs mit Zot­tel­bär­ten, die ihre Fäuste in die Luft reck­ten, Frauen in schwar­zen Tüchern spuck­ten auf bren­nende US-Flag­gen. Sze­nen, die ich aus unse­ren Nach­rich­ten kannte oder aus Spiel­fil­men. Sie schli­chen in mei­nen Kopf, sicker­ten hin­ein, ver­kleb­ten meine Synapsen.

Ich könnte sagen, dass ich nichts begrif­fen hatte. Ich dachte, es gebe zwei Sei­ten: die Regi­me­an­hän­ger und die Regime­geg­ner. Die Beten­den und die Fei­ern­den. Eine fromme Frau werde nie­mals ihren Kuss­mund auf Insta­gram pos­ten. Ein Stu­dent, der vom Wes­ten träumt, könne Kho­meini nicht ver­eh­ren. So dachte ich. Ich dachte falsch. Ich wusste nicht, wie geschmei­dig sich die Ira­ner durch ihr Sys­tem bewe­gen und wie jede Situa­tion eine neue Anpas­sung erfor­dert. Dass Frei­heit ohne Lüge nicht mög­lich ist. Und dass die her­un­ter­glei­ten­den Kopf­tü­cher nur Scha­blo­nen sind, nur meine west­li­che Vor­stel­lung von Selbst­be­stim­mung. Ich war zu naiv, um die tiefe Zer­ris­sen­heit im Land zu erah­nen. Nicht zer­ris­sen in Schwarz oder Weiß. Das wäre ja kin­der­leicht. Nein, da sind nicht nur zwei – da sind Myria­den von Sei­ten. Und durch all die Risse kommt das Licht hinein.

Habe ich nach drei­ßig Tagen über­haupt irgend­et­was ver­stan­den? Obwohl ich am Leben der Men­schen teil­nahm? Obwohl ich sie nach ihrer Frei­heit fragte? Nach ihren Lügen und ihren Innig­kei­ten? Was weiß ich schon.

Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Euro­päe­rin schwie­rig war, wenn ich begafft und bedrängt wurde. Dass ich mich oft ver­lo­ren fühlte, doch sel­ten ver­lo­ren ging. Ich könnte ihm sagen, dass es für mich als Euro­päe­rin leicht war, denn die Ira­ner zeig­ten mir den Weg. Wie das Müt­ter­chen, das mich durch die Stadt zu einer Sehens­wür­dig­keit führte und mei­net­we­gen sei­nen Bus ver­passte. Wie der Mann, der mich auf dem Motor­rad mit­nahm und zum Ziel fuhr. Oder die Frau, die mit zehn Taxi­fah­rern den bes­ten Preis für mich aus­han­delte. Die vie­len Gesich­ter, die mich anlä­chel­ten und auf einen Chai ein­lu­den. Fremde Men­schen, die ihre Her­zen bedin­gungs­los verschenkten.

Ich könnte sagen, dass ich mich in den Iran ver­liebt habe. In die Ein­woh­ner, in die Land­schaft. In die Poe­sie, die nach schwe­rem Jas­min duf­tet. Und wie ich Wüs­ten­sand im Haar trug oder unter den Nägeln.

Ich könnte sagen, wie sehr ich die Farbe von Safran mag, wenn er als gelbe Haube den Reis bedeckt, und dass die Stra­ßen nach Qualm und Oran­gen­blü­ten rochen. Süße Mari­hua­na­wol­ken umhin­gen uns auf Par­tys. Und der Geschmack von Hun­de­schweiß klebte auf unse­ren Zun­gen. So nen­nen sie ihren Rosi­nen­schnaps. Ich könnte ihm sagen, dass wir auf Dächern tanz­ten und Schweiß tran­ken. Über Ver­bote könnte ich spre­chen. Ver­bote, die ich brach. Ach, die vie­len Brü­che. Die Knackse. Die zer­schla­ge­nen Löwen­köpfe. Smog und Schnee. Schön­heit, die nur sicht­bar wird durch das Gegenteil.

Ich könnte ihm von tief­brau­nen Augen erzäh­len. Von Kou­rosh und sei­nen Lach­fal­ten. Mei­ner Hand in sei­ner. Ich könnte sagen, dass sich meine schwarz-wei­ßen Vor­stel­lun­gen in tau­send­und­eine Grau­stufe auf­ge­löst haben. Und wie mich der Iran berührt. Wie er Seele und Kopf und alles anfasst. Ich könnte ihm ant­wor­ten, dass mein Herz rand­voll ist mit Per­sien. Aber ich tue es nicht. Ich kann die Worte nicht grei­fen, in kei­ner Spra­che. So lüge ich und sage doch die Wahr­heit: »Iran khube.« Der Iran ist gut. Und der Taxi­fah­rer lächelt.

Auszug aus:

Das verlorene Kopftuch. Wie der Iran mein Herz berührte.

Erschienen im Piper Verlag. Erhältlich überall im Buchhandel.

Cate­go­riesIran
  1. Nadine Pungs says:

    Liebe Andrea, über deine Zei­len freue ich mich ganz arg. Wie schön! Danke! Jetzt ist der Tag noch viel son­ni­ger, und das ist ja eigent­lich schon fast gar nicht mehr möglich. :)
    Wün­sche dir alles Feine!
    Nadine

  2. Andrea says:

    Ich habe noch nie so unbe­darft ein Buch gekauft und dann fest­ge­stellt, dass es ein sol­cher Magnet ist. Aus Zeit­not, weil ich mich mit einem Freund tref­fen wollte, habe ich im Buch­la­den nur halb ins Buch geschaut und es zur Kasse getra­gen. Am Abend lief mal wie­der nix im Fern­se­hen und bei the­ma­tisch pas­sen­der Som­mer­hitze legte ich mich hin und laß. 50 Sei­ten flo­gen ein­fach so dahin.
    Das war vor­ges­tern. Ges­tern ergab sich lei­der keine Zeit zum Lesen und heute.… nunja, der Magnet wirkt und ich bin fast am Ende des Buches. Vie­len Dank dafür und für die schöne Reise, auf der ich nun gedank­lich dabei war.

  3. Daniela says:

    Was für ein tol­ler Text, was für ein tol­les Buch, was für eine tolle Frau .… vie­len lie­ben Dank für den Arti­kel. Das Buch wird heute nach­mit­tag in der klei­nes Insel Buch­hand­lung bestellt.
    Liebe Meer­g­rüsse sen­det Daniela

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