Auf Safari in Japan

Das Bes­te und Schöns­te fällt uns sel­ten in den Schoß. Groß­ar­ti­ge Leis­tun­gen. Erfüll­te Träu­me. Und die wun­der­bars­ten, ent­le­gends­ten Orte. Das, was leicht zu errei­chen ist, wird oft über­rannt. Hok­kai­do gehört nicht dazu. Die­se gro­ße dicke Insel im Nor­den Japans, die immer­hin 20% des Lan­des aus­macht und doch so gar nichts gemein hat mit der urba­nen Hek­tik Toky­os, dem tra­di­ti­ons­träch­ti­gen Kyo­to oder der Kriegs­ge­schich­te Hiro­shi­mas. Hok­kai­do, das ist Natur. Wil­de Tie­re. Ein Ort, wo sich eine Pri­se Wild­nis mit den Zere­mo­nien eines japa­ni­schen Bads oder Mahls ver­eint.

Ent­lang der Sea of Okhot­sk

Es ist schön, am Meer anzu­kom­men. Egal wo. Ich ste­he am Bahn­hof von Abas­hiri an der Ost­küs­te Hok­kai­dos und war­te. Auf den Zug um 10.24 Uhr, einem von fünf pro Tag in Rich­tung Kus­hiro, über Kawayu Onsen, mein Ziel für die nächs­ten drei Tage. Der win­zi­ge Ort der hei­ßen Quel­len liegt inmit­ten des Akan Natio­nal­parks – dem zweit­äl­tes­ten und mit gut 900.000 Qua­drat­me­tern auch zweit­größ­ten Natio­nal­park Hok­kai­dos. Das letz­te Mal war ich vor sie­ben Jah­ren in Japan, in Tokyo, Kyo­to und dem Übli­chen, wobei ich mit dem stets tief­ge­kühl­ten High-Speed Shink­an­sen durch die Gegend flitz­te. Umso grö­ßer ist mein Erstau­nen, in einen ein­zel­nen, über­hitz­ten Wag­gon ein­stei­gen zu müs­sen, des­sen Sit­ze schon sicht­bar vie­le Hin­tern gespürt haben. Dafür hat der Wag­gon einen ganz schi­cken Lok­füh­rer, so rich­tig mit Lok­füh­rer­müt­ze, Anzug und wei­ßen Hand­schu­hen. Schon tuckert der Wagen los, an der Küs­te von Okhot­sk ent­lang, benannt nach der ers­ten rus­si­schen Sied­lung Okhot­sk im Fer­nen Osten. Die Son­ne bestrahlt das tief­blaue Meer, an eini­gen Strän­den rei­hen sich Ang­ler anein­an­der. Die zahl­rei­chen japa­ni­schen Tou­ris­ten im Zug erfreu­en sich genau­so an dem Anblick wie ich, alle wol­len auf der lin­ken Sei­te sit­zen, der Meer­essei­te. Säßen wir in einem Boot, bekä­men wir sofort Schlag­sei­te.

Der klei­ne Bahn­hof von Kawayu Onsen erscheint mit sei­nem roten Dach wie aus einem Bil­der­buch abge­malt, eine gro­ße Bären­fi­gur mit einem Fisch in der Hand emp­fängt die weni­gen Ankömm­lin­ge. Das Ticket legt man beim Aus­stei­gen in die behand­schuh­ten Hän­de des Lok­füh­rers, der sich vor jedem Rei­sen­den kurz ver­beugt und sich ent­schul­digt. „Sumi­ma­sen.“ Ja, das ist das Japan, das ich ken­ne.

Der damp­fen­de Berg 

Eigent­lich habe ich Kawayu Onsen gewählt, weil es zwi­schen den bei­den magi­schen Seen Mas­hu und Kuss­ha­ro liegt und damit noch rela­tiv zen­tral im Natio­nal­park. Ein Blick auf den Fahr­plan der ört­li­chen Bus­se bringt jedoch sofort Ernüch­te­rung: Die bei­den täg­li­chen Bus­se zu den Seen sind schon um 12 Uhr weg, und selbst in den vier Kilo­me­ter ent­fern­ten Orts­kern fährt erst in einer Stun­de wie­der einer. Dort kön­ne man aber Fahr­rä­der mie­ten, ver­si­chert mir die Hotel­re­zep­tio­nis­tin. Mir bleibt nichts ande­res übrig, als mich zu Fuß auf den Weg zu machen.

Der Bür­ger­steig endet schon nach weni­gen Metern, ich lau­fe auf der Land­stra­ße im Wald wei­ter, in dem es angeb­lich auch Bären gibt. Nie­mand hält an, um mich mit­zu­neh­men. Zum Glück. Denn plötz­lich sehe ich zwi­schen den Bäu­men Rauch auf­stei­gen und ver­neh­me einen leich­ten Geruch nach fau­len Eiern. Ich fol­ge ihm – und ste­he kei­ne Minu­te spä­ter vor einem Berg, aus dem rie­si­ge Rauch­wol­ken gen Him­mel stre­ben. Sur­re­al ist der ein­zi­ge Begriff, der mir ein­fällt, wäh­rend ich mich dem Spek­ta­kel nähe­re. Ein Info­schild beschreibt den Dampf­berg als akti­ven Vul­kan Io, Ursprung der Schwe­fel­quel­len der Gegend, mit dem letz­ten Aus­bruch vor 600 Jah­ren. Auf dem Berg sind alle Bäu­me ver­schwun­den, die hel­len Fel­sen haben sich grün-gelb­lich ver­färbt. Ich ste­he wie ange­wur­zelt im Dampf, um mich her­um blub­bert es. Fast ver­bren­ne ich mir die Fin­ger an einer Quel­le, die vor mir aus dem Boden spru­delt.

Den hei­ßen Quel­len auf der Spur   

Wie es der Zufall will, fährt vom Mount Io tat­säch­lich noch der letz­te Sight­see­ing-Bus des Tages in Rich­tung des Kuss­ha­ro Sees, einem der drei Cal­de­ra-Seen – ent­stan­den aus vul­ka­ni­scher Akti­vi­tät – des Natio­nal­parks, Zwi­schen­stopps mit Foto­mög­lich­kei­ten inklu­si­ve. Zwar sind mir die­se Bus­tou­ren nor­ma­ler­wei­se ein Graus, doch an die­sem Tag zie­he ich sie einer schweiß­trei­ben­den Rad­tour unter Jet­lag-Bedin­gun­gen doch vor. Ers­ter Stopp ist Sunayu, ein bei den japa­ni­schen Tou­ris­ten beson­ders belieb­tes Ziel, denn dort kann sich am Strand jeder sei­nen eige­nen Onsen – ein Hei­ße­quel­len­bad – bud­deln. Ich schaue fas­zi­niert zu, wie Kin­der und Erwach­se­ne zugleich zum Teil knie­tie­fe Löcher aus­he­ben, in denen anschlie­ßend ganz oder nur mit den Füßen geba­det wird. „Mann, ist das anstren­gend“, gesteht mir ein jun­ger Japa­ner, der dem Sand mit einer rie­si­gen Schau­fel zu Lei­be rückt. Ich muss an die vie­len deut­schen Sand­bur­gen­kö­ni­ge an Nord-und Ost­see den­ken, die hier voll auf ihre Kos­ten kämen.

Dass der Kuss­ha­ro-See tat­säch­lich der größ­te Kra­ter­see Japans sein soll, kann ich erst begrei­fen, als ich ihn in vol­ler Brei­te von oben bestau­ne. Vom Biho­ro-Pass auf 525 Metern Höhe, wo Besu­chern der Wind um die Ohren bläst wie auf den höchs­ten Berg­gip­feln. Lei­der zeigt sich Kuss­hie, das angeb­li­che Unge­heu­er des Sees, das natür­lich Nes­sie aus Loch Ness in kei­ner Wei­se ähnelt, auch mir nicht.

Es gibt kei­nen bes­se­ren Ort als Kawayu Onsen, um durch­ge­fro­ren anzu­kom­men. Dem Ort, der die hei­ßen Quel­len sogar im Namen trägt. Ich sol­le ein­fach ins nächst­bes­te Hotel gehen und den Onsen dort nut­zen, rät man mir. Gesagt, getan. Mit Haus­schu­hen und Hand­tuch aus­ge­stat­tet führt mich der freund­li­che, hut­ze­li­ge Rezep­tio­nist zum Damen-Onsen, vor dem ein roter Vor­hang hängt. „Sag nie­man­dem, dass ich dir das Hand­tuch gra­tis gebe, nor­ma­ler­wei­se kos­tet das!“, ermahnt er mich. Mein Herz schlägt schnel­ler. Ich war noch nie in einem Onsen, bin mir der Ver­hal­tens­re­geln nur grob bewusst. Und das in Japan, dem Land, wo die Fett­näpf­chen so ein­la­dend auf der Stra­ße lie­gen wie die Regen­pfüt­zen in Ham­burg. Was, wenn ich mich wie ein Töl­pel beneh­me? Ich habe doch rich­tig ver­stan­den, dass man nackt in so einen Onsen geht und nicht etwa im Biki­ni?

Ich habe Glück und kann mein ers­tes Onsen-Erleb­nis fast allein ver­ar­bei­ten. Eine lächeln­de Japa­ne­rin, die gera­de aus dem Raum kommt, deu­tet mir, mei­ne Haus­schu­he am Ein­gang der Umklei­de ste­hen zu las­sen. Auch sie ist nackt und trie­fend nass, zieht sich gemäch­lich vorm Spie­gel an, vor dem sich ein Fön und diver­se Cremes anein­an­der­rei­hen. Ich strei­fe die Klei­der ab und schlüp­fe in den mit schwe­fel­hal­ti­gem Dampf gefüll­ten Raum neben­an. Fünf nied­ri­ge Spie­gel hän­gen in einer Rei­he, unter jedem befin­den sich Fla­schen mit Sham­poo und Dusch­gel sowie ein klei­ner Sche­mel, auf den man sich beim Waschen set­zen soll. Ich habe gele­sen, wie wich­tig es ist, sich vor dem gemein­sa­men Bad von Kopf bis Fuß zu schrub­ben, denn das Was­ser zu ver­schmut­zen käme einer Schan­de gleich.

Blitz­sauber stei­ge ich in das bestimmt 40 Grad oder mehr hei­ße Was­ser. Wäre dies mei­ne Bade­wan­ne, wür­de ich erst mal küh­les Was­ser nach­lau­fen las­sen. Die Wär­me umarmt mich wie ein dicker Win­ter­man­tel und ich spü­re, wie ich mich mit jeder Sekun­de wei­ter ent­span­ne, die Stra­pa­zen des lan­gen Flu­ges hin­ter mir las­se. Dies also ist die Magie der japa­ni­schen Bäder, die nicht nur für die Haut Wun­der bewir­ken sol­len. Ich wechs­le hei­ße Bäder mit kal­ten Duschen ab, bis ich mich so woh­lig müde füh­le wie nach einem Tag in der Sau­na. Krebs­rot und als Schrum­pel­pflau­me ste­he ich eine Stun­de spä­ter wie­der vor der Tür.

Dass ich noch vier Kilo­me­ter zurück zur Unter­kunft lau­fen muss, habe ich ver­drängt. Auch, dass es in Japan Ende Sep­tem­ber schon um kurz nach fünf dun­kel wird. Beleuch­tung gibt es auf der Land­stra­ße nicht, nur die wei­ße Begren­zungs­li­nie am Rand, der ich wie hyp­no­ti­siert fol­ge. Kaum ein Auto kommt vor­bei, und wenn, dann fährt es in die fal­sche Rich­tung. Ab und zu ruschelt es im Gebüsch. Ein Bär! Ich suche den Wald nach Augen­paa­ren ab, doch ohne Lam­pe wür­de ich die­se ohne­hin nicht erken­nen. Was, wenn der Bär die Lecke­rei­en in mei­nem Ruck­sack, die ich schnell noch gekauft habe, riecht? Ich sehe mich schon an- oder auf­ge­fres­sen am Stra­ßen­rand enden und fra­ge mich zum ers­ten Mal, ob ich in einem urba­nen Dschun­gel wie Tokyo nicht doch bes­ser auf­ge­ho­ben wäre als in die­ser Wild­nis. Aber die Ant­wort ist und bleibt nein.

Plan B

Manch­mal endet Plan A ganz ein­fach vor einer Wand. Zum Bei­spiel aus Nebel. Schon vom ers­ten Obser­va­to­ri­um über den Mas­hu See reicht der Blick so weit wie in einem Dampf­bad. Angeb­lich soll der See einer der klars­ten der Welt sein mit einer Was­ser­trans­pa­renz von 40 Metern im Jah­re 1931 und heu­te immer­hin von noch 20 Metern (ein paar Tage spä­ter habe ich tat­säch­lich noch das Glück, ihn in sei­ner gan­zen Schön­heit in sat­tem Son­nen­schein zu sehen).

Nach einer erhol­sa­men Nacht auf einer Matrat­ze auf dem Tata­mi-bedeck­ten Boden mei­nes Zim­mers ste­he ich mit Pick­nick, zwei Fla­schen Was­ser und Bären­glo­cke bereit, Mount Mas­hu zu erklim­men. Statt­des­sen erklim­me ich nur die Stu­fen zurück in einen der zwei Bus­se täg­lich, die nach Mas­hu Sta­ti­on fah­ren, dem Bahn­hof der klei­nen Stadt Teshi­ka­ga. Von hier gehen eben­falls zwei Bus­se pro Tag zum Akan See, dem von Ber­gen umge­be­nen Namens­ge­ber des Natio­nal­parks. Ich sit­ze allein im Bus, der sich über einen Berg­pass durch den Nebel bis zum Akan See in einem Tal kämpft. Es gibt kei­ne schö­ne­re Art, den See zu erle­ben, als bei einer 75-minü­ti­gen Boots­fahrt. Düs­ter und wol­ken­ver­han­gen prä­sen­tie­ren sich die Ber­ge zu allen Sei­ten, doch ab und zu bre­chen Son­nen­strah­len durch den Him­mels­schlei­er und las­sen das kla­re Was­ser des Sees erstrah­len.

Der Akan See beher­bergt zwar kein Unge­heu­er, dafür aber die Mari­mo, rie­si­ge Algen­bäl­le, die es in weni­gen Seen in Japan, Island, Est­land und der Ukrai­ne gibt. Sie bestehen aus Algen­fä­den, die sich zu gro­ßen, grü­nen Kugeln mit sam­ti­ger Ober­flä­che ver­wo­ben haben. Inner­halb von fünf bis neun Jah­ren wach­sen sie, um dann in sich zusam­men­zu­fal­len und den Lebens­kreis­lauf von Neu­em zu durch­lau­fen. Dabei kön­nen sie einen Durch­mes­ser von über 30 Zen­ti­me­tern errei­chen.

Die Freu­de, im Nebel zu sto­chern

In Finn­land habe ich gelernt, dass es kein schlech­tes Wet­ter gibt, son­dern nur schlech­te Aus­rüs­tung. Am nächs­ten Mor­gen ste­he ich zum zwei­ten Mal über dem Mas­hu See. Die Aus­sicht ähnelt der am Vor­tag, aber immer­hin reg­net es nicht mehr. Dies ist mei­ne letz­te Chan­ce, Mount Mas­hu zu erwan­dern. Es krib­belt in mei­nen Füßen und ich gebe dem Seh­nen nach. Zeit ist Leben. Mei­ne Bären­glo­cke, wel­che die Tie­re bereits von Wei­tem vor mei­nem Her­an­na­hen war­nen soll, hän­ge ich an mei­nen Ruck­sack. „Es gibt nichts Schlim­me­res, als wenn sich ein Bär über­rum­pelt fühlt“, habe ich immer wie­der zu hören bekom­men. Nor­ma­ler­wei­se sei­en die dicken Braun­bä­ren, die Her­ren über die­se Wäl­der Hok­kai­dos, recht schüch­tern, doch ich möch­te nicht Gefahr lau­fen, im Nebel über einen zu stol­pern. Wie soll man sich über­haupt ver­hal­ten, wenn man einen Bären sieht? Ich habe das mal gegoo­gelt und her­aus­ge­fun­den, dass man ste­hen blei­ben und ruhig mit ihm reden sol­le, mög­lichst dabei noch mit den Armen wedeln, damit einen der Bär als Mensch iden­ti­fi­zie­re. Jedoch nur, solan­ge man sich weit genug ent­fernt befin­de, denn vor dem Bären­ge­sicht her­um­zu­we­deln, könn­te auch nach hin­ten los­ge­hen. Ganz wich­tig: Nie­mals einem Bären den Rücken zei­gen, son­dern sich lie­ber rück­wärts all­mäh­lich ent­fer­nen, ohne zu ren­nen. Der Bär wäre alle­mal der schnel­le­re Läu­fer, und sogar auf Bäu­me soll er klet­tern kön­nen.

Mit die­sen Gedan­ken stie­fe­le ich los. Es geht berg­ab, an wil­dem Gestrüpp vor­bei, und sie­he da: Nach gut 300 Metern eröff­net sich unter dem grau­en Schlei­er ein win­zi­ger Blick auf ein düs­te­res Gewäs­ser. End­lich!

Das Ufer des Mas­hu Sees ist noch heu­te uner­reich­bar – er soll geschützt wer­den, denn zur Ver­schmut­zung trägt allein die Luft schon genug bei, da müs­sen nicht auch noch Men­schen das Ufer ent­lang­wa­ten. Immer wie­der wabern tie­fe Wol­ken um mei­nen Kopf, doch eins lehrt mich der Pfad, noch bevor mir ein Weg­pfei­ler den ers­ten gelau­fe­nen Kilo­me­ter quit­tiert: Es wäre zwar schön, die umge­ben­de Land­schaft klar und im Son­nen­schein zu sehen, doch wirk­lich nötig ist es nicht. Lebens­not­wen­dig ist nur, so viel des Weges vor mir aus­zu­ma­chen, dass ich weiß, wohin mei­ne nächs­ten Schrit­te füh­ren.

Beson­ders vor Kur­ven läu­te ich laut die Bären­glo­cke, wie ein Auto, dass vor einer Kur­ve den Gegen­ver­kehr durch Hupen warnt. Unter­wegs sto­ße ich auf ein ein­zi­ges japa­ni­sches Pär­chen, das mir ent­ge­gen­kommt. Der Mann zeigt laut lachend auf mei­ne Glo­cke. „Kuma?“ Ich las­se die Iro­nie über mei­ne Bären­glo­cke an mir abtrop­fen – sol­len sich die bei­den halt auf­fres­sen las­sen. Rich­tig steil wird es erst auf den letz­ten 300 Metern.

Ich kra­xele glit­schi­ge Stei­ne hoch, über Baum­wur­zeln und umge­fal­le­ne Bäu­me. Auf die­sem Abschnitt sol­len auch die meis­ten Bären gesich­tet wor­den sein. Immer wie­der glau­be ich, in der grau­en Sup­pe um mich her­um einen dicken brau­nen Leib zu erspä­hen, aber es ist nur Mas­hie – mein an die­sem Tag selbst erfun­de­nes Bären­un­ge­heu­er des Mas­hu Ber­ges. Plötz­lich ste­he ich oben. Auf 857 Metern, die ein ein­sa­mer Pfahl mit­ten im Nebel ankün­digt. Ich set­ze mich und genie­ße den Blick ins Nichts. Atme die küh­le, feuch­te Luft ein und mit ihr die unglaub­li­che Stil­le. End­lich hält mich kein Traum­pan­ora­ma dazu an, stän­dig den Aus­lö­ser mei­ner Kame­ra zu kli­cken. Ich bin mit allen Sin­nen bei der Sache, spü­re, wie mei­ne Augen sich ent­span­nen und mein Atem nach dem müh­sa­men Auf­stieg regel­mä­ßi­ger wird.

Die Zeit ver­geht und spielt kei­ne Rol­le. Dann, gera­de, als ich den Abstieg begin­ne, das Wun­der: Der Wol­ken­schlei­er reißt auf, ein Stück See zeigt sich. Als hät­te der See mit mir Ver­ste­cken spie­len wol­len, um sich nun, auf den letz­ten Drü­cker, doch noch zu offen­ba­ren. In die­sem Moment erreicht auch ein ein­sa­mer Japa­ner den Gip­fel, und mit As und Os bewun­dern wir im Kanon die­ses klei­ne Fleck­chen unbe­rühr­ter Schön­heit tief dort unten. Auf ein­mal wird es rich­tig voll. Zwei wei­te­re jun­ge Män­ner sto­ßen zu uns. Deut­sche. Klar, auf einem Berg mit­ten im Nebel irgend­wo am Ende der Welt muss man ja schließ­lich auf Deut­sche sto­ßen. Manu­el und Alex, die ihre Bären­glo­cke bereits bei Ama­zon gekauft haben, machen sich mit mir auf den Rück­weg.

Die nächs­ten Pick­nick­bän­ke sind bereits von vier Japa­nern belegt, doch wäh­rend die bei­den Deut­schen wei­ter­zie­hen wol­len, set­ze ich mich dazu. „Was machst du denn ganz allein hier?“, will die jun­ge Japa­ne­rin neben mir in per­fek­tem Eng­lisch wis­sen. Yuki. Sie und ihre Fami­lie sei­en aus Hons­hu zu Besuch. Die vier essen Sushi aus einer Packung, ich eine alte Stul­le aus der Tüte. Yuki und ich fin­den her­aus, dass wir jah­re­lang in fast benach­bar­ten Städ­ten in Frank­reich gelebt haben, begin­nen, auf Fran­zö­sisch zu spre­chen. Die Welt ist so klein. Zum Abschied bekom­me ich von Yuki fran­zö­si­sche Bises, Wan­gen­küs­se, wäh­rend ihre Eltern schon mit dem Hän­de­schüt­teln ein wenig über­for­dert schei­nen.

Mehr Japan geht nicht

Ver­schlammt kom­me ich zurück in mei­ne Unter­kunft, die kei­ne Duschen hat. Auch nicht auf dem Flur. Geduscht wird im Onsen, im Sit­zen auf den klei­nen Sche­meln. Per Zufall ent­de­cke ich im Gar­ten sogar ein Open-Air-Onsen, men­schen­leer. Hier genie­ße ich die ers­ten und letz­ten Son­nen­strah­len des Tages, wäh­rend um mich her­um der Dampf lang­sam in die Luft steigt. Ich lie­be die Japa­ner für die­se Erfin­dung, die ihnen dank der vie­len Vul­ka­ne sicher leicht­ge­fal­len ist. Das Onsen-Was­ser muss näm­lich aus vul­ka­ni­scher Quel­le stam­men, darf höchs­tens etwas auf­ge­wärmt wer­den. In ers­ter Linie dient es den Men­schen zum Ent­span­nen nach der Arbeit, wobei frü­her gan­ze Dör­fer gemein­sam nackt im Onsen bade­ten, bis die­se an den meis­ten Orten nach Geschlech­tern getrennt wur­den.

Zuerst schien es mir son­der­bar, im Hotel in einem Raum mit ande­ren Frau­en nackt zu duschen, doch schon ist es zu All­tag gewor­den. Ich sam­me­le die Ruhe tief in mir, spei­che­re sie ab und gehe erst wie­der aus dem Was­ser, als ich so schrum­pe­lig bin wie ein Neu­ge­bo­re­nes. Zum krö­nen­den Abschluss des Tages gön­ne ich mir ein echt japa­ni­sches Menü, und zwar im Yuka­ta, dem tra­di­tio­nell japa­ni­schen Baum­woll­ge­wand, eine leich­te­re Vari­an­te des Kimo­no. In jedem japa­ni­schen Hotel­zim­mer gibt es einen, und er wird nicht nur nach dem Baden getra­gen, son­dern auch zum Abend­essen oder Schla­fen. Wäh­rend es mir nicht in den Sinn käme, mich im Schlaf­an­zug an den Restau­rant­tisch zu set­zen, tra­gen fast alle Hotel­gäs­te ihre Yuka­tas.

Ich bekom­me vie­le Lecke­rei­en vor­ge­setzt, von Miso-Sup­pe über Sushi bis Shabu-Shabu, ein japa­ni­scher Feu­er­topf. Ich habe noch nie davon gehört und lege die Schin­ken­stü­cke und das rohe Gemü­se zunächst auf den Holz­de­ckel über der Flam­me – eine Art Raclette japa­ni­scher Stil. Bis die Bedie­nung ent­setzt zu mir kommt, den Holz­de­ckel abnimmt und ich die kochen­de Brü­he dar­un­ter sehe, in die man alle Zuta­ten wer­fen soll. Nun gut, nach­dem ich zumin­dest immer dar­an gedacht habe, die Haus­schu­he vor der Toi­let­te für spe­zi­el­le Toi­let­ten­lat­schen ein­zu­tau­schen, darf ich mir zumin­dest die­sen Faux­pas erlau­ben.

Wunsch­los glück­lich

Als ich am nächs­ten Abend zu Beginn mei­ner Pres­se­rei­se bei Son­nen­un­ter­gang auf der Shire­to­ko Halb­in­sel ankom­me, spü­re ich, dass es mir hier, zwi­schen Meer und dem UNESCO-Welt­erbe Shire­to­ko Natio­nal­park, gefal­len wird. Wir errei­chen Uto­ro an der West­küs­te, unweit der Oshin-koshin Was­ser­fäl­le, die mit 80 Metern die höchs­ten in Shire­to­ko sind und zu den 100 bes­ten in Japan zäh­len.

Uto­ro selbst ist nicht bil­der­buch­schön, besteht aus einem God­zil­la-Fel­sen in ech­ter Dino­sau­ri­er­form, aus ein paar ver­teil­ten Häu­sern und einer Tank­stel­le, einem Super­markt und dem klot­zi­gen Grand Hotel Kita­ko­bu­shi, in dem wir über­nach­ten. Shire­to­ko bedeu­tet in der Spra­che der Ein­ge­bo­re­nen Ainu „Wo das Land endet“, und genau­so fühlt es sich hier an.

Rie­sen­zim­mer mit allem mög­li­chen Schnick­schnack brau­che ich nor­ma­ler­wei­se nicht, doch die­ser Raum mit Weit­blick über den Hafen und das Meer von Okhot­sk, mit einem Rie­sen­bett und jeder Men­ge Kis­sen und einem Schau­kel­stuhl gehört zu den Schöns­ten, in denen ich je über­nach­ten durf­te. Was für ein Luxus!

Tata­mi-Boden ver­bin­det sich mit west­li­chem Stil, noch dazu war­tet auf dem Dach ein Onsen, der selbst den Infi­ni­ty-Pool irgend­wel­cher Schi­cke­ria-Hotels in Sin­ga­pur lang­wei­lig aus­se­hen lässt. Zum Essen gibt es im Ainu-Gast­haus Shuucho’s neben­an ech­te Ainu-Küche. Ainu, das sind die Urein­woh­ner Nord­ja­pans, Jäger und Samm­ler, deren Spu­ren bis ins Jahr 18.000 vor Chris­tus zurück­füh­ren. Heut­zu­ta­ge soll es noch an die 27.000 Ainu in Japan geben, etwa 23.000 davon auf Hok­kai­do, die sich über­wie­gend mit Japa­nern ver­mischt und deren Tra­di­tio­nen und Lebens­stil über­nom­men haben. Fast kommt es mir vor, als wür­de ich mut­wil­lig ein Kunst­werk zer­stö­ren, als ich zu essen begin­ne. Es gibt Hum­mer, Lachs, Krab­ben, gesal­ze­nen Tin­ten­fisch, grü­ne Papri­ka mit Sasa­mi, dazu eine bräun­li­che Mischung aus Kür­bis, Mais, Boh­nen, Bee­ren und Wal­nuss, genannt Rata­she­kep­pu, sowie frit­tier­te Lachs­sa­men. Was sich zunächst wie ein Alp­traum anhört, zer­geht auf der Zun­ge wie But­ter.

Die älte­re Gast­wir­ten, selbst eine Ainu, erzählt uns, dass sie wie die meis­ten Ainu die Spra­che der Ein­ge­bo­re­nen nicht mehr beherr­sche, da die japa­ni­sche Regie­rung die­se immer unter­drückt habe. Den Ainu sei sogar ver­bo­ten wor­den, Lachs zu fischen, was die Lebens­grund­la­ge des Vol­kes dar­stell­te. Erst im Juni 2008 habe das japa­ni­sche Par­la­ment beschlos­sen, die Ainu als kul­tu­rell eigen­stän­di­ges indi­ge­nes Volk anzu­er­ken­nen – wobei jedoch immer noch kei­ne kon­kre­ten Maß­nah­men zur För­de­rung der Ainu vor­ge­se­hen sei­en. Zur Fei­er des Abends spielt uns die alte Frau ein Lied­chen auf der Muk­ka­ri, einer win­zi­gen Har­fe aus Bam­bus, auf der sie bläst.

Dann ist es Zeit für eine Nacht­safa­ri. Eine Safa­ri in Japan, so etwas hät­te ich mir noch vor weni­gen Wochen nicht erträumt. Mitt­ler­wei­le soll es an die 10.000 Braun­bä­ren auf Hok­kai­do geben sowie 500.000 Rehe und Hir­sche – die ein Pro­blem dar­stel­len, da sie zu vie­le Pflan­zen und Bäu­me zer­stö­ren sowie Auto­un­fäl­le her­vor­ru­fen. Dabei ist die Shire­to­ko Halb­in­sel mit etwa 200 Braun­bä­ren einer der am dich­tes­ten besie­del­ten Bären­le­bens­räu­me der Welt. Wir bekom­men jeder eine über­di­men­sio­na­le Taschen­lam­pe und ein Fern­glas, dann geht es mit einem Ran­ger im Wagen raus in den Wald. Auf­ge­regt leuch­te ich zwi­schen die Bäu­me und schreie begeis­tert auf, als mir ein Augen­paar ent­ge­gen­fun­kelt. Lei­der nicht von einem Bären, nur von einem Hirsch. Wir schau­en zu, wie sich meh­re­re Tie­re hoch­hie­ven und einen lang­sa­men Tanz mit inein­an­der ver­keil­ten Gewei­hen begin­nen. Mit­ten in der Nacht. Unge­rührt von unse­rer Gegen­wart. Nach einem Braun­bä­ren, der Blakiston’s Fish owl – der größ­ten Eule der Welt mit einer Flü­gel­span­ne von 1,8 Metern, von denen es nur 120 in Japan gibt – sowie flie­gen­den Eich­hörn­chen hal­ten wir lei­der umsonst Aus­schau, doch ein lus­ti­ger Fuchs lässt sich noch bli­cken, der gie­rig im Gras nach Fut­ter sucht und uns zeigt, wie er Geschäft eins und zwei erle­digt.

Am Ende stei­gen wir unter Mil­li­ar­den von Ster­nen aus, der Ran­ger zeigt uns ver­schie­de­ne Him­mels­bil­der. Ich bin zu beschäf­tigt damit, den Stern­schnup­pen mit dem Blick zu fol­gen, die fast zu mei­nen Füßen fal­len. Nur eins ist schwie­rig: in die­sem Moment noch offe­ne Wünsch zu haben.

Probier’s mal mit Gemüt­lich­keit

Bären ken­ne ich bis­her nur aus dem Zoo, in den ich seit der Kind­heit nicht mehr gehe. Umso auf­ge­reg­ter bin ich, als wir das Boot in Uto­ro bestei­gen, das die Küs­te abfährt – und von Bären beson­ders häu­fig fre­quen­tier­te Strän­de. Zuerst sehen wir nur Fel­sen, die Kas­hu­ri-no Taki Was­ser­fäl­le und Höh­len, die neben der Aus­sicht, ech­te Braun­bä­ren zu sich­ten, natür­lich ver­blas­sen.

Fast ver­lie­ren wir schon die Hoff­nung, als plötz­lich in wei­ter Fer­ne etwas gro­ßes Brau­nes den Strand hin­un­ter schlurft. Voll­kom­men unge­stört spa­ziert das mäch­ti­ge Tier, das an die 300 Kilo wie­gen soll, das stei­ni­ge Ufer ent­lang bis zu einem ins Meer mün­den­den Fluss.

Hier stürzt sich der Bär ins Was­ser, tollt her­um, als wäre er ein Kind im Plansch­be­cken, um anschlie­ßend mit einem dicken Fisch im Maul wie­der auf­zu­tau­chen. Ich glau­be, auch auf die Ent­fer­nung sei­ne Freu­de und Zufrie­den­heit zu spü­ren. Fürs Ers­te gesät­tigt, macht er sich auf den Rück­weg den Strand hin­un­ter, nass und groß und frei und wun­der­schön.

Nicht nur für den Bären gibt es um 11 Uhr mor­gens Mit­tag­essen, auch für uns. Jibie bowl direkt am Meer.

Danach geht es mit Natur-Gui­de Miki in den Wald auf den Spu­ren der Bären. Noch nie habe ich Kratz­spu­ren von Bären­kral­len an einem Baum gese­hen – und sie las­sen mich erleich­tert auf­at­men, dass ich bei mei­ner Solo-Wan­de­rung die Bären­glo­cke dabei hat­te. Auch eine ein­ge­stürz­te Bären­höh­le, in der in opti­mal archi­tek­to­ni­schem Zustand vier erwach­se­ne Men­schen Platz fin­den könn­ten, sehe ich zum ers­ten Mal. Laut Miki stel­len die Bären, die an sich gern Eicheln und Zika­den­lar­ven ver­spei­sen, gera­de ihren Spei­se­plan um, da ihnen das Rot­wild zu viel weg­fut­tert. Daher zögen vie­le Bären immer mehr an die Flüs­se, um Lachs und ande­re Fische zu fan­gen. Mitt­ler­wei­le begän­nen die Bären auch ihren Win­ter­schlaf – nor­ma­ler­wei­se zwi­schen Dezem­ber und März – erst im Janu­ar, da sie selbst im frü­hen Win­ter noch genug Fut­ter fän­den.

Immer wie­der kra­xeln wir über Bäu­me, die der Tai­fun im August gefällt hat. In der Luft liegt ein süßer, zitro­niger Geruch, der von ver­schie­de­nen Pflan­zen aus­geht. „Ein­mal habe ich einen Bären gese­hen, der ein Reh angrei­fen woll­te“, erzählt Miki. „Das Reh stürz­te an mir vor­bei, aber der Bär hielt inne, sobald er mich sah. Wäre ich dem Reh nach­ge­lau­fen, hät­te er auch mich ange­grif­fen, aber ich bin ein­fach lang­sam rück­wärts gelau­fen, bis er ver­schwun­den ist.“ Bären­spray habe er auch immer dabei, habe bis­her aber noch nie Gebrauch davon machen müs­sen.

Der rus­si­sche Wal

Über den Shire­to­ko Pass auf 738 Metern erreicht man von der West­sei­te aus die Ost­sei­te der Halb­in­sel bei Rau­su am Pazi­fik. Die präch­ti­ge Herbst­fär­bung, die in Hok­kai­do beginnt und sich lang­sam süd­lich nach Oki­na­wa arbei­tet – wobei es die Kirsch­blü­te im Früh­ling genau anders her­um macht – lässt sich unter wie­der mal dich­tem Nebel fast nichts erken­nen. Und doch lugt der Wip­fel von Mount Rau­su, auch Shire­to­kos Mount Fuji genannt, mit sei­nen 1661 Metern stolz aus der Wol­ken­pracht.

Wäh­rend einer zwei­stün­di­gen Boots­fahrt von Rau­su sprin­gen trotz Platz­re­gen Del­fi­ne neben dem Boot her. Anhal­ten gin­ge nicht, dann wür­den sie sofort abtau­chen, erklärt der Kapi­tän. Sie kön­nen Geschwin­dig­kei­ten von 50 Kilo­me­tern pro Stun­de errei­chen. Als auch noch der ers­te Pott­wal direkt hin­ter der rus­si­schen Gren­ze – die nur Pas­sa­gier­boo­te kurz pas­sie­ren dür­fen, wohin­ge­gen Fischer sofort ver­haf­tet und auf Mona­te weg­ge­sperrt wer­den kön­nen – kommt trotz Regen Stim­mung auf. Immer wie­der grüßt der Wal mit sei­nem Blas, zeigt sei­nen glat­ten Rücken mit der leicht abge­run­de­ten Flos­se. Doch dar­auf, dass er vorm end­gül­ti­gen Abtau­chen für gut 40 Minu­ten auch noch die Schwanz­flos­se für die Kame­ras prä­sen­tiert, war­ten wir ver­geb­lich. Auf dem Boot wird mitt­ler­wei­le ein Fund her­um­ge­reicht – ein Wal-Zahn, der etwa ein Kilo wiegt.

Vor uns im Nebel lässt sich die Sil­hou­et­te der seit 1945 von Russ­land besetz­ten Insel Kunas­ha­ri erken­nen, ein The­ma, das Japa­nern noch immer ein Dorn im Auge ist. Auf der wei­ter süd­lich gele­ge­nen größ­ten Sand­bank Hok­kai­dos auf der Not­suke Halb­in­sel ist Russ­land hin­ge­gen längst ver­ges­sen. Hier trei­ben Rob­ben gemüt­lich auf dem Was­ser und machen die Man­dschu­ren­kra­ni­che Halt, schwarz-wei­ße Vögel mit einem roten Fleck auf der Stirn, die für ihre Tanz­vor­lie­ben bekannt sind. Wie­der über­kommt mich auf dem in 20 Minu­ten per Boot zu errei­chen­den Sand­strei­fen das Gefühl, am Ende der Welt ange­kom­men zu sein. Da im Win­ter meist ‑20 Grad herr­schen, leben hier kei­ne Men­schen mehr. Hier ist die Natur nicht nur zu Gast. Sie ist der Boss.

Hin­term Tsu­na­mi-Wall

Die nächs­te Nacht ver­brin­ge ich allein mit einem der Gui­des im Gast­haus einer Fami­lie in Kiri­t­ap­pu­ri, was über­setzt viel Nebel bedeu­tet. Den gibt es auch an die­sem Abend, sodass ich das tosen­de Meer unweit des Hau­ses kaum aus­ma­chen kann. Eine klei­ne, älte­re Frau nimmt uns in Emp­fang und wir stel­len am Ein­gang die Schu­he ab. Ein wun­der­ba­rer Geruch nach Holz und Kamin­feu­er erfüllt das gan­ze Haus. Ich bekom­me ein Zim­mer mit Bett, das statt Matrat­ze einen Tata­mi­bo­den hat, sowie mit einem Regal vol­ler Man­gas. Toi­let­te und Wasch­be­cken befin­den sich unten am Ein­gang, geduscht wird in einem klei­nen Bad, in dem sich auch eine Bade­wan­ne zum gemein­sa­men Nut­zen befin­det.

Ich bekom­me eine dicke japa­ni­sche Land­ja­cke, die ich zum Abend­essen tra­ge. Wir sit­zen wie an einer Bar vor der offe­nen Küche, in wel­cher der Haus­herr in Mickey Maus-Schür­ze gera­de Sushis zau­bert.

Die älte­re Dame ist sei­ne Mut­ter, bei­de stam­men ursprüng­lich aus Tokyo, doch vor fast 40 Jah­ren eröff­ne­te er das Gast­haus in Hok­kai­do und zog mit sei­ner Frau und Mut­ter dort­hin. Als ich die vor mei­nen Augen zube­rei­te­ten Sushi pro­bie­re, bin ich sicher, nie wie­der in Deutsch­land Sushi essen zu kön­nen. Der Fisch ist so frisch, dass ich noch das Meer an ihm schme­cke. „Ich neh­me nur natür­li­che Zuta­ten für die Zube­rei­tung“, erzählt der Haus­herr stolz und tischt mir wie­der und wie­der auf. Und wenn mein Magen nicht irgend­wann Stopp gesagt hät­te, dann säße ich noch heu­te dort.

Der Mickey Maus-Mann, wie er mir in Erin­ne­rung bleibt, und sei­ne Frau plau­dern gern und viel. Sie wer­fen sämt­li­che eng­li­sche Wör­ter ins Gespräch, die ihnen bekannt sind, wol­len alles über das Wet­ter in Deutsch­land wis­sen. Ob wir auch Tai­fu­ne und Erd­be­ben hät­ten. Und Tsu­na­mis. Da ist das gro­ße, bedroh­li­che The­ma, das mir seit der Ankunft am Pazi­fik immer wie­der in den Sinn kommt. Zwi­schen Meer und Haus befin­de sich ein Tsu­na­mi-Wall, der glück­li­cher­wei­se schon vor 2011 gebaut wur­de, erzäh­len mir die bei­den. Ihm sei zu ver­dan­ken, dass das Gast­haus damals nicht zer­stört wur­de. „Das Haus unse­rer Nach­ba­rin wur­de bereits zwei Mal von Tsu­na­mis zunich­te gemacht, doch sie ist immer noch da“, berich­tet die Frau. Beim letz­ten Tsu­na­mi hät­ten sie sich vor­sichts­hal­ber alle auf den nahen Hügel beim Wind­rad geret­tet. „Ein­mal gab es ein Erd­be­ben und das Fens­ter hat sich ganz lang­sam geöff­net“, erzählt mir die Frau lachend. Am nächs­ten Mor­gen früh­stü­cken wir zu fünft am gro­ßen Tisch. Es gibt Reis, Sup­pe und ver­schie­de­ne Sala­te. Dann brin­gen sie mich zum Bus, ver­beu­gen sich und win­ken, bis sie mich nicht mehr sehen.

Zwi­schen Adlern, Kra­ni­chen und See­ot­tern

Die Viel­falt an Hok­kai­dos Tier­welt fas­zi­niert mich bis zum letz­ten Moment. Am Kiri­t­ap­pu Feucht­ge­biet erwar­ten uns am nächs­ten Mor­gen Adler, die fried­lich neben Kra­ni­chen sit­zen. Die­ses Jahr hät­ten immer­hin zwei jun­ge Man­dschu­ren­kra­ni­che über­lebt, erzählt uns der Gui­de dort, was sehr unge­wöhn­lich sei. „Von die­sen Kra­ni­chen gibt es nur 3000, wovon 1500 in Japan leben, die ande­re Hälf­te auf Russ­land und Chi­na ver­teilt. Aber nur die Japa­ner füt­tern sie im Win­ter, wodurch sie sich bei uns leicht ver­mehrt haben.“

Unweit des Feucht­ge­biets befin­det sich das Cape Kiri­t­ap­pu mit dem klei­nen Tofutsu Leucht­turm, in des­sen Nähe ein See­ot­ter in aller See­len­ru­he auf dem Oze­an treibt. Er rollt sich im Was­ser wie ich, wenn ich das ers­te Mee­res­bad des Jah­res genie­ße und vor Freu­de ganz außer mir bin. Die Wel­len klat­schen sanft gegen die hohen Klip­pen, auf denen wir ste­hen. Unvor­stell­bar, dass hier bis zu zehn Meter hohe Wel­len wüten kön­nen.

Das Bes­te zum Schluss

Auf jeder mei­ner Rei­sen kommt das Aller­bes­te immer zum Schluss. Oder viel­leicht bil­de ich mir das nur ein, weil mich die vie­len außer­ge­wöhn­li­chen Erleb­nis­se so für das Schö­ne sen­si­bi­li­siert haben. Nach einer Nacht im Ainu-Gast­haus am Kuss­ha­ro See, wo mei­ne Rei­se allein begon­nen hat, sto­ße ich beim mor­gend­li­chen Spa­zier­gang auf ein traum­haf­tes Onsen direkt am See. Dort sit­ze ich im per­fekt war­men Was­ser und las­se mei­ne letz­ten Sor­gen mit dem auf­stei­gen­den Dampf in den blau­en Mor­gen­him­mel zie­hen. Die Son­ne strahlt hin­ter mir durch die Bäu­me und malt den See in den kräf­tigs­ten Blau­tö­nen aus. Es ist mir egal, wie oft die Leu­te sagen, Rei­sen spie­le einem nur eine Illu­si­on der per­fek­ten Welt vor. Glück, das so greif­bar ist, ist kei­ne Illu­si­on.

Das Gefühl ver­stärkt sich, als ich im Kanu sit­ze und vom Kuss­ha­ro See den Kus­hiro Fluss hin­un­ter­s­chip­pe­re. Das Was­ser ist so klar, wie die Stil­le abso­lut ist. Fische und Vögel leben hier fried­lich vor sich hin, nur manch umge­fal­le­ner Baum erin­nert dar­an, dass es auch im Para­dies manch­mal stürmt. Und das ist in Ord­nung. Ich brau­che kei­ne per­fek­ten Orte. Nur auf ihre Art ganz beson­de­re, von denen ich am liebs­ten nie­man­dem erzäh­len wür­de, um sie für mich zu behal­ten. Wie Hok­kai­do.

Die­se Rei­se wur­de unter­stützt von JTB Glo­bal Mar­ke­ting & Tra­vel Inc. sowie von Masaya Kusu­be von Pic­chio Eco-Tours.

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Antworten

  1. Avatar von Anna

    Lie­be Ber­na­dette,
    ich habe noch nie von Hok­kai­do gehört aber Du hast mich mit dei­nem tol­len, aus­führ­li­chen Arti­kel und vor Allem mit den beein­dru­cken Bil­der rich­tig inspi­riert.

    Freue mich schon auf Dei­ne nächs­ten Arti­kel.

    Lie­be Grü­ße
    Anna

    1. Avatar von Bernadette

      Lie­be Anna, vie­len Dank für dein tol­les Feed­back, es freut mich sehr, dass ich dich inspi­rie­ren konn­te. Hok­kai­do ist auf jeden Fall eine Rei­se wert und ich wün­sche dir, dass du es dir eines Tages mit eige­nen Augen anse­hen kannst.
      Lie­be Grü­ße
      Ber­na­dette

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