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Noch 1.400 km auf der südlichen Panamericana liegen vor uns. Die letzten 1.400 km. Dann endet die Straße. Unser Ziel heißt Ushuaia, die südlichste Stadt dieser Hemisphäre. Das Ende der Welt.
Aber noch scheint die patagonische Sonne. Mein Eis für Stimmungstiefs habe ich bereits hinter mir. Die Autos rasen an uns vorbei. Kein freundlicher Blick, keine nette Geste, keine aufmunternden Worte, kein Lächeln. Es ist Montag morgen. Für so etwas bleibt wohl keine Zeit.
Ich gehe wieder zurück in den kleinen Shop der Tankstelle. Ich suche Aufmunterung und finde Milchreis. In mich und meinen Milchreis versunken starre ich auf den dreifach gerollten Stiernacken vor mir. Der massige Besitzer trägt eine plumpe Goldkette und ein noch plumperes rotes Hawaii-Hemd. Sein Gegenüber bietet ein ähnliches Bild. Immer wieder dreht sich der Stiernacken zu mir um, zeigt mir sein mit Goldzähnen bestücktes Lächeln, tuschelt mit dem zweiten Stiernacken und lacht. Ich bin gerade nicht zu Späßchen aufgelegt. Eher angriffslustig.
Ich möchte gerade ansetzen, da ruft er mir zu: „Wohin wollt ihr?“ Ich verstehe nicht ganz. „Was steht da auf dem Schild?“ Auf seinem fleischigen Finger prangt ein wenig dezenter Goldring. Beide zeigen nun durch das Tankstellenfenster hinaus auf die Straße, wo mein Leidensgenosse heldenhaft noch immer unseren Schreibblock in die Höhe hält.
„Richtung Süden“, antworte ich knapp. Die beiden jungen Männer sind mir nicht Geheuer. Sehen sie doch aus wie die Karikatur zweier Drogenbosse aus den 90er Jahren. Wieder Tuscheln. „Wir können euch mitnehmen“, sagt der Stiernacken schließlich. Sein fleischiger Finger zeigt erneut aus dem Fenster. Diesmal aber auf den schneeweißen und nagelneuen Mercedes, der ebenfalls wenig dezent vor der Tankstelle thront.
Bei genauerem Hinsehen muss ich lachen. Der Sportwagen besitzt nicht einmal ein Nummernschild. Noch bevor ich antworten kann, macht mir der Stiernacken ein Angebot, was ich trotz aller Bedenken nicht ausschlagen kann. „Wir fahren bis nach Comodoro“. Fast 500 km in unsere Richtung. Ein Glücksgriff.
Etwas beschämt verstauen wir wenig später unsere staubigen Rucksäcke in den fabrikneuen Kofferraum. Zärtlich streicht der Stiernacken über den weißen Lack, während wir etwas angespannt auf der Rückbank Platz nehmen. Seine Stimme hat nun einen wohlig-weichen Klang. Im Rückspiegel sehe ich seine Goldzähne aufblitzen.
Der Bass wummert hinter unseren Köpfen, während der Neuwagen über die einsamen und nicht enden wollenden patagonischen Straßen gleitet. Irgendwann erspähen meine Augen eher zufällig den Tacho, der gediegene 180 km/h anzeigt. Dies macht mich allerdings erst stutzig, als wir an einem Schild vorbeirauschen, das eine Höchstgeschwindigkeit von 40 km/h angibt. Meine Augen weiten sich kurz. Doch ich möchte mich nicht beschweren. In Windeseile erreichen wir Comodoro.
Nach wenigen Minuten an der nächsten Tankstelle hält Julio. Julio transportiert in seinem Lastwagen 20.000 kg Rindfleisch und steuert, gemeinsam mit zwei Kollegen mit gleicher Fracht, einen Supermarkt auf Feuerland an. Gut 200 km vor Ushuaia. Noch ein Glücksgriff. Julio ist typisch argentinisch, möchte man meinen. Entspannt, gutgelaunt und redselig.
Wir rattern mit 40 km/h über die Panamericana, bis die kalte Nacht herein bricht. Auf seinem tragbaren DVD-Player schauen wir ›Waterworld‹, während wir auf der riesigen Gaskatusche zwischen den Vordersitzen Wasser für seinen Mate-Tee erhitzen. Über Nacht dürfen wir es uns in seinem Bett bequem machen.
Am Mittag des nächsten Tages erwartet uns jedoch eine schlechte Nachricht. Das Kühlsystem ist ausgefallen. 20.000 kg argentinisches Rindfleisch sind in Gefahr. Während Julio eine Werkstatt aufsucht, stehen wir, noch vor der chilenischen Grenze, wieder an der Straße. Nach knapp zwei Stunden halten Toni und Felix. Zwei Deutsche, die in einem umgebauten Transporter den weiten Weg von Kanada bis nach Argentinien gewagt haben. Mit ihnen passieren wir die chilenische Grenze und setzen mit der Fähre über die Magellanstraße, die Feuerland vom Festland trennt. Wir können es kaum erwarten. Als schmaler Streifen taucht am Horizont die Küste Feuerlands vor uns auf.
Unsere ersten Schritte auf der Insel, hier am südlichsten Ende der Welt, sind magisch. Die Sonne steht tief und verzaubert die riesige Tundra, die bis zum Horizont gefüllt ist mit wolligen Schafen, in ein weites großes Meer aus Goldtönen. Die Fahrt über klebe ich an der von Steinschlag gezeichneten Scheibe des Lastwagens, der uns auf der ruckeligen Schotterstraße weiter bis an die argentinische Grenze bringt und starre wie gebannt auf die geschwungenen goldenen Hügel.
Es ist nachts als wir die argentinische Grenze passieren. Die Zollbeamten bieten uns an, unser Nachtlager im unbenutzen Wartesaal aufzuschlagen. Am nächsten morgen werde ich grinsend geweckt. Julios Besuch der Werkstatt war erfolgreich und auch er hat die Nacht hier an der Grenze verbracht. Er nimmt uns bis Rio Grande, 200 km vor Ushuaia, mit. Die letzten Kilometer legen wir mit einem Kayakfahrer aus Peru und einer argentinischen Familie zurück.
Nach drei Tagen und Nächten erreichen wir, uns nach einer Dusche sehnend und völlig übermüdet, endlich unser Ziel: Ushuaia.
Trotz der Müdigkeit, die uns noch in den Knochen sitz, verzaubert uns auch Ushuaia vom ersten Augenblick an. Vor der Kulisse der schneebedeckten Andengipfel liegt die kleine Stadt mit ihren bunten Holzhäuschen malerisch um die geschwungene Bucht des tiefblau leuchtenden Beagle-Kanals herum. Alles ist auf tiefe Winter eingestellt. Viele Stufen vor der Eingangstür und ein bis auf den Boden reichendes Dach schützen die Häuser vor den Schneemassen, die hier den langen Winter über liegen. Und dabei erinnern sie ein bisschen an kleine Zwergenhäuschen.
Gegründet wurde die Stadt als Sträflingskolonie und auch heute noch kann man das sternenförmig angelegte Gefängnis besuchen, in das man zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gewaltverbrecher und politische Gefangene so weit weg wie nur möglich hinter Schloss und Riegel wissen wollte.
Heute lebt die Stadt hauptsächlich vom Tourismus und von Fabriken, die hier steuerfrei produzieren können. Reihenweise Lastwagen bringen Einzelteile aus Buenos Aires hierher, um später das fertige Produkt wieder 3.000 km zurück in die Hauptstadt zu befördern.
Die Touristen-Vielfalt ist enorm. Alle zieht es hierher, an das Ende der Welt. Bereits auf dem Weg teilten wir mit einigen Reisenden die Straße, die mit großem Rucksack, kleinem Budget und ausgestrecktem Daumen ihren Traum wahrmachen. Naturliebhaber, deren Rucksack vor lauter Outdoor-Überlebenskampf-Zeug nur so überquillt sind ebenso dabei wie Familien in Wohnmobilen, Bikerkolonnen und verrückte Fahrradfahrer, die den weiten Weg über die Panamericana, die in Alaska beginnt, gemeistert haben.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die vielen Kreuzfahrttouristen, die den größten Teil der Gäste hier ausmachen. Mit spezieller Funktionskleidung im Wert mehrerer durchschnittlicher Monatsgehälter ausgestattet, halten sie hier ihren kurzen Landgang ab und gehen nach einem kurzen Rundgang durch die Souvenirshops in eines der vielen feinen Restaurants und Cafés, bis es wieder zurück auf die großen Schiffe geht, die Ushuaias Hafen belegen.
Doch eines haben alle Touristen gemeinsam. Niemand wollte schlecht ausgestattet sein für die eisige Kälte, die einem hier am Ende der Welt ins Gesicht blasen wird. So füllen sich die Straßen mit in Gore-Tex gekleideten Menschen. Und nicht selten sieht man sie sich schwitzend von mehreren Kleidungsschichten befreien.
Zwar gibt es keine Stadt, die südlicher liegt als Ushuaia, dennoch befinden wir uns hier auf dem 54. Breitengrad und sind damit so weit vom Südpol entfernt, wie Kopenhagen vom Nordpol. Bei angenehmen 17 Grad und Sonnenschein kann man es sich hier gut gehen lassen. Vor wenigen Tagen noch, im Januar, schmissen sich hier die Einheimischen bei über 20 Grad in die kalte See.
Doch die knapp 60.000 Einwohner Ushuaias fallen hier im Sommer vor lauter Touristen kaum auf. Die Stadt ist nun vollkommen auf den Tourismus ausgelegt. Ein Biber begegnet mir auf der Hauptstraße und drückt mir einen Werbeprospekt über Shops und Restaurants der Stadt in die Hand. Etliche Schilder, die den Namen ›Ushuaia‹ oder ›Fin del mundo‹ tragen, bieten beliebte Fotomotive, genauso wie Richtungsweiser, die die Entfernungen zu allen möglichen Hauptstädten angeben.
›Fin del mundo‹, das Ende der Welt. Hiermit scheinen alle zu prahlen. Das südlichste Internetcafe der Welt, die südlichste Disko der Welt. Wie hörten vom südlichsten Klo der Welt und bald sollen noch mehr Touristen angelockt werden; und zwar mit den südlichen Skipisten der Welt. Ach ja. Den südlichsten Irish Pub der Welt gibt es hier natürlich auch (und zwar gleich mehrere davon).
Nichtsdestotrotz; Ushuaia bleibt aufregend charismatisch und gemeinsam mit unserer herzlichen Gastgeberin Belén und ihren Kindern tauchen wir einige Tage hinab in diese Welt, an deren Ende wir nun angekommen zu sein scheinen. Wir sehen viele Kreuzfahrtschiffe kommen und gehen, bis wir uns zu einer Fahrt auf dem Beagle-Kanal entschließen.
Das Wetter hat sich gedreht. Der Wind pfeift und die Berggipfel ragen nun schneebestäubt hoch in den grauen Himmel. Der Beagle-Kanal leuchtet schwarz und eisig, während die us-amerikanische Star Princess unauffällig 13-stöckig am Hafen liegt. Die Sicht auf Ushuaia vom Wasser aus, (das, was man neben der Star Princess noch sehen kann) fesselt. Der pfeifende Wind und der entsprechende Wellengang tragen dafür Sorge, dass die betagten Herrschaften auf unserem Schiff schon nach kurzer Zeit damit beschäftigt sind, ihr Erbrochenes in die kalten Fluten zu kotzen.
Die Seelöwen- und Kormorankolonie, die sich auf den Felsen weit draußen im Kanal tummelt, sind nur mit einigem Kraftaufwand zu bewundern. Das Schiff schaukelt heftig und der Wind lässt die Gesichter in kürzester Zeit einfrieren. Eine Möwe über unseren Köpfen hebt ihre Flügel im Sturm. Während die Touristenherde mit angewinkelten, weit auseinander stehenden Beinen, einhändig ihre Kameras einstellt und sich die andere verzweifelt, einem Rodeoritt gleichend, am Geländer des Schiffes festhält.
Spektakulär klatscht das dunkle Wasser an die Felsen, brechen sich sie Wellen. Selbiges Bild am Faro les Eclaireurs, dem vermeintlich südlichsten Leuchtturm der Welt. Es ist kaum noch möglich, aufrecht zu stehen, geschweige denn auf dem Schiff zu gehen. Mehrere Mutige scheitern, stürzen zu Boden.
Ein Rundgang auf der kleinen Isla H verschafft uns wieder festen Boden unter den Füßen. Über der kargen Vegetation erheben sich die verschneiten Gipfel. Wir sind mitten in der Tundra. Noch weiter im Süden gibt es nur noch Schnee, Eis und die antarktische Kälte.
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