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In seinem zweiten Buch NACH SÜDEN erzählt Marius Kriege von einer knapp halbjährigen Reise durch sechs Länder Südamerikas.
Ein Auszug.
Nelson Strauss erinnert optisch nicht unbedingt an jene deutschen Vorfahren, die vor über sechzig Jahren hier her emigriert waren. Seine Abstammung teilt er mit vielen Einwohnern dieses kleinen, weithin unbekannten Landes. Nelson ist in seinen späten Vierzigern, hat lockiges, seit Kurzem ergrautes Haar, dunkelblaue Augen und eine eingedrückte Nase; ein Souvenir von einer verlorenen Kneipenschlägerei, die ihn vor etwas mehr als zehn Jahren gleich drei Dinge auf einen Streich kostete: sein hübsches Gesicht, seine Frau Ricarda und seinen Job als Restaurantbesitzer. Es ging um die Affäre seiner Gattin mit einem jungen Mann aus der Lokalprominenz Asuncións, der unglücklicherweise (in Augen von Nelsons Frau) nicht nur ein ausgezeichneter Liebhaber, sondern obendrein auch Neffe des damaligen Bürgermeisters war. Auf den Faustkampf vor Publikum folgte mithin direkt die nächste Demütigung Nelsons vor seiner eigenen Familie sowie seiner gesamten Belegschaft, und das war‘s dann fürs Erste. Doch ist der Ruf erst ruiniert, trinkt es sich ganz ungeniert. So wurden die darauffolgenden Jahre ein düsteres Kapitel häufigen Wohnungs- und Kneipenwechselns, bis es ihn vor zwei Jahren auf Anraten seines Bruders an die Grenze zu Argentinien verschlug. Ciudad del Este sucht andauernd Männer für alle möglichen Jobs, für Handwerk, Handel und Transportwesen. Nelson tat daraufhin drei Dinge: Er kaufte sich genau drei frische, schneeweiße Hemden, mietete eine günstige Einzimmerwohnung im Zentrum der Grenzstadt und bewarb sich um eine Stelle als Taxifahrer. Seither ist er einer der beliebtesten und redseligsten Taxifahrer der ganzen Stadt und wer das Glück hat, zu ihm in den Wagen zu steigen, der wird diese kleine Lebensgeschichte ungefragt zu hören kriegen.
Woher ich das weiß? Ich bin sein heutiger Fahrgast, nachdem ich mich vor meinem Hostel von Edwin verabschiedet, zu Fuß den Río Paraná, damit die Grenze zu Paraguay überquert und einen anderen Teil der Welt erreicht habe. Es ist verblüffend, wie anders alles in Ciudad del Este auf mich wirkt. Die Atmosphäre ist aufgeladen, meine Nerven scheinen von Standby auf Alarmbereitschaft umgeschaltet zu sein. Dabei sind die paradiesischen Wasserfälle mit der touristischen Infrastruktur rundherum nur wenige Kilometer entfernt. Es erinnert an das Gefühl, das sich einschleicht, wenn du eine Kneipe betrittst, die dir nicht ganz geheuer ist. Du musst erst abchecken, was für Gestalten in den Ecken lungern und erst, wenn das erledigt ist, fühlst du dich entspannter, weil dir klar wird: Alles halb so schlimm.
Vom militärisch anmutenden Grenzgebäude bin ich zu Fuß in Richtung Innenstadt gegangen, wo sich ein riesiger Markt für Lebensmittel, Kleidung, Küchenartikel befindet – aber auch für Drogen, kleine Waffen oder Fahrzeugteile. Nicht umsonst trägt die Stadt den Beinamen „Supermarkt Südamerikas“. Alle wuseln kreuz und quer durcheinander, sie rufen und locken, und viele dieser Rufe gelten mir, dem Neuankömmling. Innerhalb von zwei Minuten soll ich Drogen kaufen, mich auf einem Motorrad zum nächsten Hotel fahren lassen, Porträts der Jungfrau Maria erstehen und die in Paraguay als Nationalgericht geltenden Chipas – gefüllte Teigtaschen, ähnlich den auch in Europa bekannten Empanadas – probieren. Es ist nicht gerade bedrohlich, aber es überfordert mich, und so bin ich dann lieber in Nelsons Taxi gestiegen. Nelson sieht mir meine Unsicherheit an der Nasenspitze an.
»Du warst noch nie in Ciudad del Este, nicht wahr?«
»Nein, ich war bislang in Argentinien und Uruguay unterwegs. Eigentlich komme ich aber aus Deutschland.«
»Mach dir keine Sorgen. Deutsche sind in meinem Land immer willkommen. Alles kein Problem.«
Ein Hostel gibt es in der ganzen Stadt nicht, was ins Bild passt, da ich bislang noch keinem anderen Reisenden über den Weg gelaufen bin. Nach dem Einchecken in einem billigen Hotel begebe ich mich zu Fuß zurück auf die Straße, um Bargeld abzuheben und Lebensmittel zu kaufen. Es ist merkwürdig, über Bürgersteige zu gehen, die nur aus rötlichem Sand bestehen. Die Busse, ausgemusterte nordamerikanische Schulbusse aus den Achtzigern oder Neunzigern, bunt bemalt und bis zum Bersten gefüllt, knattern mit offenen Fenstern und Türen an mir vorbei. Ich sehe mich aufmerksam um, die Menschen blicken meist genauso zurück. Als ich eine Stunde lang durch die Stadt gegangen bin, weiß ich auch, warum. Am heutigen Tag bin ich scheinbar der einzige Nicht-Südamerikaner, der sich in Ciudad del Este herumtreibt.
Immer, wenn ich in den letzten Wochen anderen Reisenden von meinen Plänen erzählte, fragten sie mich, warum ich überhaupt nach Paraguay will.
»Dort gibt es doch gar nichts zu sehen«, hieß es immer.
Diese Aussage verriet mir, wie sehr der Traum des klassischen, unabhängigen Reisenden ausgeträumt scheint. Im Grunde gibt es in meinen Augen einen eindeutigen Unterschied zwischen einem Reisenden und einem Touristen. Der Reisende will das Fremde gern so sehen, wie es ist. Er möchte das Alltägliche im Fremden erfahren, er sehnt sich danach, einen Ort so zu erleben, wie er immer ist. Dieser Anspruch bringt jedoch unausweichlich ein Gefühl mit sich, das dem Klischee einer solchen Reise zuwiderläuft: Langeweile. Daher erfand sich der Tourismus. Der Tourist will etwas geboten bekommen, er will Sehenswürdigkeiten. Was für ein verräterischer Ausdruck! Ein Tourist sieht demnach also nur das, was er als würdig erachtet. In gewisser Weise fordert der Tourist etwas, das dem Reisenden fremd ist. Die Fremde soll ihm etwas bieten, die Strapazen und der finanzielle Aufwand sollen sich rentieren. Lange Zeit ging ich davon aus, dass auch heute noch ein großer Unterschied zwischen Rucksackreisenden und Pauschaltouristen bestünde. In den letzten Wochen wurde ich eines Besseren belehrt, immer dann, wenn ich mit Backpackern auf meine geplante Route und Paraguay zu sprechen kam.
Tja, sicherlich gibt es in Paraguay keine Wasserfälle von atemberaubender Schönheit, keine Zig-Millionen-Metropole, keine Pyramide. In England oder Niedersachsen genauso wenig. Die weltgrößte Würstchenbude könnte hier Abhilfe schaffen, so hätte es Paraguay eventuell leichter. Oder mit der welthöchsten Marmorskulptur eines Penis. Das wäre vielleicht eine Idee für künftige kulturpolitische Verantwortliche entsprechender, keine Sehenswürdigkeiten aufweisender Länder: Einfach eine Marmorskulptur aufstellen lassen, die einen über hundert (!) Meter großen Penis bildet. Damit wäre das Problem bald gelöst. Ich kann die Begeisterung schon hören.
»Wie, du willst auf deiner Reise nicht nach Paraguay? Das ist doch voll geil, dort gibt es den größten Pimmel der Welt.«
Das ganze Buch gibt es nun im Buchhandel und online, zum Beispiel bei amazon.de
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