Von der Seidenstraße, Prunk und zu viel Plov

For­mel-1-Pis­te nach Samar­kand

Es ist neun Uhr mor­gens, als ich am Flug­ha­fen der usbe­ki­schen Haupt­stadt Tash­kent ste­he. „Taxi, Miss? Good pri­ce!“ Ich ken­ne die guten Prei­se von Flug­ha­fen-Taxis. „Samar­kand Sam­mel­ta­xi 50 Dol­lar!“ Ich hor­che auf. Samar­kand ist eine der angeb­lich ältes­ten Städ­te der Welt und eine der schöns­ten an der Sei­den­stra­ße, und genau dort will ich hin. Für 25 Dol­lar – bei gut 300 Kilo­me­tern und vier bis fünf Stun­den Fahrt akzep­ta­bel – bin ich dabei. Wir fah­ren zum Tash­ken­ter Bus­bahn­hof, wo ein Kum­pel des Fah­rers im wei­ßen Toyo­ta war­tet. Über­haupt schei­nen 90 Pro­zent der Autos in Usbe­ki­stan weiß zu sein. Auf dem Rück­sitz rich­tet sich eine älte­re Dame mit lie­bem Groß­mutter-Gesicht ein, die ich in mei­nem basis­haf­ten Rus­sisch begrü­ße. Sie ant­wor­tet in flie­ßen­dem Eng­lisch. „Du kannst mich Sarah nen­nen. Ich lebe schon seit über 20 Jah­ren in den USA, aber jetzt bin ich gera­de zu Hau­se und zu Besuch bei mei­ner Toch­ter und ihrer Fami­lie.“ Sarah, mit usbe­ki­schem Namen Say­yo­ra, ist 70 Jah­re alt und arbei­tet in den Staa­ten als Pfle­ge­rin, wodurch sie Toch­ter und Enkel­kin­der daheim unter­stützt. Scher­zod, der hage­re Fah­rer mit Son­nen­bril­le, springt hin­ters Steu­er und los geht’s – zur schlimms­ten Taxi­fahrt mei­nes Lebens.

Dort, wo Kara­wa­nen einst nicht nur Sei­de, son­dern auch Glas, Edel­stei­ne, Gold, Kera­mik, Por­zel­lan, Pel­ze und wei­te­re Waren durch Asi­en trans­por­tier­ten, sind wir bald mit an die 180 Stun­den­ki­lo­me­tern unter­wegs, wo viel­leicht 80 erlaubt sind. Sarah hängt ent­spannt auf mei­nem Kof­fer, erholt sich noch von einem Leis­ten­bruch, wäh­rend der nicht ein­mal ange­schnall­te Scher­zod die teils löch­ri­ge Land- und Staub­stra­ße in eine For­mel-1-Pis­te ver­wan­delt. „Er ist ein wenig in Eile, wir sind spät los­ge­fah­ren“, ent­schul­digt Sarah den jun­gen Mann, der kein Wort Eng­lisch, nur Usbe­kisch und Rus­sisch, spricht. Mei­ne Füße füh­len instink­tiv nach einem Brems­pe­dal, wenn Scher­zod die Hupe gedrückt hält und brems­frei auf den Vor­der­mann auf­fährt, bis sich zwei Stoß­stan­gen um einen Mil­li­me­ter knut­schen, und sich Scher­zod doch zögernd für den Ein­satz der Brem­se ent­schei­det. Ich klam­me­re mich am Gurt fest und beob­ach­te, wie Fah­rer aus den engen, zwei­spu­ri­gen Stra­ßen immer wie­der drei­spu­ri­ge machen. Wir flie­gen im Mil­li­me­ter­ab­stand an ande­ren Wagen vor­bei, ohne dass es auch nur einen Krat­zer am Lack gäbe.

Um Punkt 11.30 Uhr diri­giert Sarah den Pis­ten­hel­den zu einem Restau­rant am Stra­ßen­rand. „Hier gibt es den bes­ten Fisch!“ Fisch? Das ist das letz­te, womit ich in einem meer­lo­sen und all­ge­mein recht was­ser­ar­men Land gerech­net habe, aber es soll neben­an einen Fluss geben. Wir bekom­men einen rie­si­gen Tel­ler mit frit­tier­tem Fisch, dazu haus­ge­mach­te Toma­ten­so­ße, fri­sches Pide – typi­sches, run­des Brot – und Toma­ten-Gur­ken-Salat. Zu Dritt stür­zen wir uns dar­auf, bis außer Grä­ten nichts mehr übrig ist, dann wird gebe­tet. „Wir dan­ken Gott erst nach dem Essen für die guten Spei­sen und für alles, was er für uns und unse­re Toten tut“, erklärt Sarah.

Nach dem üppi­gen Mahl und der zuvor fast schlaf­lo­sen Nacht im Flie­ger fal­len mir bald die Augen zu. Jedes Mal, wenn ich bei einem von Scher­zods Last-Minu­te-Brems­ma­nö­vern nach vor­ne flie­ge und auf­wa­che, befin­den wir uns so nah am Vor­der­mann, dass ich des­sen Bart­stop­peln im Rück­spie­gel erken­nen könn­te. Ich gebe mein Leben an Scher­zods Fahr­küns­te ab. Irgend­wann kom­men wir im mär­chen­haf­ten Samar­kand an, das auf den ers­ten Blick gar nicht mär­chen­haft erscheint – viel­mehr als übli­che Groß­stadt mit Stoß­stan­gen­ver­kehr, schrei­en­den Fah­rern, Out­lets, Apo­the­ken, unzäh­li­gen Tier­arzt­pra­xen – „die Leu­te hier lie­ben ihre Haus­tie­re“, klärt mich Sarah auf – sowie über­di­men­sio­na­len Rekla­me­ta­feln. Sarah wird ein paar Tage bei einer Freun­din ver­brin­gen, nimmt mir aber das Ver­spre­chen ab, sie und ihre Fami­lie in Tash­kent zu besu­chen, wenn wir bei­de wie­der dort sind. Dann ist es an der Zeit, das Samar­kand mei­ner Träu­me zu erkun­den.

Der schöns­te Platz der Welt?

Ich habe den bes­ten Spot ergat­tert – auf den Trep­pen weit oben in der Mit­te, wie vor einer rie­si­gen Kino­lein­wand, und vor mir läuft ein groß­ar­ti­ger Film. Wie bestellt gehen sämt­li­che Lich­ter an und klei­den ihn in schumm­rig-gel­bes Licht: den mäch­ti­gen Regi­stan-Platz, schöns­ter Platz Samar­kands und viel­leicht von ganz Zen­tral­asi­en. Mit drei Prot­ago­nis­ten – ehe­ma­li­gen Med­re­sen, Koran­schu­len, ein auf der Welt ein­zig­ar­ti­ges Ensem­ble.

Unvor­stell­bar, dass an ihrer Stel­le bis ins 15. Jahr­hun­dert nur ein Sand­platz und eine Kara­wan­se­rei lagen. Bis der Timu­r­i­den-Fürst Ulugh Beg und Enkel von Amir Timur die ers­te, an der West­sei­te empor­ra­gen­de Ulugh-Beg-Med­re­se errich­ten ließ. Timu­r­i­den, das waren die mus­li­mi­schen Herr­scher unter Timur, um des­sen Namen man in Usbe­ki­stan nicht her­um­kommt: Er war im 14. Jahr­hun­dert ein isla­mi­scher Mili­tär­füh­rer und Emir, der die Timu­r­i­den-Dynas­tie auf­bau­te und vie­le Regio­nen Zen­tral­asi­ens bru­tal unter­warf, gleich­zei­tig aber auch Kunst und Lite­ra­tur för­der­te. Samar­kand, Bucha­ra und Kesch waren sein Nabel der Welt, der ent­spre­chend auf­ge­motzt wer­den muss­te, und zwar im timu­ri­di­schen Stil mit per­si­scher Note. Timur ist bis heu­te noch eine Art Natio­nal­held in Usbe­ki­stan.

Die zen­tra­le Till­ja-Kari-Med­re­se behei­ma­tet eine Moschee – und den Beweis dafür, dass Till­ja Kari ‚mit Gold bedeckt‘ bedeu­tet: Beim Ein­tre­ten fun­kelt es von sämt­li­chen Wän­den und von der Decke. Weni­ger spek­ta­ku­lär sind dage­gen die Innen­hö­fe der bei­den ande­ren Med­re­sen mit den Zel­len der Koran­schü­ler, aus denen heu­te Tep­pi­che, Müt­zen, Hals­tü­cher, Post­kar­ten und wei­te­re Sou­ve­nirs quel­len. Und doch – die kunst­voll mit bun­ten Zie­geln und Moa­sa­ik­ta­feln geschmück­ten Außen- und Innen­fas­sa­den las­sen noch erah­nen, war­um Samar­kand frü­her als „schöns­tes Ant­litz, das die Erde der Son­ne je zuge­wandt hat“ beschrie­ben wur­de. Und war­um der Regi­stan-Platz als Lieb­lings­ort für Foto­shoo­tings von Braut­paa­ren dient. Ich schaue zu, wie sich ein jun­ges Paar am Glücks­tag ablich­ten lässt – die Braut in kunst­vol­lem, tür­kis-gemus­ter­tem Kleid mit meter­lan­ger Schlep­pe, der Bräu­ti­gam in einer Art gestreif­tem Bade­man­tel mit dazu unpas­sen­der Strei­fen-Boll­er­ho­se und Gum­mi­stie­feln.

Ich spa­zie­re wei­ter zur teils restau­rier­ten Bibi-Kha­num-Moschee, angeb­lich von 1399 bis 1405 unter Timur errich­tet, die einen ganz ähn­li­chen Bau­stil auf­weist wie die Med­re­sen am Regi­stan-Platz. Die­se größ­te Moschee Zen­tral­asi­ens soll in ihren Maßen dem Mai­län­der Dom eben­bür­tig sein. In sei­nem Über­mut wünsch­te sich Timur ein Bau­werk, das alle Monu­men­te und Bau­ten, die er wäh­rend sei­ner Feld­zü­ge in frem­den Län­dern gesich­tet hat­te, über­tref­fen soll­te. Als ich mich auf einer Bank abset­ze, um mich von der Mit­tags­hit­ze zu erho­len, gesellt sich eine älte­re Frau zu mir. „Das ist mein Sohn“, stellt sie mir einen jun­gen Mann auf Rus­sisch vor. Ich hät­te ger­ne ein Bild von dir und mir. Darf er eins machen?“ Sie kuschelt sich mit ihrem lan­gen bun­ten Kleid an mich, und schon sind wir vor der hei­li­gen Stät­te ver­ewigt.

Bei den Toten und den Leben­den

Der Duft nach Gewür­zen und frisch Gegar­tem lockt mich in den Souk neben­an, wo Händ­ler fri­sches Obst und Gemü­se, Tee und Kurut anbie­ten – Milch­bäll­chen, die schme­cken wie im Kühl­schrank ver­ges­se­ne, hart­ge­wor­de­ne Milch und belieb­ter Snack sind.

Hin­ter dem Bazar setzt sich in der Fer­ne die Nekro­po­le Shah‑i Zin­da, über­setzt ‚leben­der König‘, aus dem 11. Jahr­hun­dert mit den tür­kis­far­be­nen Kup­peln ihrer Mau­so­leen vom Azur­blau des Him­mels ab: das Best-of der Mau­so­leen­bau­kunst von Samar­kand, auch als ‚Grä­ber­stra­ße‘ bezeich­net. Ich errei­che die Mau­so­leen auf etwas ande­rem Weg als gewöhn­lich: Statt mich mit den Bus­tou­ris­ten durchs Ein­gangs­por­tal zu quet­schen, fol­ge ich der Emp­feh­lung mei­nes Rei­se­füh­rers und spa­zie­re über den angren­zen­den, angeb­lich größ­ten mus­li­mi­schen Fried­hof, wo mich die auf gro­ße Grab­stei­ne gedruck­ten Ant­lit­ze Ver­stor­be­ner mit stei­fem Blick ver­fol­gen. Bald bereue ich die Ent­schei­dung – die Infor­ma­tio­nen im Buch müs­sen ver­al­tet sein, denn das Tor zum Mau­so­leen-Kom­plex des Shah‑i Zin­da ist fest ver­schlos­sen. Dane­ben chil­len zwei rau­chen­de Män­ner, die ich nach dem Ein­gang fra­ge. Einer der bei­den ant­wor­tet in schnel­lem Rus­sisch. Auf mei­nen fra­gen­den Blick springt er auf, klet­tert auf eine Mau­er neben dem Zaun und hebt sein Bein wie zum Sprung. Er deu­tet mir, es ihm gleich zu tun. Schon ste­he ich allein vor den ältes­ten Grä­bern des Kom­ple­xes aus dem 14. Jahr­hun­dert, aus Ter­ra­cot­ta-Kacheln errich­tet. Eins der Grä­ber gehört Tuman Oko, einer Ehe­frau Amir Timurs, ande­re sind teils namen­los. Doch alle brin­gen mich mit ihrer Pracht, mit ihren im Son­nen­licht glän­zen­den Kacheln in Saphir­blau – die spe­zi­ell für Timurs weib­li­che Ver­wandt­schaft aus­ge­sucht wur­den – und den teils eben­so künst­le­risch ver­zier­ten Innen­räu­men zum Stau­nen. Immer wie­der lege ich den Kopf in den Nacken, um das Ende der meter­ho­hen Grab­stät­ten aus­zu­ma­chen.

Sehr viel weni­ger ansehn­lich ist der Taxi­fah­rer, der mich zum Samar­kand Bucha­ra Car­pet Work­shop fährt und des­sen Bauch das Lenk­rad so ein­klemmt, dass es sich kaum noch bewegt. Wir plau­dern auf Rus­sisch, Eng­lisch und Fran­zö­sisch. „Ich ler­ne Spra­chen mit den Tou­ris­ten“, erklärt er, und will sogleich wis­sen, ob ich am Abend schon etwas vor­ha­be. Habe ich. Ich bin neu­gie­rig auf den 1992 eröff­ne­ten Tep­pich-Work­shop, der das Ziel ver­folgt, wäh­rend der Sowjet­zeit fast ver­lo­re­ne Tra­di­tio­nen wie­der­auf­le­ben zu las­sen. Grün­der Haji Muham­mad Ewaz Badghi­si ist zwar nicht da, dafür aber des­sen Toch­ter Kha­li­da. „Mein Name bedeu­tet ‚für immer‘“, erzählt sie stolz, bevor ich erfah­re, dass ihre Fami­lie eigent­lich aus Turk­me­ni­stan kom­me. „Des­we­gen benut­zen wir vie­le turk­me­ni­sche Mus­ter, aber auch usbe­ki­sche.“

Ins­ge­samt gäbe es 300 bis 400 Mit­ar­bei­te­rin­nen, von denen eini­ge auch von zu Hau­se arbei­te­ten. „Vie­le Frau­en wol­len nur bis zu ihrer Hei­rat arbei­ten, ande­re machen auch danach wei­ter und freu­en sich, der Haus­ar­beit und den Kin­dern eine Zeit­lang zu ent­kom­men”, weiß Kha­li­da. Die hauch­dün­nen Sei­den­fä­den glei­ten an den Web­stüh­len durch die Frau­en­fin­ger und es ent­ste­hen immer neue Knöt­chen, die am Ende einen gro­ßen Tep­pich erge­ben.

Was eigent­lich schon das Ende der Geschich­te ist – davor pro­du­zie­ren erst ein­mal Mil­lio­nen von Sei­den­rau­pen­pup­pen Sei­de, aus der man Fäden macht und die­se mit natür­li­chen Far­ben färbt. Im Gar­ten wach­sen eini­ge der farb­ge­ben­den Pflan­zen: „Fär­ber­krapp für beige und brau­ne Töne, Gra­nat­ap­fel für pin­ke und rote Far­ben, Indi­go für dun­kel- und hell­blaue und grü­ne Farb­tö­ne und die Spar­gel­blu­me für Gelb und Oran­ge.“ Bis ein Tep­pich ganz fer­tig ist, ver­geht ein Jahr. „Wir sind der ein­zi­ge Work­shop in ganz Usbe­ki­stan, wo man bei der Fer­ti­gung der Sei­den­tep­pi­che zuschau­en kann“, rühmt Kha­li­da das Werk ihres Vaters.

Nach­dem ich mal wie­der kurz unter den Leben­den geweilt habe, bleibt Zeit für ein wei­te­res Mau­so­le­um: das von Gur Amir, Amir Timurs eige­nes Mau­so­le­um. Ich win­ke ein Taxi her­an, in dem schon zwei Frau­en sit­zen und sich laut­stark mit dem Fah­rer auf Rus­sisch unter­hal­ten. „Woher kommst du?“, wol­len sie wis­sen, und schon bin ich mit mei­nen stüm­per­haf­ten Sprach­kennt­nis­sen mit­ten in der Unter­hal­tung. „Sprecht ihr immer Rus­sisch zusam­men, oder eher Usbe­kisch?“, inter­es­siert mich, da ich oft Gesprä­che in bei­den Spra­chen zu ver­neh­men glau­be. Der Fah­rer lacht. „Usbe­ken benut­zen meis­tens Usbe­kisch, vie­le älte­re Leu­te vom Land kön­nen auch gar kein Rus­sisch. Aber für jun­ge Leu­te ist es eine Art Modespra­che gewor­den.“ Die bei­den Frau­en stel­len sich aller­dings als gebür­ti­ge Rus­sin­nen her­aus. Die Drei win­ken mir nach, wäh­rend ich auf das majes­tä­ti­sche Gur Amir Mau­so­le­um zulau­fe, das die Abend­son­ne in war­mes Gelb taucht.

Außer ein paar Ein­hei­mi­schen, die zum Beten gekom­men sind, ist nie­mand dort. Moto­ren­ge­räu­sche drin­gen schwach ins Inne­re des Mau­so­le­ums mit sei­nen ver­zier­ten und ver­gol­de­ten Mar­mor­plat­ten und einer strah­lend schö­nen Kup­pel­de­cke. Hier reicht selbst der Super­la­tiv von ‚prunk­voll‘ nicht für eine akku­ra­te Beschrei­bung. Hin­ter eben­so hübsch ver­zier­ten Marm­or­git­tern befin­den sich die Kenota­phe – lee­re Grab­ma­le zum Geden­ken an die Toten – von Timur sowie von des­sen Söh­nen und wei­te­ren bedeu­ten­den Ange­hö­ri­gen des Clans. Timurs Kenotaph sticht aus dem Ensem­ble her­aus wie ein schwar­zes Schaf – weil er aus schwar­zem Nephrit gefer­tigt ist, wäh­rend alle ande­ren aus hel­len Tönen bestehen.

Ich lau­sche dem Gemur­mel der Beten­den, die ihre Hän­de nicht fal­ten, son­dern vor dem Gesicht öff­nen, als woll­ten sie Almo­sen emp­fan­gen. Bald treibt mich die Zeit zurück ins Gewu­sel der Stadt, denn die Rei­se geht wei­ter.

In der Stadt der Poe­sie und Mär­chen

Über Inter­net habe ich bereits mei­ne Zug­ti­ckets gebucht und ste­he vorm Bahn­hof von Samar­kand, in den man nur nach Vor­la­ge von Rei­se­pass und Ticket kommt. Um schnell an mein nächs­tes Ziel, die Oasen­stadt Bucha­ra, zu gelan­gen, habe ich mich für das Schnells­te ent­schie­den, das auf Usbe­ki­stans Schie­nen braust: den top­mo­der­nen Afrosy­iob-Zug, der erst seit etwa 2011 ver­kehrt und ab Samar­kand knap­pe andert­halb Stun­den braucht. Ich füh­le mich schon beim Ein­stei­gen an Japan erin­nert: Jeder voll kli­ma­ti­sier­te Wag­gon ver­fügt über einen eige­nen Zug­be­glei­ter, der beim Ein­stei­gen die Tickets checkt und im Inne­ren die Bestel­lun­gen von Gra­tis-Kaf­fe- oder Tee auf­nimmt.

Mit 250 Stun­den­ki­lo­me­tern geht es nach Bucha­ra, wo mich der Besit­zer des gebuch­ten Gast­hau­ses abholt. Wie schon in Samar­kand ist das Gast­haus eine Fami­li­en­un­ter­kunft mit Hof, von dem die Zim­mer abge­hen.

Ob ich nun Samar­kand oder Bucha­ra bevor­zu­ge, dar­auf fin­de ich auch wäh­rend mei­nes Auf­ent­halts kei­ne Ant­wort. Bucha­ra gilt noch immer als gro­ßes kul­tu­rel­les Zen­trum des Ostens, das her­aus­ra­gen­de Wis­sen­schaft­ler, Phi­lo­so­phen und Dich­ter her­vor­brach­te. Dass das his­to­ri­sche Zen­trum bereits seit 1993 unter dem Schutz der UNESCO steht, wun­dert mich nicht, als mich am nächs­ten Mor­gen schon der ers­te Spa­zier­gang aus dem Gas­sen­la­by­rinth, in dem sich mei­ne Unter­kunft befin­det, vor­bei an unzäh­li­gen Mau­so­leen und Med­re­sen führt.

Wie über eine Oase in der Wüs­te stol­pert man über den Lyabi-Hauz-Kom­plex, einen Platz mit künst­li­chem Was­ser­re­ser­voir, ein­ge­rahmt von Maul­beer­bäu­men, zwei Med­re­sen – dar­un­ter die größ­te der Stadt, Kukel­da­sh – sowie einem wei­te­ren reli­giö­sen Bau­werk. Rund ums Was­ser haben Restau­rants und Cafés ihre Tische ver­teilt. Genau wie in Samar­kand die­nen auch die Med­re­sen in Bucha­ra für den Sou­ve­nir­ver­kauf. Eine Grup­pe ein­hei­mi­scher Frau­en lauscht einem Gui­de, die San­da­len- und Socken­mo­de haben sie frech von deut­schen Män­nern geklaut.

Ich las­se mich wei­ter­trei­ben, bin bald zurück in den Gas­sen. Genie­ße Bucha­ra abseits des tou­ris­ti­schen Trei­bens, wo die Men­schen in ein­fa­chen Lehm­häu­sern woh­nen, man­che halb zer­fal­len, ande­re gera­de erst zu Ende gebaut. Aus einer Bäcke­rei strömt ein ver­füh­re­ri­scher Duft nach dem typisch usbe­ki­schen Pide, dem ich fol­ge und stut­ze – statt vorm Ver­kaufs­tre­sen lan­de ich in einem dunk­len Raum vol­ler Ramsch. Von rechts schlägt mir Hit­ze ent­ge­gen und ich schaue in ein ver­schwitz­tes Gesicht. „Möch­test du Brot?“, ruft mir der Mann zu, des­sen nack­ter Ober­kör­per mit sei­nem Gesicht um die Wet­te glänzt. Er und ein Kol­le­ge kne­ten am lau­fen­den Band Teig und schie­ben die Fla­den in einen Ofen neben­an, im Hin­ter­raum sitzt ein alter Mann vorm Fern­se­her und schaut Fuß­ball. „Wir schaf­fen etwa 800 Bro­te am Tag“, erzählt mir der Bäcker, bevor er ein noch hei­ßes Exem­plar für mich ein­tü­tet.

Das Herz der Alt­stadt schlägt am Poi Kaly­on Kom­plex mit zahl­rei­chen Han­dels­kup­peln, Markt­ge­bäu­den, vor allem aber mit dem Kaly­on-Mina­rett von 1127 – Wahr­zei­chen Bucha­ras – mit der Mir Arab Med­re­se und der Kaly­on-Moschee. Um die schöns­ten Gebäu­de in Ruhe zu besich­ti­gen, heißt es abwar­ten, bis eine Tou­ris­ten­grup­pe her­aus­schwemmt und vor der nächs­ten hin­ein zu huschen, denn nur so gelingt es, Med­re­sen und Mau­so­leen nicht nur kurz in allen Rich­tun­gen abzu­lich­ten, son­dern den Ort zu spü­ren. Mir Arab gilt als einer der hei­ligs­ten Orte isla­mi­scher Kul­tur auf ehe­ma­li­gem Sowjet­ge­biet, stammt aus dem 16. Jahr­hun­dert und wur­de Sheikh Abdal­lah Yama­ni gewid­met, auch Mir Arab genannt. Mir Arab gegen­über liegt die Kaly­on-Moschee, die zu Sowjet­zei­ten als Waren­haus dien­te, seit 1991 aller­dings wie­der Beten­den offen­steht. Ich tre­te in den aus­la­den­den Innen­hof, umge­ben von 208 Säu­len und 288 Kup­pel­ge­wöl­ben, wobei die Säu­len das Gericht Solo­mons sym­bo­li­sie­ren. Bei mei­nem ers­ten Besuch ver­su­chen sich die Tour­gui­des in ver­schie­de­nen Spra­chen vor Mas­sen schwit­zen­der Tou­ris­ten zu über­tö­nen, und auf einer Bank möch­te wie­der eine alte Frau ein Foto mit mir. Doch ich keh­re zurück – am Nach­mit­tag, wenn die Hit­ze die Grup­pen­rei­sen­den ver­schluckt hat und die Stra­ßen zum Schau­platz des berüch­tig­ten ‚sur­vi­val of the fit­test‘ wer­den. Es ist an die­sem Nach­mit­tag, dass ich fast ganz allein im säu­len­rei­chen Innen­hof sit­ze, sei­ne Pracht sich leicht und schwer auf mir ablegt und Hun­der­te von Vögeln eine Stim­me bekom­men. Wenn ich an Bucha­ra zurück­den­ke, sehe ich den lee­ren Platz, höre die Vögel.

Auch Bucha­ra besitzt einen Regi­stan-Platz, doch im Ver­gleich zu Samar­kand ist der wie ein Teu­fels­kreis, um den im Sekun­den­takt hupen­de Autos rasen, doch auch er hat etwas Beson­de­res zu bie­ten – die Ark-Zita­del­le, einen klot­zi­gen Lehm­zie­gel­bau und eine Art Eif­fel­turm von Bucha­ra.

Die genaue Geschich­te der Zita­del­le ist unklar, man ver­mu­tet den Ursprung im 5. oder 6. Jahr­hun­dert nach Chris­tus. Was noch steht, stammt größ­ten­teils aus dem 16. Jahr­hun­dert. Den bes­ten Über­blick bekommt man von einer Aus­sichts­platt­form mit glä­ser­nem Lift direkt gegen­über, das Inne­re betritt man durchs mäch­ti­ge West­tor von 1742. Es ist, als wür­den einen die knapp 800 Meter hohen Mau­ern ein­ver­lei­ben und vor der Hek­tik der Welt drau­ßen schüt­zen. Hier ließ sich nie­mand in die Tape­ten schau­en, im Gegen­satz zur schräg gegen­über­ge­le­ge­nen Bolo-Hauz-Moschee, wo man den Beten­den von der Stra­ße auf den Aller­wer­tes­ten schaut.

Und doch ist die­se Moschee, das ein­zi­ge Relikt aus dem Mit­tel­al­ter, mit ihrem vor­ge­la­ger­ten Was­ser­be­cken, in dem sich die schlak­si­gen Säu­len der Ter­ras­se spie­geln, eine Oase der Ruhe im geschäf­ti­gen Trei­ben. Noch wei­ter vom Schuss liegt Sama­nids Mau­so­le­um inmit­ten des Sama­nid-Parks mit Stän­den, wo Eis und Zucker­wat­te ver­kauft wer­den. Der per­fek­te Wür­fel aus künst­le­risch bear­bei­te­ten Zie­gel­stei­nen sticht aus dem Grün des Parks her­vor und spie­gelt sich auf dem schumm­ri­gen See davor. Die­ses ältes­te isla­mi­sche Monu­ment der Stadt aus dem 10. Jahr­hun­dert mar­kiert das Grab des Grün­ders der Sama­nid-Dynas­tie sowie Grä­ber eini­ger sei­ner Fami­li­en­mit­glie­der.

Auch mich macht die Hit­ze trä­ge, ich schlep­pe mich zurück in die Gas­sen, denen noch der Asphalt fehlt, und mache mich auf die Suche nach der Chor-Minor-Med­re­se mit ihren vier Türm­chen, die auf kei­ner Bucha­ra-Post­kar­te fehlt. Aus man­chen Häu­sern dringt Duft nach fri­schem Brot oder Gebra­te­nem, Kin­der kicken einen Ball über den ver­trock­ne­ten Schlamm, und auf einem Platz sitzt eine Grup­pe Män­ner um ein Schach­brett.

Sie schau­en kurz auf, win­ken. Ich bin mir nicht sicher, wo Chor-Minor steht, fra­ge die Män­ner. „Woher kommst du?“, will einer auf Rus­sisch wis­sen, dann reicht er mir die Hand und zieht mich zu sich her­an, um mir einen Hand­kuss zu geben. „Du bist sehr schön!“ Weni­ge Meter spä­ter ste­he ich vor den vier Tür­men mit ihren in der Abend­son­ne glän­zen­den, tür­kis­far­be­nen Kup­peln.

Am Ende pas­siert, was ich befürch­tet habe: Ich ver­lau­fe mich in den Gas­sen, fin­de mei­ne Unter­kunft nicht mehr. Doch manch­mal ist es wah­res Glück, wenn die App ver­sagt und ich gezwun­gen bin, Men­schen anzu­spre­chen, statt mit übers Han­dy gebeug­tem Kopf an ihnen vor­bei­zu­lau­fen. Ein Mann mitt­le­ren Alters, der gera­de in Bade­lat­schen und Jeans mit sei­ner Zie­ge an der Lei­ne joggt, kennt mei­ne Unter­kunft nicht, eine jun­ge Frau fragt, ob ich nicht statt­des­sen bei ihr unter­kom­men will. Ich lau­fe und lau­fe, kom­me zum zwei­ten Mal an Mann und Zie­ge vor­bei, wir plau­dern. Er rät mir, die Tou­ris­ten­po­li­zei um Rat zu fra­gen, die an meh­re­ren Ecken eine Art Kiosk hat. Doch ich irre noch ein wenig wei­ter und ste­he am Ende vor mei­nem Gast­haus, wo ich es am wenigs­ten erwar­tet habe.

Von Mond, Ster­nen und Plumps­klos

Am nächs­ten Mor­gen neh­me ich ein Taxi zum Sitor­ai Mohi-Hosa Palast von Anfang des 20. Jahr­hun­derts, der einst­ma­li­gen Som­mer­re­si­denz des letz­ten Emirs von Bucha­ra, deren Name ‚Ster­ne tref­fen auf den Mond‘ bedeu­tet. Ein hel­les Gebäu­de mit vie­len euro­päi­schen Archi­tek­tur­merk­ma­len war­tet mit einer präch­ti­gen Thron­hal­le und far­ben­froh ver­zier­ten Decken auf, doch am ent­spann­tes­ten wirkt der Tee­pa­vil­lon mit Weit­blick über den Gar­ten.

Wie ich von der Resi­denz in die Stadt zurück­kom­me, steht eben­falls in den Ster­nen, denn weit und breit ist kein Taxi zu sehen und die nächs­te Stra­ße liegt eini­ge Kilo­me­ter ent­fernt. Ich fra­ge einen Mann, der an sei­nem wei­ßen Auto lehnt, und natür­lich hat er einen Bru­der, der als Fah­rer arbei­tet und kei­ne zehn Minu­ten spä­ter parat steht. Ich habe noch Zeit, bis mein Zug nach Tash­kent geht und neh­me das Ange­bot an, noch zum Mau­so­le­um von Bak­haud­din Naqsh­ban­di zu fah­ren, des inof­fi­zi­el­len Schutz­hei­li­gen Bucha­ras und Grün­der des wich­tigs­ten Sufi-Ordens in Zen­tral­asi­en, was das Mau­so­le­um zum hei­ligs­ten Ort der Stadt macht. Das Grab ist Teil eines gro­ßen Kom­ple­xes an Grä­bern und Schrei­nen, zu dem Scha­ren von Gläu­bi­gen pil­gern und vor dem schwar­zen Grab­stein des Ver­ehr­ten beten.

Bald wird das sanf­te Gemur­mel der Gläu­bi­gen in mei­ner Erin­ne­rung über­tönt vom Gerum­pel des Zuges – die­ses Mal kein fixer Afro­si­yob, son­dern ein gewöhn­li­cher Sharq-Zug, der Inter­ci­ty Usbe­ki­stans. Statt geräu­mi­ger Groß­raum­wa­gen gibt es sti­cki­ge Abtei­le, in denen die Fens­ter nicht auf­ge­hen und es kei­ne Kli­ma­an­la­ge gibt. Dafür sind die Kor­ri­do­re mit Tep­pi­chen aus­ge­legt, die sofort unter den Kof­fer-Rol­len hän­gen­blei­ben, die Abtei­le eben­so, und der klei­ne Tisch wur­de lie­be­voll mit Stoff­tisch­de­cke belegt. Ich tei­le mir den Sau­er­stoff im Abteil mit fünf ande­ren, wäh­rend vorm Fens­ter wüs­ten­ar­ti­ge Ein­öde vor­bei­fliegt. Alles im Zug erin­nert mich an mei­ne Kind­heit, als es in den Wag­gons im Som­mer nach auf­ge­weich­tem Teer roch und ich beim Toi­let­ten­gang fas­zi­niert zusah, wie die Aus­schei­dun­gen unten auf den vor­beib­rau­sen­den Schie­nen lan­de­ten. Sechs­ein­halb Stun­den tren­nen uns von der Haupt­stadt, eine Ein­hei­mi­sche fächert sich Luft zu und ihr Mann befeuch­tet alle fünf Minu­ten ein Taschen­tuch, um es ihr an die Stirn zu drü­cken. Die Erleich­te­rung steht uns allen ins Gesicht geschrie­ben, als der Zug fast pünkt­lich in den Bahn­hof der Haupt­stadt tuckert.

Wie­der woh­ne ich in einem fami­li­en­be­trie­be­nen Gast­haus, wer­de auch um 11 Uhr abends noch freund­lich begrüßt und bekom­me ein gro­ßes, stil­voll ein­ge­rich­te­tes Zim­mer mit Queen-sized Bett. Mei­ne Gast­wir­tin spricht flie­ßend Eng­lisch, als sie mir am nächs­ten Mor­gen das Früh­stück ser­viert und ihre klei­ne Toch­ter gleich­zei­tig schul­klar macht. „Ich schi­cke mei­ne Klei­nen in eine rus­si­sche Schu­le, wo sie auch schon Chi­ne­sisch ler­nen“, erklärt die stol­ze Mut­ter, und das, wo die Kids schon zu Hau­se mit Usbe­kisch und Rus­sisch auf­wach­sen. „Eng­lisch wer­de ich ihnen auch bei­brin­gen, sie sol­len in der Lage sein, Lite­ra­tur in Ori­gi­nal­spra­che zu ler­nen.“ Eine rus­si­sche Schu­le wäre bes­ser als eine usbe­ki­sche, weil die Rus­sen direk­ter wären und nicht alles durch die Blu­me sag­ten wie die Usbe­ken. „Mei­ne Kin­der sol­len spä­ter gut klar­kom­men, und die Usbe­ken sind eher wie die Japa­ner und Korea­ner und sagen nie, was Sache ist.“

Tash­kent, die neue Stadt

Waren Samar­kand und Bucha­ra ein Streif­zug durch die Ver­gan­gen­heit, ist in Tash­kent alles neu – weil die Stadt mit ihren gut vier Mil­lio­nen Ein­woh­nern und damit größ­te Zen­tral­asi­ens 1966 von einem ver­hee­ren­den Erd­be­ben zugrun­de gerich­tet wur­de. Dem schreck­li­chen Tag ist ein Denk­mal gewid­met, das Monu­ment des Mutes von 1976. Ein in der Mit­ter gebors­te­ner Wür­fel zeigt eine Uhr mit dem Zeit­punkt des Unglücks, 5.23 Uhr mor­gens, und eine Bron­ze­skulp­tur sym­bo­li­siert einen Vater, der Frau und Kind vor der Gefahr schüt­zen will.

Fast alles ent­stand in Tash­kent, über­setzt ‚Stein­stadt‘, im typi­schen Sowjet­stil nach dem Erd­be­ben, doch ein wenig alter Glanz ist noch am Haz­rat Imam Kom­plex erkenn­bar, dem his­to­ri­schen, spi­ri­tu­el­len Her­zen Tashk­ents. Am Haz­rat Iman Platz sam­meln sich die Haz­rat Iman Moschee von 2007 und das bedeu­tends­te Gebäu­de, die Muyi Mubo­rak Biblio­thek, über­setzt ‚hei­li­ges Haar‘. Im Inne­ren befin­det sich näm­lich Haar, das angeb­lich Pro­phet Moham­med gehör­te – aber auch der welt­äl­tes­te Koran, 19 Jah­re nach dem Tod Moham­meds ent­stan­den.

Viel Kunst­hand­werk und Früch­te, Gemü­se, Gewür­ze, Nüs­se und alles, was den Gau­men ver­führt oder Mann und Frau klei­det, fin­det sich auf dem rie­si­gen Eski Juvi Markt unterm blau-tür­ki­sen Rund­dach.

Doch nicht nur der Markt ist über­di­men­sio­nal, auch die Plät­ze der Haupt­stadt sind es – der soge­nann­te Fri­end­ship Platz mit rie­si­ger usbe­ki­scher Flag­ge und dem People’s Fri­end­ship Palace von 1981, einer Kon­zert­hal­le mit über 4.000 Plät­zen. Eben­so auf­fäl­lig wie das kolos­sa­le Gebäu­de ist ein Denk­mal aus guss­ei­ser­nen Figu­ren, einem Mann und einer Frau, die eine Men­ge Kin­der um sich scha­ren. „Das ist zum Geden­ken an den Zwei­ten Welt­krieg, als hei­mat­lo­se Kin­der nach Tash­kent gebracht und von den Men­schen gefüt­tert wur­de, denn damals galt Tash­kent als Stadt des Brots“, erklärt die Rei­se­füh­re­rin.

Dage­gen begeg­net mir am Amur Timur Platz ein guter alter Bekann­ter – Timur auf einem Pferd, wo vor­her Sta­lin und Marx auf dem Sockel stan­den. Von die­sem Platz füh­ren sämt­li­che Haupt­stra­ßen der Stadt ab. Haupt­stra­ßen, an denen sich vie­le blaue Kup­pel­dä­cher erhe­ben, eine Idee Timurs, der das fried­li­che Blau des Him­mels ein­fan­gen woll­te. Tashk­ents größ­ter Platz ist der Unab­hän­gig­keits­platz vol­ler Monu­men­te und Brun­nen, dar­un­ter ein beein­dru­cken­des Was­ser­spiel mit 500 Was­ser­strah­len mit gol­de­nem Glo­bus auf einem Podest im Hin­ter­grund. Hin­term Platz ver­läuft die nun unsicht­ba­re Gren­ze zwi­schen dem alten und dem neu­en Tash­kent – der neue Stadt­teil war einst nur Rus­sen vor­be­hal­ten, und nie­mand aus Alt-Tash­kent durf­te die Gren­ze pas­sie­ren.

Heu­te ist es kein Pro­blem mehr, in Tash­kent mobil zu sein. Im Gegen­teil – man könn­te den gan­zen Tag U‑Bahn fah­ren, ohne die unter­ir­di­schen Gewöl­be mit 29 Hal­te­stel­len zu ver­las­sen, denn Tash­kent bie­tet eini­ge der schöns­ten Metro­sta­tio­nen der Welt. „1977 eröff­ne­te die ers­te U‑Bahnlinie in Tash­kent“, erzählt die Stadt­füh­re­rin, „wäh­rend der Sowjet­zeit, als die Bevöl­ke­rung auf über eine Mil­li­on Men­schen wuchs.“ Sie war die ers­te U‑Bahnlinie Zen­tral­asi­ens und wur­de nach dem Vor­bild der Mos­kau­er Metro ent­wor­fen. Am Amur Timur Platz bei­spiels­wei­se beherrscht das The­ma der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on die Metro­sta­ti­on, die in hel­len Tönen mit ele­gan­ten Leuch­ten aus­ge­stat­tet ist. Noch üppi­ger prä­sen­tiert sich die U‑Bahn am Unab­hän­gig­keits­platz mit Kron­leuch­tern an den Decken, wäh­rend eine wei­te­re Sta­ti­on dem gro­ßen usbe­ki­schen Dich­ter Ali­sher Navoi gewid­met ist. Für Fans von Luft- und Raum­fahrt gibt es auch das Rich­ti­ge – die U‑Bahnstation Kos­mo­navtlar den  gro­ßen Kos­mo­nau­ten und Kos­mo­nau­tin­nen zu Ehren.

Am span­nends­ten fin­de ich es in Tash­kent jedoch, die Men­schen zu beob­ach­ten: Im Park beim 375 Meter hohen Fern­seh­turm ist am Spät­nach­mit­tag Braut­schau ange­sagt, genau vorm Muse­um der Opfer der sowje­ti­schen Unter­drü­ckung. Ich schaue zu, wie Bräu­te in üppi­gen wei­ßen Klei­dern und ihre Ange­trau­ten die Trep­pen vorm Monu­ment empor­schrei­ten. Dass sie nicht alle aus­se­hen, als wäre dies der glück­lichs­te Tag ihres Lebens, ist logisch – in Usbe­ki­stan ist die arran­gier­te Ehe noch immer Gang und Gäbe, aller­dings hät­ten jun­ge Leu­te mitt­ler­wei­le die Mög­lich­keit, sich zumin­dest ver­schie­de­ne Kan­di­da­ten anzu­se­hen, so die Stadt­füh­re­rin.

Wohin man in Tash­kent auch schaut, die Stadt wird domi­niert von klot­zi­gen Sowjet­bau­ten, allen vor­an das ers­te Hotel der Stadt, Hotel Uzbe­ki­stan, 1974 eröff­net mit elf Stock­wer­ken und 495 Zim­mern. Die Fens­ter schei­nen ver­git­tert wie im Knast, doch laut Stadt­füh­re­rin ver­folgt die­ser typi­sche Mosa­ik­stil einen prak­ti­schen Zweck: Die Gebäu­de blei­ben im Som­mer kühl und im Win­ter warm.

Kusche­lig warm ist es auch im Plov-Cen­ter beim Fern­seh­turm, wo Usbe­ki­stans Natio­nal­ge­richt jeden Mit­tag in rohen Men­gen gekocht wird – etwa 50 Kilo Reis kom­men in einen über­di­men­sio­na­len Pott, dazu eine Unmas­se Rind­fleisch, fet­te Pfer­de­wurst, Rosi­nen und gel­be Möh­ren. Um nicht so reich­lich Öl zu ver­ges­sen, dass sich das Gesicht des Kochs im Ölrest am Boden spie­gelt. Geges­sen wird an lan­gen Tischen in einer Art gro­ßer Kan­ti­ne, wo Ein­hei­mi­sche und aus­län­di­sche Besu­cher gie­rig über ihre Tel­ler her­fal­len.

Das Bes­te zum Schluss

Wenn ich an Tash­kent den­ke, den­ke ich nicht an die Plät­ze oder Monu­men­te, nicht ein­mal an die post­kar­ten­taug­li­chen U‑Bahnstationen. Ich den­ke an Say­yo­ra und dar­an, wie wir es an mei­nem letz­ten Abend tat­säch­lich schaf­fen, uns wie­der­zu­se­hen. Wie­der gebe ich mein Rus­sisch zum Bes­ten, um einen Taxi­preis zu ver­han­deln, doch der Fah­rer ver­sucht am Ende, mir das Dop­pel­te abzu­knöp­fen – erst recht, als er das hüb­sche Haus sieht, das Say­yo­ra mit ihrem sau­er in den USA ver­dien­ten Geld ins bes­se­re Leben ihrer Lie­ben daheim inves­tiert hat. Die 70-jäh­ri­ge und ihre Toch­ter Rano ste­hen erwar­tungs­voll an der Stra­ße und Say­yo­ra umarmt und küsst mich, als wäre ich ihre nach lan­ger Abwe­sen­heit heim­ge­kehr­te Enke­lin. Da stürzt der Taxi­fah­rer aus dem Auto und schreit auf Usbe­kisch auf die bei­den Frau­en ein – die in ähn­li­chem Ton ant­wor­ten. Der Taxi­fah­rer folgt uns mit erho­be­nen Fäus­ten, als wir bereits zum Haus gehen, und ich stel­le mich dar­auf ein, mei­ne Selbst­ver­tei­di­gungs­küns­te her­vor­zu­kra­men. Da schiebt mich Say­yo­ra in den Hof vorm Haus und ihre Toch­ter knallt das Tor vor der Nase des Fah­rers zu. Pro­blem gelöst.

Die Geschich­te ist ver­ges­sen, als ich die gan­ze Fami­lie ken­nen­ler­ne – Schwie­ger­sohn Davron­bek, die bei­den Enkel Jasur­bek und Najim­bek sowie die jüngs­te Enke­lin, Kami­la, die Say­yo­ra als „mei­ne Prin­zes­sin“ vor­stellt. Sie wol­len die Bedeu­tung mei­nes Namens wis­sen, die ich nicht ken­ne, und löse Ver­wun­de­rung aus, denn in Usbe­ki­stan hät­te jeder Name eine Bedeu­tung. Im Wohn­zim­mer, am gro­ßen Tisch, hat die Fami­lie eine üppi­ge Tafel auf­be­rei­tet, vol­ler tro­cke­ner Früch­te, fri­schem Obst, Brot, Saft, Schnaps – doch das Haupt­ge­richt duf­tet noch aus der Küche: Plov. Zum zwei­ten Mal an die­sem Tag.

Ich schlu­cke, doch mei­ne Rüh­rung über die Mühe, die sich Say­yo­ra und ihre Fami­lie gemacht haben, ist grö­ßer als mein noch vom Lunch vor­ge­wölb­ter Magen. Alle außer Davron­bek spre­chen flüs­sig Eng­lisch, und vie­le Fra­gen pras­seln auf mich ein. „Ich spie­le Kla­vier“, erzählt die Enke­lin, „spielst du auch etwas?“ „Ich spie­le nichts, aber mein Mann spielt ein Instru­ment“, fällt Rano ein – „mei­ne Ner­ven“. Alle lachen, bloß Davron­bek ver­steht nur Bahn­hof. Wir plau­dern, ich kom­me kaum zum Essen, und doch führt jeder Bis­sen zu einer neu­en Kel­le Plov auf mei­nem Tel­ler. „Magst du unse­ren Plov?“ Er ist um eini­ges bes­ser als der vom Plov Cen­ter, doch irgend­wann macht auch der stärks­te Magen schlapp. Dabei bin ich noch nicht ent­las­sen: Die fri­sche Was­ser­me­lo­ne lan­det zur Hälf­te auf mei­nem Tel­ler, und dann wären da noch die selbst­ge­ba­cke­nen Kek­se. Ich fut­te­re und rede und schwap­pe über vor Glück und Essen. „Was für ein Glück, dass wir uns zufäl­lig im Taxi getrof­fen haben“, scheint Say­yo­ra mei­ne Gedan­ken zu erra­ten. „Aber ich glau­be, es soll­te so sein.“ Sie zwin­kert mir zu. Und ich den­ke an die Ver­ket­tung von soge­nann­ten Zufäl­len, die zu unse­rem Ken­nen­ler­nen geführt hat, an einem x‑belieben Tag an einem rie­si­gen Bus­bahn­hof in einer rie­si­gen Stadt mit­ten in Zen­tral­asi­en. Wie so oft auf mei­nen Rei­sen, wo nichts geplant ist und trotz­dem alles passt wie ein Puz­zle. Am Ende muss der neu geru­fe­ne Taxi­fah­rer, der mich ins Zen­trum zurück­bringt, mehr­mals hupen, weil Say­yo­ra zu lan­ge braucht, um mich zu umar­men und mir das Ver­spre­chen abzu­neh­men, dass wir uns wie­der­se­hen. Dann sit­ze ich auf dem Rück­sitz und die win­ken­de Fami­lie ver­schwin­det hin­ter einer Kur­ve. Es dau­ert noch eini­ge Stun­den, bis sich sämt­li­cher Plov des Tages ver­flüs­sigt einen Weg nach drau­ßen bahnt, und es wird ein Leben dau­ern, bis ich die Herz­lich­keit die­ser alten Frau und ihrer Fami­lie ver­ges­se.

Die Rei­se fand mit Unter­stüt­zung von Air Ast­a­na statt.

 

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Antworten

  1. Avatar von Patrick
    Patrick

    Lie­be Ber­na­dette,

    ich bin begeis­tert von dei­nem Bericht. Es hat enorm Spass gemacht ihn zu lesen und dabei noch eini­ges zu ler­nen.
    Ich hat­te vor kur­zem das Ver­gnü­gen Usbe­ki­stan geschäft­lich zu sehen. Lei­der fehl­te mir die Zeit kul­tu­rel­le Aus­flü­ge zu machen, aber in Sachen Gast­freund­lich­keit der Ein­hei­mi­gen habe ich eben­falls eini­ges mit­ge­nom­men.

    Noch als klei­ne Anmer­kung, dein Name hät­te in sei­ner Bedeu­tung sicher eini­ges an Ein­druck gemacht, denn er bedeu­tet so viel wie »Stark wie eine Bärin«.

    Auf wei­te­re gute Rei­sen!

    Patrick

    1. Avatar von Bernadette

      Dan­ke dir, lie­ber Patrick 🙂 Schön, dass dir der Arti­kel so gut gefal­len hat. Falls du dich auch für Schwe­den inter­es­sierst, kann ich dir mein dazu letz­tes Jahr erschie­ne­nes Buch »Zwi­schen ewi­gem Som­mer und tiefs­ter Nacht« emp­feh­len 😉
      Und ja, ich ken­ne die Bedeu­tung mei­nes Namens und bemü­he mich, ihm immer mal wie­der alle Ehre zu machen 🙂 Vie­le Grü­ße aus Lapp­land

  2. […] Arti­kel auf Rei­se­de­pe­schen zu einer Rei­se in Usbe­ki­stan ist dies­mal eine […]

  3. Avatar von Bernadette Olderdissen

    Hal­lo Mar­tin,

    vie­len Dank für dei­ne inter­es­san­te Anmer­kung, das nächt­li­che Licht­spiel habe ich tat­säch­lich nicht gese­hen. Turk­me­ni­stan steht auf jeden Fall auch auf mei­ner Wunsch­lis­te 🙂

    Lie­be Grü­ße
    Ber­na­dette

  4. Avatar von Martin
    Martin

    Hal­lo Ber­na­dette,
    vie­len Dank für den tol­len Bericht, das ist ja eine echt schö­ne Tour gewe­sen mit vie­len posi­ti­ven Ein­drü­cken und Erleb­nis­sen.
    Im April ver­gan­ge­nen Jah­res war ich sel­ber auch dort und auch in Turk­me­ni­stan – eben­falls sehr ein­drucks­voll.
    Eine klei­ne Ergän­zung bezüg­lich der »Fens­ter­rah­men« im Hotel Uzbe­ki­stan in Tasch­kent möch­te ich bei­steu­ern.
    Die­se »Git­ter« sind eine visu­el­les Sys­tem, die gesam­te Brei­te der Front wird des näch­tens illu­mi­niert, wird zur Lein­wand.. dort lau­fen Video­clips.. unglaub­lich aber wahr.
    Tags­über wun­dert man sich ob die­ser »Git­ter« und nach Ein­bruch der Dun­kel­heit.. wun­dert man sich noch mehr, weil es so gar nicht pas­sen will. Aber gera­de das macht es dann wie­der so ein­zig­ar­tig, magisch..

    Lie­ben Gruß
    Mar­tin ;o)

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