Neufundland, das 8. Weltwunder? (3)

Nach einer ein­wö­chi­gen Press­rei­se wache ich am nächs­ten Mor­gen allein im Haus einer süd­afri­ka­ni­schen Fami­lie in St. John’s auf, die seit 20 Jah­ren dort lebt und Zim­mer an Tou­ris­ten unter­ver­mie­tet. Mei­ne Jour­na­lis­ten-Kol­le­gin­nen wer­den längst irgend­wo über dem Atlan­tik schwe­ben. Ich schlei­che mich um vier Uhr aus dem Haus, wo das bestell­te Taxi bereits war­tet. Mein Sin­gle-Aben­teu­er steht bevor und ich spü­re den­sel­ben Adre­na­lin­rausch wie jedes Mal, wenn ich wie­der allein auf Tour gehe – lang­sam mei­ne aller­liebs­te Rei­se­art. Ohne Schul­ter zum Anleh­nen, ohne Sicher­heits­netz. Allein mit mir und dem Rest der Welt, der mir dabei so über den Weg läuft.

Das per­fek­te The­ma, das man mit einem Taxi­fah­rer mit­ten in der Nacht bequatscht, ist natür­lich das Ver­bre­chen. „Das ein­zi­ge Pro­blem, das wir hier in St. John’s haben, sind Dro­gen“, erzählt er mir. „Es gibt auch ein paar Dro­gen­dea­ler, und wenn hier mal jemand ver­schwin­det, wird er meis­tens tot auf­ge­fun­den – umge­bracht von einem Dea­ler.“ Das The­ma gefällt mir als Kri­mi­tan­te echt gut, doch die Fahrt zum Flug­ha­fen ist zu kurz, um in Details ein­zu­tau­chen.

Go West

Über Hali­fax in Nova Sco­tia flie­ge ich nach Deer Lake – einem Flug­ha­fen ein wenig grö­ßer als mei­ne Woh­nung im Wes­ten Neu­fund­lands und nicht weit vom Gros Mor­ne Natio­nal­park, wo ich die nächs­ten vier Tage ver­brin­gen wer­de. Ich schnap­pe mir den gebuch­ten Miet­wa­gen, kau­fe im Super­markt in Deer Lake eine Kata­stro­phen­pa­ckung Jogurt, Brot, Auf­strich und Obst, da es im Natio­nal­park weni­ge oder zu teu­re Ein­kaufs­mög­lich­kei­ten geben soll, und los geht’s in Rich­tung Küs­te.

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Fast nir­gends sind mehr als 80 Kilo­me­ter pro Stun­de erlaubt, doch die Freu­de über den ers­ten auto­ma­ti­schen Wagen mei­nes Lebens und die brei­ten, unend­lich lee­ren Stra­ßen ver­lei­ten mich schnell dazu, das Gas­pe­dal durch­zu­tre­ten. Dazu wum­mert die Musik aus der Anla­ge, dass der Sitz unter mir vibriert. Nicht ein­mal der Schütt­re­gen, der mir fast die Sicht nimmt, kann mir das gro­ße Frei­heits­ge­fühl rau­ben. Immer wie­der fah­re ich an rie­si­gen Cam­ping­bus­sen vor­bei, die noch den PKW hin­ter sich her­zie­hen – sowas habe ich auf euro­päi­schen Stra­ßen noch nie gese­hen. Eine rie­si­ge Lust über­kommt mich, den gesam­ten Trans-Cana­da-High­way von St. John’s bis zur Pazi­fik­küs­te abzu­fah­ren.

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Da Kana­da 2017 sei­nen 150. Geburts­tag fei­ert, sind in die­sem Jahr fast sämt­li­che Natio­nal­parks ein­tritts­frei. Am Ein­gang des Gros Mor­ne erwar­tet mich nur ein gro­ßes Schild, das vor Elchen auf der Stra­ße warnt und zum Lang­sam­fah­ren anhält. „Du musst wirk­lich vor­sich­tig sein“, hat mich Ron, der Tour­gui­de auf der Pres­se­rei­se, immer wie­der gewarnt. „So ein Elch reißt dir das Dach vom Auto und kann dich auf der Stel­le umbrin­gen. Die Tie­re sind wie eine Wand vor dir, wenn du auf sie auf­fährst.“ Wän­de habe ich bis­her immer nur seit­lich gestreift, bin aber noch kei­ne auf­ge­fah­ren, sodass ich immer wie­der in die Bäu­me zu bei­den Sei­ten der Stra­ße spä­he.

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Durch Rocky Har­bour, den Haupt­ort des Parks und mein Zuhau­se für die nächs­ten zwei Näch­te, geht es die Küs­te nord­wärts bis zum Wes­tern Brook Pond Park­platz, von wo man in vier Kilo­me­tern einen Fjord mit mas­si­ven, Mil­li­ar­den von Jah­ren alten Klip­pen erreicht. Der Weg führt über Holz­ste­ge- und wege, an einem vom Wind auf­ge­wühl­ten See vor­bei, und end­lich bricht sogar die Son­ne durch. Ich erken­ne die ‚Pit­chers plant‘ wie­der, die fleisch­fres­sen­de Pflan­ze, die uns Lar­ry, unser neu­fund­län­di­scher Bus­fah­rer, erklärt hat­te. Durch eine Lücke im Holz­steg drängt sich eine hüb­sche blaue Blu­me dem Licht und der Frei­heit ent­ge­gen. Sie erin­nert mich an mich selbst, wenn ich an einem Ort oder in einer Akti­vi­tät gefan­gen bin, die so gar nichts mit mir zu tun haben. Was für ein Glück, dass mich die­ses Gefühl mitt­ler­wei­le immer weni­ger über­kommt. Und in Neu­fund­land schon mal gar nicht. Schließ­lich geht es durch ‚fin­ni­sche Wäl­der‘, wie ich sie nur noch nen­ne, schnur­stracks auf den Fjord zu.

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Am See ange­kom­men, set­ze ich mich erst ein­mal auf den berühm­ten roten Stüh­len ab, die sich über ganz Neu­fund­land ver­tei­len und die angeb­lich erst­mals hier, im Gros Mor­ne Natio­nal­park, auf­ge­stellt wur­den. Hier ver­lei­be ich mir eine Stul­le ein und eine Jogurt, die ich mit den Fin­gern schle­cke, da der Löf­fel natür­lich im Auto liegt. Who cares? Ich bin frei.

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Lang­sam schip­pert ein rotes Böt­chen her­an, das mich und eini­ge ande­re War­ten­de in einer zwei­stün­di­gen Tour hin­aus in den 16 Kilo­me­ter lan­gen Fjord fah­ren soll.

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Uns umgibt ein Berg­mas­siv von bis zu 600 Metern Höhe. „Die­ser Pond wur­de vor unge­fähr 25.000 Jah­ren wäh­rend der Kalt­zeit durch Glet­scher geformt und ver­lor sei­ne Ver­bin­dung zum Meer, als die Glet­scher schmol­zen“, erklärt uns der Gui­de an Bord. Heu­te bestehe der Fjord aus Süß­was­ser.

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Die rie­si­gen, bewal­de­ten Fel­sen ent­lo­cken den Tou­ris­ten vie­le As und Os, doch am beein­dru­ckends­ten ist der Pis­sing Mare Was­ser­fall – obwohl der Name pis­sen­de Stu­te nicht gera­de schmei­chel­haft ist, ist er tat­säch­lich der zweit­höchs­te Was­ser­fall Kana­das und auf Rank 199 der höchs­ten Was­ser­fäl­le der Welt. Zwi­schen den Fel­sen tau­chen auch klei­ne­re Fäl­le auf, die sich mutig von den Klip­pen in die Tie­fe stür­zen.

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Die Fels­for­ma­tio­nen laden immer wie­der dazu ein, Fan­ta­sie­fi­gu­ren in ihnen zu erken­nen, dar­un­ter einen 615 Jah­re alten Mann, der dem Zau­be­rer von Oz ähnelt. Den letz­ten grö­ße­ren Erd­rutsch gab es 2010. „Hier im Natio­nal­park gibt es drei Elche pro Qua­drat­ki­lo­me­ter“, erklärt mir Mau­de, eine jun­ge Tou­ris­ten­füh­re­rin an Bord.

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„1904 hat­ten wir nur vier Elche, die aus ande­ren Pro­vin­zen her­ge­bracht wur­den, mitt­ler­wei­le soll es jedoch an die 3400 geben und in ganz Neu­fund­land 100.000. Das ist die höchs­te Elch­po­pu­la­ti­on der Welt.“ Um der Tie­re Herr zu wer­den, wür­den sie zwi­schen Sep­tem­ber und Febru­ar gejagt. Trotz­dem schaf­fe ich es, nicht einen ein­zi­gen Elch zu sehen. Aber bes­ser kei­nen als einen auf der Motor­hau­be! Vom Park­platz des West Brook Pond fah­re ich auf dem Viking Trail, einem male­ri­schen High­way ent­lang der West­küs­te Neu­fund­lands bis nach Labra­dor, immer wei­ter Rich­tung Nor­den.

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Die Frei­heit sitzt neben mir, so leicht, dass ich sie im Gegen­teil zu mei­nem Ruck­sack nicht ein­mal anschnal­len muss. Über­all dort, wo mich die vor­bei­zie­hen­de Natur ruft, hal­te ich an. An eini­gen Strän­den. Ganz beson­ders an einem Strand mit einer blau­ge­stri­che­nen Hüt­te, vor den rol­len­den Wel­len des Oze­ans, vor den Dünen. Ich wür­de viel dafür geben, hier in die­sem Moment ein­zie­hen zu dür­fen. Nach einem luxu­riö­sen Zim­mer mit offe­nem Kamin in St. John’s, nach dem schi­cken Cot­ta­ge in Tri­ni­ty, spü­re ich hier, dass ich genau das gefun­den habe, was ich eigent­lich zum Leben bräuch­te. Eine klei­ne Hüt­te am Strand mit Platz für genau eine Per­son. Und für vie­le Tie­re, um drin­nen und drau­ßen her­um­zu­tol­len. Ich träu­me, dann lau­fe ich den Strand wei­ter hin­un­ter, las­se die Son­ne mein Gesicht dunk­ler malen und atme die kla­re Luft tief ein.

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Für mich geht die Son­ne am ers­ten Abend im Wes­ten am Arches Pro­vin­cial Park unter. Ich sit­ze unter einem der vom Oze­an über die Zeit aus­ge­höl­ten Bögen, auf einer Plas­tik­tü­te auf einem dicken feuch­ten Stein. Zum Abend­essen gibt es das­sel­be wie zu Mit­tag – unge­toas­te­tes Toast­brot mit schmie­ri­gem Käse, geschmacks­neu­tra­le Man­da­ri­nen und eine Jogurt am Fin­ger. Es ist das bes­te Abend­essen, das ich seit Lan­gem genos­sen habe. Das Gewöl­be schützt mich vor dem eisi­gen Wind, der außer­halb der Wän­de wütet.

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Bald eine Stun­de lang star­re ich aufs Meer, der gemäch­lich unter­ge­hen­den Son­ne ent­ge­gen. Unglaub­lich, dass ich hier allein bin. Etli­che Grün­de könn­ten mich davon abhal­ten. Zu kalt. Zu win­dig. Zu unbe­quem. Zu weit weg von mei­ner Unter­kunft, zu weit bei Dun­keln zu fah­ren auf einer Stra­ße, auf der mich jede Sekun­de ein Elch ansprin­gen könn­te. O ja, Grün­de dage­gen gibt es immer vie­le. Ich brau­che nur einen dafür: Ich bin glück­lich hier.

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Die 10 Lebens­lek­tio­nen des gro­ßen ein­sa­men Ber­ges

Die 16 Kilo­me­ter lan­ge Wan­de­rung auf den 800 Meter hohen Gros Mor­ne Moun­tain, den zweit­höchs­ten Berg Neu­fund­lands, wird auf allen Kar­ten, die ich mir am Besu­cher­zen­trum geholt habe, als beson­ders schwie­rig bezeich­net und ist bist Ende Juni sogar ver­bo­ten. Wie­so, den­ke ich mir, wenn es sich doch um schlap­pe 800 Meter dreht? Nach den ers­ten vier, recht gemüt­li­chen Kilo­me­tern steht die Ant­wort da.

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Vol­ler rie­si­ger Stei­ne und wahn­sin­nig steil türmt sich der Auf­stieg vor mir und den weni­gen ande­ren Irren, die ihn wagen wol­len, auf. Ich bin wirk­lich kein Berg­stei­ger, über­haupt kein Berg­mensch und Wan­de­run­gen machen mir in der Regel nur Freu­de, wenn sie ent­lang der Küs­te füh­ren. Vor zwei Mona­ten wäre ich umge­kehrt. Sowas muss­te ich mir doch nicht antun, ich war doch nicht blöd! Das war vor zwei Mona­ten. Vor dem Tag, als ich bei einem Fahr­rad­un­fall in Luxem­burg durch Zufall erfuhr, dass da in mei­nem Kopf etwas lau­ert und womög­lich wächst, was da nicht hin­ge­hört. Seit jenem Tag, an dem mich die Angst mit eis­kal­ten und über­mensch­lich star­ken Kräf­ten würg­te, als ich ihr voll­kom­men allein aus­ge­lie­fert war, da hat sich etwas getan. Davor hat­te ich öfter Angst. Vor allem Angst, dass ich etwas nicht schaf­fen könn­te. Die­se Angst ist jetzt weg. Ich schaf­fe alles, was ich will. Sage ich mir und stie­fe­le los.

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Ich set­ze einen Fuß vor den ande­ren, den Blick stets auf den nächs­ten Stein vor mir gerich­tet, denn die­ser Stein ent­schei­det dar­über, ob ich ihn über­schrei­te oder aber stol­pe­re und womög­lich rück­wärts in den siche­ren Tod fal­le. Man­che der klei­ne­ren Stei­ne sind beson­ders lose, rut­schig. Mehr als ein­mal fürch­te ich, die Balan­ce zu ver­lie­ren. Aber nein. Hoch­zu­schau­en, wie viel noch vor mir liegt, ist ein Feh­ler. Jedes Mal. Zurück­zu­schau­en eben­so. Ich lau­fe lang­sam, die Zeit habe ich gar nicht dabei. Wich­tig ist der Weg, nicht das Ankom­men.

Wei­ter oben tref­fe ich auf Pam, eine Kana­die­rin aus Onta­rio, die mit einer Wan­der­grup­pe unter­wegs ist. Sie reißt mich aus mei­nen Gedan­ken. „Bist du ganz allei­ne hier unter­wegs?“, fragt sie mich erstaunt, gefolgt von dem gewohn­ten „Du bist aber mutig!“ Ich läche­le müde. Mutig? Nein. Ledig­lich wei­se. Weil ich etwas ganz Wesent­li­ches kapiert habe. Vor zwei Mona­ten. Oben ange­kom­men, lädt mich Pam ein, mit ihr und ein paar ande­ren aus ihrer Grup­pe zu pick­ni­cken. Ich möch­te nicht unhöf­lich sein, set­ze mich dazu, esse mein unge­toas­te­tes Brot, schie­ße Fotos von den lachen­den Wan­de­rern und sie schie­ßen ein paar von mir.

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Doch der Sinn steht mir nach Allein­sein. Ich bin noch nicht fer­tig mit mir und mei­nen Gedan­ken. Weit unter­halb des Pfa­des fin­de ich einen Stein, geschützt vor den neu­gie­ri­gen Bli­cken ande­rer Gip­fel­stür­mer, und set­ze mich dahin­ter. Der Stein macht mich unsicht­bar, es gibt nur das Berg­pan­ora­ma mit grü­nen Fel­sen, hin­ter denen die Land­schaft ein­fach wei­ter­rollt.

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Etwas Schnee klam­mert sich noch einen Abhang und links erspä­he ich einen Berg­see. Ich höre das Rau­schen des Win­des und irgend­wo in wei­ter Fer­ne Was­ser. Flie­gen sum­men um mich her­um. Die Wol­ken wer­fen has­ti­ge Schat­ten auf die Land­schaft, dann sind sie wie­der weg, wol­len nicht stö­ren. Ich sehe zu, wie eine klei­ne Spin­ne an mei­nem Bein hoch­krab­belt, und auch ein Käfer macht es sich auf mei­ner Jacke bequem. Sie akzep­tie­ren mich als Teil der Natur – ihrer Natur. Und ich gehö­re dazu. Gehö­re hier­her. Ich neh­me mein Notiz­buch und schrei­be die simp­len Lek­tio­nen nie­der, die mich der gro­ße ein­sa­me Berg, wie der Gros Mor­ne Moun­tain über­setzt heißt, an die­sem Mor­gen gelehrt hat. Oder an die er mich erin­nert hat.

1) Auf dem Weg zum Ziel kannst du nur einen klei­nen Schritt nach dem ande­ren tun.

2) Du kannst nicht immer mit bei­den Füßen fest auf dem Boden ste­hen. Aber ver­su­che, den zwei­ten Fuß erst vom Boden zu lösen, wenn der ers­te fes­ten Halt gefun­den hat.

3) Wenn du zu weit vor­aus­schaust und siehst, was noch kommt, erscheint die Stre­cke end­los und ver­setzt dich leicht in Panik. Schau nicht hin.

4) Auch wenn du zurück­schaust und siehst, was hin­ter dir liegt, wirst du leicht schwin­de­lig und ver­lierst dei­nen Fokus auf das, was ist und kommt.

5) Die klei­nen Stei­ne sind meist sehr viel rut­schi­ger als die rich­tig gro­ßen. Pass bei ihnen beson­ders auf, sie brin­gen dich zu Fall.

6) Wenn du den Weg ein­mal begon­nen hast, geht es nur in eine Rich­tung – wei­ter. Also hör auf, dir groß Gedan­ken dar­über zu machen und genieß ein­fach die Rei­se.

7) Manch­mal ist die Aus­sicht auf einer Zwi­schen­stu­fe sehr viel schö­ner als die von oben – habe kei­ne Angst, inne­zu­hal­ten und auch sie zu genie­ßen, statt gleich wei­ter zu wol­len.

8) Nur, wenn du ver­suchst, zu schnell vor­an­zu­kom­men, gerätst du ins Stol­pern.

9) Es ist so viel leich­ter, freund­lich zu ande­ren Men­schen zu sein, wenn du genau ver­stehst, was sie gera­de durch­ma­chen.

10) Selbst das mie­ses­te Brot mit dem schmie­rigs­ten Käse und halb schim­me­li­ger Wurst schmeckt fan­tas­tisch, wenn du es nach einem müh­sa­men Auf­stieg oben auf einem Berg ver­zehrst. Ergo: Je här­ter du kämpfst und des­to wei­ter du kommst, des­to weni­ger brauchst du.

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Ich pas­sie­re die­se Lek­tio­nen noch­mals im Kopf Revue, als ich am Abend kurz vor Son­nen­un­ter­gang am Lobs­ter Cover Head Light­house bei Rocky Har­bour sit­ze, auf den tra­di­tio­nel­len roten Stüh­len, und übers Meer bli­cke. Ich habe es tat­säch­lich hei­le wie­der von dem gro­ßen ein­sa­men Berg run­ter geschafft, habe nicht ein­mal einen Krat­zer im Nagel­lack in mei­nen dicken Wan­der­schu­hen bekom­men. Stolz bin ich nicht wirk­lich. Aber dank­bar. Dank­bar, dass ich alles schaf­fen kann. Wie fast jeder ande­re Mensch auch. Und dafür, dass ich das ver­stan­den habe, bevor es zu spät ist.

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Die Erde split­ter­nackt

Das größ­te geo­lo­gi­sche Wun­der des Gros Mor­ne Natio­nal­parks sind die Tab­le­lands, eine Hoch­ebe­ne, der der Gros Mor­ne Natio­nal­park in ers­ter Linie sei­nen UNESCO-Welt­na­tur­er­be-Sta­tus ver­dankt. Von der Stra­ße ist die sich röt­lich vor dem Hori­zont erhe­ben­de Ebe­ne schon von Wei­tem zu sehen. Eine wüs­ten­ar­ti­ge Mond­land­schaft, die so gar nicht ins typi­sche Bild von Neu­fund­land passt und wo die nack­te Erd­krus­te zum Vor­schein kommt.

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Die Hoch­ebe­ne besteht  aus Peri­do­ti­te, das wäh­rend des Auf­ein­an­der­pralls von Erd­schich­ten vor meh­re­ren hun­dert Mil­li­ar­den Jah­ren aus dem Erd­man­tel ent­stan­den sein soll. Da Peri­do­ti­te über weni­ge für Pflan­zen wich­ti­ge Nähr­stof­fe ver­fügt, erklärt sich das mond­glei­che Aus­se­hen – und die röt­li­che Far­be aus dem hohen Eisen­ge­halt des Gesteins. „Hier bli­cken wir in die See­le der Erde“, erklä­ren die Gui­des. Klar, dass ich mich gleich nach dem Tag auf dem ein­sa­men Berg auch auf den Weg zur See­le der Erde mache.

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Hier gehe ich noch einen Schritt wei­ter, denn jetzt gibt es noch nicht ein­mal mehr Pfa­de. Im Besu­cher­zen­trum habe ich nur eine vage Kar­te bekom­men, wie man das Gestein auf eige­ne Faust kom­plett ‚off the bea­ten track‘ erobern kann. Mit mei­nem alten Brot, zwei Was­ser­fla­schen und der Kar­te, die ich kaum lesen kann, wie die meis­ten Kar­ten, zie­he ich los. Nach einer Aus­sichts­platt­form, wo das Aben­teu­er für die ver­nünf­ti­gen Men­schen endet, die unter bewun­dern­den Aus­ru­fen die rote Wüs­te ablich­ten und dann wie­der zum Park­platz umkeh­ren, spa­zie­re ich hin­ein in die Land­schaft vol­ler Stei­ne. Aber ist es nicht oft so, dass es umso schwie­ri­ger und stei­ni­ger wird, je näher man der See­le kommt? Ich kann die erstaun­ten, gar scho­ckier­ten Bli­cke im Rücken spü­ren, doch ich schaue mich nicht um.

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Im Ver­gleich zu die­sem Nicht-Weg war der Gors Mor­ne Moun­tain fast noch ‚pea­nuts‘, wie man in die­sem Teil der Welt sagt – ein Kin­der­spiel. Ich stol­pe­re über klei­ne­re und grö­ße­re Fels­bro­cken dem Nichts ent­ge­gen, ent­lang eines mage­ren Baches. Und doch, obwohl es hier kein Leben geben soll, plät­schert das Was­ser mun­ter neben mir und zwängt sich die eine oder ande­re muti­ge Pflan­ze aus dem Gestein.

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In wei­ter Fer­ne sehe ich einen Berg mit etwas altem Schnee am Hang. Wie schön es wäre, dort hin­zu­kom­men, aber die­ses Ziel liegt natür­lich in uner­reich­ba­rer Fer­ne. Ich den­ke nicht wei­ter dar­an, weiß über­haupt nicht, ob es hier ein Ziel gibt oder nur ein Wei­ter und Tie­fer in die­se fas­zi­nie­rend raue und doch so leben­di­ge Land­schaft hin­ein. Der Weg ist mein Ziel. Wie­der tue ich einen Schritt nach dem ande­ren, freue mich an dem Was­ser, das mal brei­ter, mal schma­ler wird. Ich könn­te schrei­en vor Glück und nie­mand wür­de mich hören.

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Die Ein­sam­keit wird zu mei­nem liebs­ten Beglei­ter. Sie faselt mir nicht stän­dig dazwi­schen, wenn ich nach­den­ken möch­te, schimpft mich nicht aus, sagt mir nicht, was ich tun oder las­sen kann. Die Ein­sam­keit ist gedul­dig mit mir, lässt mich ich sein und wiegt nicht auf mei­nen Schul­tern. War­um nur haben so vie­le Men­schen Angst vor ihr? Als ich eine kur­ze Pau­se mache und mich umse­he, bekom­me ich einen Schock: Da sind doch tat­säch­lich zwei Per­so­nen unter­wegs, kom­men genau auf mich zu! Ich füh­le mich ego­is­tisch, woll­te die­ses Stück­chen Welt ganz für mich haben, sehe die bei­den als Ein­dring­lin­ge in mein Revier. Dann erspä­hen auch sie mich, win­ken mir aus der Fer­ne zu. Das stimmt mich ein wenig mil­der. Ich war­te, bis wir auf­ein­an­der sto­ßen. „Hi, ich bin Adam, das ist Steph“, stellt sich der wei­ße Typ mit Hut vor und deu­tet auf sei­ne Freun­din mit asia­ti­schem Aus­se­hen. „Bist du ganz allei­ne hier?“ Ich gebe die übli­chen Erklä­run­gen ab. Ern­te die übli­chen Bewun­de­rungs­ru­fe, dann gehen wir gemein­sam wei­ter. In Rich­tung einer Art Gip­fel, wo laut Kar­te ein Berg­see sein soll. Wir schei­nen ganz nah dran am Schnee, nach dem ich mich aus der Fer­ne gesehnt hat­te, doch wie immer in den Ber­gen trügt das Auge. Wir kra­xeln müh­sa­me 300 Meter einen geröl­li­gen Fel­sen hoch. Immer wie­der fragt das Pär­chen mich – die Exper­tin – wo es am bes­ten lang­geht.

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Irgend­wann sind wir da. Auf einer Stein­spit­ze, auf der ein über­di­men­sio­na­ler Stein­phal­lus in die Höhe ragt. Von hier über­bli­cken wir den klei­nen Berg­see und die gesam­te Hoch­ebe­ne bis zum Meer in wei­ter, wei­ter Fer­ne. Sind wir das wirk­lich alles gelau­fen? Ich kann es mir gar nicht vor­stel­len.

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„Ich wür­de so gern den Schnee da drü­ben anfas­sen“, gesteht mir Steph, die aus Malay­sia stammt, doch bereits seit vie­len Jah­ren mit ihrem Freund in Lon­don wohnt. Ich stim­me ihr begeis­tert zu, und unser Pakt ist besie­gelt – wir wer­den den Schnee berüh­ren. Adam unter­wirft sich der Frau­en­power, und schon klet­tern wir hals­bre­che­ri­sche Fel­sen wie­der hin­ab, immer näher ran an die dicke Schnee­schicht, die sich über einen Teil der Fel­sen zieht. Noch nie habe ich mit­ten im Juli, bei schöns­ter Som­mer­hit­ze, so viel Schnee vor mir gese­hen. Er fühlt sich unter mei­nen Fin­gern ein biss­chen an wie das Stück uralten Eis­ber­ges, das ich noch vor weni­gen Tagen in der Hand – und im Mund – hat­te. Wir schie­ßen vol­ler Begeis­te­rung und Stolz unse­re Fotos, dann geht es an den müh­sa­men Abstieg.

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Dort, wo uns ein paar weni­ger Mücken umschwär­men als oben auf dem Berg, set­zen wir uns ab und pick­ni­cken. Mein älter wer­den­des Brot schmeckt noch immer her­vor­ra­gend. Steph erzählt, dass sie auf einer sie­ben­wö­chi­gen Rei­se quer durch Kana­da mit dem Miet­wa­gen sei­en. Ein biss­chen benei­de ich die bei­den, hät­te ich doch auch ger­ne so viel Zeit in die­sem rie­si­gen Land, das mir Gefüh­le von Frei­heit beschert wie kein ande­res bis­her. „Ich arbei­te als Mana­ge­rin bei einer Bank, das ist so lang­wei­lig. Dies ist unser ers­ter Urlaub seit Jah­ren“, fügt Steph hin­zu. Mein Neid­ge­fühl ver­pufft. Nein, ich habe kei­nen Grund, mich zu beschwe­ren. Ich begin­ne, Jahr für Jahr mein Leben mehr so zu leben, wie ich es mir erträumt habe. Als Rei­se­jour­na­lis­tin- und autorin. Ich habe die Frei­heit, immer und immer wie­der los­zu­zie­hen, Orte wie die­se zu erle­ben, sie mit jeder Pore zu spü­ren und dann ande­ren davon zu erzäh­len, wie toll es war. Ich sit­ze hier und arbei­te, und ich wür­de für kein Geld der Welt jemand anders oder etwas ande­res sein wol­len.

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Als wir nach wei­te­ren Stun­den des Abstiegs am Aus­gangs­punkt ankom­men und unse­re qual­men­den Füße in den Bach hal­ten, sieht mich Adam von der Sei­te an. „Als wir dich vor­hin allein in der Stein­wüs­te ent­deckt haben, dach­ten wir, dass du echt mutig sein musst. Oder echt dumm.“ Er lacht. Ich den­ke lan­ge über die Defi­ni­ti­on von dumm nach und kom­me zu dem Schluss, dass Dumm­heit oft nur eins bedeu­tet: Dass man ein­fach das macht, vor dem ande­re Angst haben.

Lich­tet die Anker!

Die letz­te Nacht schla­fe ich in einem Cot­ta­ge in Wil­ton­da­le, direkt am High­way und auf hal­ber Stre­cke zum Deer Lake Flug­ha­fen, zu dem ich am nächs­ten Abend zurück­keh­ren muss. LuAnn, die Besit­ze­rin, begrüßt mich über­schwäng­lich, als wäre ich eine alte Freun­din, auf die sie schon lan­ge gewar­tet hat. „Ich habe dir sogar ein grö­ße­res Cot­ta­ge gege­ben, weil es gera­de frei war“, strahlt sie.

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„Wir gril­len heu­te im Gar­ten, du kannst gern dazu­kom­men, wenn du magst.“ Ger­ne wür­de ich, aber ich habe bereits ein Date – mit Anchors Aweigh, der anschei­nend belieb­tes­ten Band des Gros Mor­ne Natio­nal­parks oder der West­küs­te all­ge­mein. Selbst in St. John’s kann­te jeder Anchors Aweigh, und alle bestan­den dar­auf, dass ich mir ein Kon­zert im Oce­an View Hotel in Rocky Har­bour unbe­dingt anse­hen müs­se. Dank mei­ner Kon­tak­te zur Tou­ris­mus­be­hör­de bin ich in letz­ter Minu­te noch an ein Ticket gekom­men, und so fah­re ich nach der Hoch­land-Wan­de­rung mit bren­nen­den Rei­fen zurück nach Rocky Har­bour, um die­se fünf älte­ren Her­ren live zu erle­ben.

Die klei­ne Bar des Hotels platzt bereits aus allen Näh­ten, als ich ein­tre­te, und eine freund­li­che Kell­ne­rin sieht mich skep­tisch an. „Bist du ganz allein?“ Sie kann sich beim bes­tem Wil­len nicht vor­stel­len, dass ich mich mit wild­frem­den Men­schen an einen Tisch set­zen möch­te, doch genau das möch­te ich. So lan­de ich bei einer sechs­köp­fi­gen Fami­lie aus Deer Lake – drei Geschwis­ter und die jewei­li­gen Part­ner.

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Kathy neben mir möch­te alles über mich wis­sen – was ich denn hier allein mache, wie mir Neu­fund­land gefal­le. Wäh­rend ich auf mein Fish & Chips war­te, schie­ben mir die sechs die Res­te ihres Fin­ger Foods rüber, und ich grei­fe dank­bar zu, bin ich doch bis unter die Ach­seln aus­ge­hun­gert. „Es ist so schön, dass du hier bist“, raunt mir Kathy zu, und wäh­rend des Abends brin­gen sie und ihre Schwes­tern mir immer wie­der einen Drink mit, wenn sie zur Bar gehen.

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Der Rum­mel um die 21 Jah­re alte Grup­pe Anchors Aweigh hat sei­nen Grund. Way­ne, der Lead­sän­ger, bringt alle mit sei­nem tro­cke­nen Humor sofort in Schwung. End­lich, am Ende mei­ner Rei­se, ver­ste­he ich auch, war­um Lar­ry des Öfte­ren sag­te „Dies ist nicht Dis­ney­land, dies ist New­found­land“. Ich ging davon aus, dass er schlicht­weg über einen Ort sprach, der einen immer wie­der in Stau­nen ver­setzt. „Kennt ihr die Wer­bung der Tou­ris­mus­be­hör­de von Neu­fund­land und Labra­dor?“, ruft Way­ne in die Run­de. Außer der Fami­lie an mei­nem Tisch ist nie­mand aus Neu­fund­land, kei­ner kennt die Wer­bung. „Dar­in seht ihr die schöns­ten Bil­der von Neu­fund­land, und am Ende kommt der Slo­gan ‚Whe­re is this place? It’s as far away from Dis­ney­land as you can pos­si­bly get.’ Und das ist auch gut so! Wisst ihr war­um?” Alle schüt­teln den Kopf. „In Neu­fund­land freu­en wir uns ehr­lich über Besu­cher. In Dis­ney­land freu­en sie sich auch über Besu­cher, aber dann kön­nen sie es nicht erwar­ten, eure Ärsche wie­der drau­ßen zu sehen. Hier nicht, hier kom­men wir sogar zu euch und rei­ben eure Ärsche für euch!“

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Dann wer­den vie­le, vie­le Lie­der gespielt. Die schö­ne, irisch ange­hauch­te Musik, die mir jedes Mal so gut gefällt. Auch ein Hit mit dem Ugly Stick ist natür­lich dabei, immer unter­bro­chen von Way­nes Anek­do­ten und Wit­zen über Neu­fund­land und die Welt.

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Sogar erns­te The­men wie den Fische­rei­stopp von 1992 haben die Musi­ker in einem trau­ri­gen Lied ver­ar­bei­tet, ‚The gre­at fog­gy day‘. Die letz­te Drei­vier­tel­stun­de ver­geht damit, dass die Grup­pe für jede Pro­vinz in Kana­da, aus der Besu­cher vor Ort sind, ein pas­sen­des Lied spielt. Das­sel­be für die Staa­ten der USA, denn an die­sem Abend sind beson­ders vie­le Ame­ri­ka­ner dabei. Wir wun­dern uns schon, dass die fünf für wirk­lich jeden Staat sofort den pas­sen­den Song parat haben – bis jemand „South Dako­ta“ ruft. Die Musi­ker sehen sich an, berat­schla­gen, doch nichts. Way­ne ergreift das Mikro­fon. „Sor­ry, South Dako­ta, we’ll have to come down and rub your asses for you!“ Ich bin die ein­zi­ge Euro­päe­rin im Publi­kum und erre­ge augen­blick­lich das Inter­es­se von Sän­ger Wade, der mit mir in arg impro­vi­sier­tem Deutsch zu plau­dern beginnt. Dann bekom­me ich ‚Rock you like a hur­ri­ca­ne‘ von den Scor­pi­ons. Kathy neben mir jauchzt vor Freu­de, dass ich auf ihrer Hei­mat­in­sel sol­chen Spaß habe.

Nach dem Kon­zert möch­te Kathy unbe­dingt mei­ne Face­book-Freun­din wer­den, ihre Schwes­tern auch. Und Wade, der will mit ‚Ger­man girl‘ spre­chen. Sei­ne Fah­ne nach Rum-Cola, von denen er min­des­tens sechs getrun­ken hat, schlägt mir ent­ge­gen. „Kannst du mich nach Hau­se fah­ren?“, bit­tet er mich schließ­lich, als sei­ne Kum­pels nach zehn Minu­ten auf ein­mal weg sind – und damit auch sein Fah­rer. Also kom­me ich noch in den Genuss, mit­ten in der Nacht einen der berühm­tem Anchors Aweigh-Sän­ger nach Hau­se zu chauf­fie­ren, doch eine sehr unmiss­ver­ständ­li­che Ein­la­dung ins Haus­in­ne­re muss ich dann doch ableh­nen und fah­re lie­ber zurück zum Cot­ta­ge, das unter Mil­li­ar­den von Ster­nen am voll­kom­men lee­ren High­way auf mich war­tet.

Long may your big jib draw

Oft­mals über­kommt mich am letz­ten Tag einer wun­der­schö­nen Rei­se eine gewis­se Trau­rig­keit, dass es nun vor­bei sein soll. Die­ses Mal ist es nicht anders. Auf vie­ler mei­ner Rei­sen las­se ich ein klei­nes Stück mei­nes Her­zens zurück, doch ich spü­re, dass es die­ses Mal ein etwas grö­ße­res ist.

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Den letz­ten Tag lau­fe ich bei noch immer strah­len­dem Son­nen­schein und hoch­som­mer­li­chen Tem­pe­ra­tu­ren, die laut LuAnn nur für mich bestellt sei­en – der Juni sei ein erbärm­li­cher Monat gewe­sen – zu den Green Gar­dens, einem Küs­ten­pfad hin­term Hoch­land, der mit sei­nen satt grü­nen Wäl­dern und Wie­sen kei­nen grö­ße­ren Kon­trast zu den öden Tab­le­lands dar­stel­len könn­te. Auf einem Schild am Ein­gang wird vor mög­li­chen Bären in der Gegend gewarnt, doch wie immer sehe ich keins der angeb­lich so gefähr­li­chen Tie­re.

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Auf den Fel­sen unten am Meer kom­men mir Scha­fe ent­ge­gen, unter mir tost der Atlan­tik, zwei rote Stüh­le ste­hen für mich bereit. Ich set­ze mich, lau­sche dem Meer, dem Blö­ken in der Fer­ne.

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Wenig spä­ter ste­he ich vor einem Schild – der Rest des Weges ist gesperrt, es gibt Erd­rutsch­ge­fahr. Es ist in Ord­nung. Ich muss nicht jeden Weg bis zum Ende gehen, auch wenn mich die Neu­gier immer wei­ter­treibt. Manch­mal ist es schön, ein­fach auf der Mit­te inne­zu­hal­ten, sich ins Gras zu wer­fen, die Wan­der­stie­fel und Klei­der abzu­wer­fen und die Son­ne auf dem ver­schwitz­ten Kör­per zu spü­ren.

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„Wo wirst du denn duschen?“, hat mich LuAnn am Vor­abend gefragt, als ich ihr erzähl­te, dass ich nach die­ser letz­ten Wan­de­rung um 20 Uhr am Flug­ha­fen sein müs­se, um zurück nach St. John’s zu flie­gen und von dort nach Deutsch­land. Mei­ne Ent­schei­dung, ver­schwitzt und stin­kend zu rei­sen, konn­te sie nicht bil­li­gen und nötig­te mich, ihre Ein­la­dung, bei ihr zu Hau­se zu duschen, anzu­neh­men. „Ich las­se die Tür ein­fach offen, falls wir nicht da sind, und ein Hand­tuch lege ich dir auch raus. Komm ein­fach rein.“ Noch ahne ich nicht, dass ich fast mei­nen Flie­ger ver­pas­sen wer­de, weil LuAnn und ihr Mann Car­ter natür­lich doch zu Hau­se sind, mir noch unbe­dingt Fotos von Gros Mor­ne im Schnee zei­gen müs­sen und von ihrem Schnee­mo­bil – mit den zuge­hö­ri­gen Anek­do­ten. Noch den­ke ich nicht an die vie­len schlaf­lo­sen Stun­den vor, über und hin­ter dem Atlan­tik, die mich erwar­ten. Weil ich jetzt erst­mal hier bin. Einen Schritt nach dem ande­ren in Angriff neh­me. Und mein momen­ta­ner Schritt besteht aus Gras, das mei­nen Rücken weich bet­tet, aus Son­ne, die mich von Kopf bis Fuß badet. Und aus Glück, das sich wie eine kusche­li­ge Decke über mir aus­brei­tet. „Long may your big jib draw, New­found­land.“ Wer braucht schon Dis­ney­land?

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Antworten

  1. Avatar von Klaus-Peter Baumann
    Klaus-Peter Baumann

    Wir sind noch gar nicht los­ge­fah­ren und den­noch schon ganz »voll« von dem, was wir gehört, gese­hen und gele­sen haben. Aller­dings sind wir auch vom Kana­da-Virus infi­ziert (Vancouver/Vancouver-Island–Toronto/Ottawa/Montreal/Quebec/Gaspé/Algonquin) und freu­en uns wie ver­rückt auf »Atlan­tik-Kana­da«.…..
    Wäre doch bloß schon Juni 2019 !

    Ampa­ro & K‑P. Bau­mann

    1. Avatar von Bernadette

      Das kann ich gut ver­ste­hen, und zumin­dest für Neu­fund­land kann ich sagen, dass ihr bestimmt nicht ent­täuscht sein wer­det. Genießt die Vor­freu­de

  2. Avatar von Bernadette Olderdissen

    Hi Wen­ke, wie schön, dass dir Neu­fund­land genau­so super gefal­len hat wie mir 🙂 Ich träu­me auch immer noch davon, war eine der ent­spann­tes­ten Rei­sen, die ich je gemacht habe.

  3. Avatar von Wenke
    Wenke

    Hi Ber­na­dette,
    Ich kom­me gera­de zurück aus New­found­land – und fin­de mich in dei­ner Begeis­te­rung wie­der. Die Herz­lich­keit der Men­schen, die vie­len klei­nen Begeg­nun­gen, die raue Land­schaft, den geröl­li­gen Anstieg auf Gros Mor­ne und natür­lich das irre Tab­le­lands, das gemüt­li­che St. John’s – ich könn­te sofort wie­der hin. Die Tou­ris­ten­mas­sen kön­nen sich gern wei­ter in den Rockies sta­peln.

  4. Avatar von Gisela Voß-Goerge
    Gisela Voß-Goerge

    Lie­be Ber­na­dette,
    sooo schön geschrie­ben und sooo tol­le Fotos!!!
    Das bekom­me ich auch Lust auf Neu­fund­land. Mich hat auch der Cana­da-Virus erwischt, daher war ich schon drei­mal in die­sem tol­len Land (BC, Alber­ta, Yukon/​Alaska).
    Wün­sche dir, dass du noch vie­le sol­cher schö­nen Rei­sen machen kannst!✌
    LG Gise­la

    1. Avatar von Bernadette

      Vie­len Dank, lie­be Gise­la, ich habe mich sehr über dei­nen net­ten Kom­men­tar gefreut. Neu­fund­land kann ich dir wirk­lich unein­ge­schränkt emp­feh­len, wür­de dir als Kana­da-Fan bestimmt super gefal­len 🙂 Ich hof­fe auch, es wer­den noch vie­le sol­cher tol­len Rei­sen fol­gen. LG (im Moment aus Hok­kai­do, Japan ;)) Ber­na­dette

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