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China, eine Reise in die Seele eines unbekannten Landes

Simo­ne Har­re reis­te 2014 zum ers­ten Mal nach Chi­na und erkennt, dass sie alles, was sie zuvor über die Volks­re­pu­blik gedacht hat, revi­die­ren muss. Sie geht auf die Suche nach dem „wah­ren“ Chi­na. Fünf Jah­re lang spricht sie mit Chi­ne­sen aller Schich­ten, mit Mil­lio­nä­ren, Taxi­fah­rern, Künst­lern und Außen­sei­tern, und bekommt einen tie­fen und sel­te­nen Ein­blick in das Leben der Men­schen hin­ter der kom­mu­nis­tisch-kapi­ta­lis­ti­schen Kulis­se. Ihr Buch »Chi­na, wer bist du? Eine Rei­se in die See­le eines unbe­kann­ten Lan­des« erschien 2020 im Rei­se­de­pe­schen Ver­lag, prä­miert auf der Short­list der Stif­tung Buch­kunst. Wir spre­chen über Chi­na, ihre Moti­va­ti­on und den Ein­fluss von Medi­en auf unse­re Wahr­neh­mung.

Wer ist China denn? Gibt es eine klare Antwort?

Chi­na ist ein Land, das man nie ver­steht und kennt. Noch nicht­mal die Chi­ne­sen selbst ken­nen ihr Land. Wage ich zu sagen. Es ist so groß und viel­fäl­tig mit Dör­fern, die teils so abge­le­gen sind, dass sie wenig von der Regie­rungs­li­nie mit­be­kom­men. Das, was wir von Chi­na ken­nen, ist das Chi­na aus den Medi­en. Das Chi­na der Mega­ci­ties. Ein erfun­de­nes und kon­stru­ier­tes Bild. Das Chi­na der Ankla­ge heu­te vor allem. Das ist nicht Chi­na. Natür­lich. Nur eine Facet­te. Das Chi­na, was die Chi­ne­sen ken­nen, ist mei­nes Erach­tens eben­falls eine Fata­mor­ga­na. Ein Stru­del auf und nie­der gehen­der Wün­sche. Atem­los. Immer nach vor­ne bli­ckend und doch in den Stri­cken der Ver­gan­gen­heit. Des alten Chi­na, des Kon­fu­zia­nis­mus, des Mao. Natür­lich kennt ein Chi­ne­se sein Land bes­ser als ein Aus­län­der. Er sagt: Das ist mein Mut­ter­land. Ich lie­be es. Aber: Liebt das Land, die Mut­ter, die Regie­rung auch sei­ne Bewoh­ner? Und wie kann man sein eige­nes Land ken­nen, wenn man kaum sein Umfeld ver­lässt, ein­ge­sperrt ist in Wün­schen und Erwar­tun­gen der Fami­lie, dem Gefäng­nis der Arbeit bis spät in die Nacht, in arran­gie­re Ehen und in eige­ne Ket­ten von Ruhm und Ehre und Geld gelegt, in einem Sys­tem, das die Wahr­heit fil­tert, baut, in geleer­te Köp­fe ein­si­ckern lässt, die Wirk­lich­keit so gut es geht ver­stellt und eine bun­te Fas­sa­de von Ablen­kung und Kon­sum zur Zer­streu­ung und für das Wirt­schafts­wachs­tum errich­tet . Klingt bru­tal und ein­sei­tig? Irgend­wie ja. Doch letzt­lich habe ich es genau so erlebt. An der Ober­flä­che ist es fröh­lich und vital, kind­lich, neu­gie­rig, leben­dig, wach, rege, schnell, ver­ant­wort­lich. Mit­rei­ßend dar­in. Und über­all lecker. Es wird getanzt und gelacht. Unter die­ser vita­len und auch prag­ma­ti­schen Ober­flä­che ist Ein­sam­keit, eine ver­lo­re­ne Füh­lung mit sich selbst und dem ande­ren, mit der Natur. Ich nann­te es „das lee­re Herz“ und glau­be, dass der klei­ne schla­gen­de Rest eines Tages auf­be­gehrt und sich sein vol­les Leben zurück­er­obern wird. Sogar ein chi­ne­si­scher Pro­fes­sor Ban­ge es so. Das Herz… gebeugt von einer mit­leids­lo­sen Knecht­schaft, die im Rah­men einer gesell­schaft­li­chen Pie­tät über Jahr­tau­sen­de sich ein­grub und mög­lich mach­te, das Land an die Spit­ze der Welt zurück zu manö­vrie­ren. 

Ich habe über die fünf Jah­re der Inter­views die Men­schen nach dem Glück gefragt und das Glück war dünn… doch die Chi­ne­sen sind stark und ich bin über­zeugt, sie wer­den es eines Tages in sich erobern und ent­de­cken. Ihr Herz zurück erobern. Wenn das pas­siert, wäre die Fra­ge nicht mehr: Was ist Chi­na denn nun? Son­dern: Was ist die Welt denn nun? … Und doch… so sehr die Men­ta­li­tät eine ande­re als bei uns ist oder anders­wo, der Mensch ist über­all auf der Welt der glei­che und der Grund­stoff, was ein Leben aus­macht, bleibt damit, egal mit wel­cher Erzie­hung, der glei­che. Chi­na bleibt also zuletzt nicht Chi­na son­dern ein Land mit Menschen….die eine lan­ge Geschich­te hin­ter sich haben und nun im Wan­del sind. Ich betrach­te in der Con­clu­sio das Land nicht im Sin­ne: jeder hat sei­ne Men­ta­li­tät und daher ist ein Urteil eine Anma­ßung. Nein, ich betrach­te ein Land danach, was die Men­schen aus­strah­len. Ob sie ver­bun­den sind mit sich und der Welt. Ich selbst war fast immer unglaub­lich glück­lich in Chi­na. Die Stim­mung ist posi­tiv und mit­rei­ßend. Zuge­wandt. Aber… eben nicht in der Tie­fe. Doch ohne Tie­fe wird man nicht gebo­ren… 

Welche Motivationen hattest Du, dich fünf Jahre lang intensiv mit der chinesischen Gesellschaft und dem Land auseinanderzusetzen?

Wenn man den ers­ten Fuß auf die­ses Land setzt, wird man schlag­ar­tig aller Vor­ur­tei­le beraubt. Sei­en es der posi­ti­ven oder nega­ti­ven. Das Land ist immer anders als man denkt, täg­lich, minüt­lich. Das ist span­nend. Wie es aber wirk­lich ist, kann man das her­aus­fin­den? Dass es nicht so ist wie in den Medi­en, soviel ist klar. Oder nicht ganz so. Und da ich so vie­le Jah­re in Deutsch­land schon Inter­views geführt hat­te und Por­träts über das Leben und das Lebens­glück der Men­schen schrieb, dach­te ich, die ein­zi­ge Mög­lich­keit einer Lebens­wirk­lich­keit näher zu kom­men, ist über das Zuhö­ren derer, die nor­ma­ler­wei­se nicht im Fokus ste­hen. Noch nicht mal für die Chi­ne­sen selbst. Also trieb mich an, die See­le der Chi­ne­sen her­aus­zu­schä­len, ihre Lebens­bau­stei­ne zu unter­su­chen und unter der Ober­flä­che zu krat­zen, inten­siv und tief, was kaum in der Wei­se geschieht. Außer­dem ist Chi­na letzt­lich in vie­len Din­gen uns erstaun­lich ähn­lich. 

Wie hast du die Personen für die Portraits ausgewählt und welche Kriterien haben dabei eine Rolle gespielt?

Mit einem ers­ten Domi­no­stein beginnt es. Ein Bekann­ter emp­fiehlt einen Bekann­ten und der Bekann­te emp­fiehlt Bekann­te. Schnell öff­net sich das Sys­tem… wenn man es sich ver­dient. Wenn man freund­lich und lie­be­voll mit den Men­schen umgeht. Das war der eine Weg. Die Wei­ter­emp­feh­lun­gen, die vie­le Arme beka­men. Der ande­re Weg ging anfangs sogar auch über Lin­ke­dIn. Damals durf­ten die Chi­ne­sen das Netz­werk noch benut­zen und ich fand eini­ge, mit denen ich mich ver­band und nach einem Inter­view bat. Und schließ­lich vor Ort. Spon­ta­ne Begeg­nun­gen, Men­schen anspre­chen. Vor allem auf dem Land 

Inwiefern haben sich deine persönlichen Eindrücke und Vorstellungen über China während deiner Reisen und der Arbeit an diesem Buch verändert oder weiterentwickelt?

Ich habe vor allem Frie­den mit mir als Deut­sche gemacht. Ich habe zeit­le­bens die „Juden­schuld“ mit mir rum­ge­schleppt. Ich war immer froh, dass ich im Aus­land nie für eine Deut­sche gehal­ten wur­de. Außer in Chi­na. Und in Chi­na war es sehr schick Deut­sche zu sein. Ich wur­de genau dafür geach­tet. Die Unbe­fan­gen­heit der Chi­ne­sen hat unter­schied­li­che Sei­ten. In dem Fall tat sie mir gut. Wenn man mal davon absieht, dass die Unbe­fan­gen­heit bei die­sem The­ma sogar so weit gehen kann, dass man Hit­ler super fin­det. War­um das so ist, das ist ein ande­res The­ma und führt hier zu weit. 

Außer­dem war ich echt stolz, mir ein sol­ches Land so erfolg­reich „erobert“ zu haben. Chi­na muss man sich erar­bei­ten, ver­dient machen, es braucht Geduld und es fühl­te sich toll an, das alles in einem Land erreicht zu haben, dass einem so unglaub­lich fern erschien. Vor der ers­ten Rei­se hat­te ich vor allem das alte Chi­na im Kopf. Dies wird sofort zer­stört. Wenn es noch sicht­bar ist, dann fast nur als Kulis­se. Das ist trau­rig. Das neue Chi­na hat jedoch auch viel­fäl­ti­ge span­nen­de Sei­ten, die immer wie­der neu­es ent­de­cken las­sen und natür­lich tut jedes Land den eige­nen Hori­zont ver­grö­ßern. Ich habe vie­le wun­der­ba­re Men­schen dort gefun­den. Aber ich fin­de über­all wun­der­vol­le Men­schen, wenn ich mich dar­auf ein­las­se. Es gibt inso­fern kei­nen Unter­schied von davor und danach. 

Welche Herausforderungen gab es bei der Darstellung einer so vielfältigen Gesellschaft wie der chinesischen, insbesondere in Bezug auf die Darstellung unterschiedlicher sozialer Schichten und Lebensstile?

Her­aus­for­de­run­gen? Kei­ne. Jeden Men­schen, dem ich begeg­ne beschrei­be ich so wie er mir begeg­net. Das ist alles. Ein Busi­ness­mann ist viel­leicht „bedeck­ter“, aber mög­li­cher­wei­se ist sein Geist leben­di­ger, weil er sich schon mit ande­ren Denk­mus­tern und Län­dern aus­ein­an­der­ge­setzt hat. Ein Mensch vom Land ist ein­fa­cher struk­tu­riert, prä­sen­tiert nicht sein Haben und sei­ne Ehre, hat kaum Ansprü­che an sich und sein Leben und ist ehr­li­cher, aber manch­mal auch plötz­lich ver­schwatzt und glück­lich, wenn man ihn wert­schätzt, weil man ihn ken­nen­ler­nen will. Es gibt da gar nicht sol­che Unter­schie­de. Mehr im Cha­rak­ter. Ich begeg­ne­te mit allen Men­schen in gro­ßer ener­ge­ti­scher Offen­heit und so konn­te ich sehr vie­le Zwi­schen­tö­ne mit­neh­men, die nicht mit Spra­che zu tun haben.  

Welche Rolle spielt deiner Meinung nach die menschliche Seite Chinas in der aktuellen geopolitischen Debatte?

Der Mensch spielt kei­ne gro­ße Rol­le. Er ist Mate­ri­al, das bedient und ver­scheu­ert wird. Sage ich mal sehr krass. Auch das Mit­ge­fühl ist gering. Da aber die Gesell­schaft zuneh­mend erschöpft ist, unter Depres­sio­nen und den Umwelt­gif­ten lei­det, haben sich doch eini­ge Din­ge durch­ge­setzt, das Leben freund­li­cher zu gestal­ten. Außer­dem wol­len immer weni­ger jun­ge Men­schen hei­ra­ten und Kin­der krie­gen. Qua­li­ty life kommt auf. Und Nach­hal­tig­keit ist ein The­ma. Mit­mensch­lich­keit und Tier­lie­be neh­men an Fahrt auf. Und er muss im Mini­mum bei Lau­ne gehal­ten wer­den, um sei­nen Bei­trag für die Wirt­schafts­kraft zu leis­ten. Nur nicht zu sehr. Aber ganz ver­ste­he ich die Fra­ge nicht. Wel­che Rol­le für wen? Für die Regie­rung? Für den Blick von außen? Geo­po­li­tisch? Ich glau­be, dass der ein­zel­ne Chi­ne­sen vor allem auf sich schaut, so wie wir das gemacht haben, als wir unser Wirt­schafts­wun­der hat­ten 

Gab es während deiner Reisen Momente, die dich besonders stark berührt oder beeindruckt haben? 

Oh, da gab es so vie­les. Aber gut, neh­men wir mal zwei star­ke Geschich­ten: ich habe Kin­der­hei­me besucht. Legen­där und bekannt sind die Son­nen­dör­fer, Kin­der­ein­rich­tun­gen für Kin­der von Straf­ge­fan­ge­nen und Hin­ge­rich­te­ten. Betrof­fe­ner aber war ich mehr von einer klei­nen Ein­rich­tung, in der man aus­ge­setz­te, behin­der­te Kin­der ver­wahr­te. Kin­der ohne jede Per­spek­ti­ve und ange­mes­se­ne Hin­wen­dung und doch betreut von einer hoff­nungs­vol­len Initia­ti­ve. Sehr gerührt hat mich eine kur­ze Begeg­nung mit einem sehr armen Bau­er, der sich ein Krüp­pel nann­te, da er als Kind eine schwe­re Rücken­ver­let­zung hat­te. Er war klein, gebeugt und dünn und arbeits­un­fä­hig und lächelnd. Er sag­te, wenn er nicht läch­le, wür­de gar kei­ner von ihm Notiz neh­men.

Welche Rolle spielen Träume, Sorgen und Glücksmomente in der chinesischen Gesellschaft? Was können wir daraus über das chinesische Lebensgefühl lernen?

Träu­me und Fan­ta­sie sind nicht unbe­dingt das, was dem Chi­ne­sen eigen ist. Von der Erzie­hung her. Man kann sie sehr in Ver­le­gen­heit brin­gen, wenn man sie danach fragt. Die einen kön­nen es beant­wor­ten, weni­ge. Die ande­ren gera­ten in Panik oder sie gucken in ein dunk­les Loch ohne Reso­nanz. Auf die Fra­ge nach dem Glück bekam ich reflex­ar­tig immer die Ant­wort: Fami­lie. Grub ich tie­fer, war nicht so oft etwas zu fin­den. Glücks­mo­men­te klan­gen oft sehr ein­fach. Einig waren sich indes fast alle, dass ihre Kind­heit Glück war. Vor allem die älte­re Gene­ra­ti­on, denn die kann­te noch das Grün und die Lan­ge­wei­le, die Zeit, als der Mate­ria­lis­mus noch nicht über Chi­na gekom­men war und das Fan­gen von Gril­len oder Fischen Freu­de berei­te­te. Oder wie die Frau eines Berg­werks­un­ter­neh­mers sag­te: Frü­her war viel­leicht das Betrach­ten einer Blu­me auf einem Berg unser Glück, heu­te haben wir das aus den Augen ver­lo­ren… 

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