Mexiko, Novem­ber 2009.

Der Herbst geht zu Ende und die Men­schen in der Stadt begin­nen, sich auf die Weih­nachts­zeit vor­zu­be­rei­ten. Ich arbeite an einer Repor­tage über Men­schen, die aus den USA in die nord­me­xi­ka­ni­sche Grenz­stadt abge­scho­ben wor­den waren. Viele von ihnen leben mit­tel­los auf der Straße, der schmut­zige Kanal, der die Stadt durch­quert, ist ihr Zuhause.Um in den Kanal zu gelan­gen, muss man eine Schnell­straße über­que­ren. Irgend­wie ver­su­chen, zwi­schen den Autos durch­zu­kom­men, auf die andere Stra­ßen­seite lau­fen. Dort sit­zen sie, die abge­scho­be­nen Men­schen, die man in der Stadt ein­fach nur Indo­cu­men­ta­dos nennt. Trau­rige See­len, deren Leben sich anders ent­wi­ckelt hat, als sie es sich vor­ge­stellt hat­ten. Ich warte auf eine Lücke in der Auto­ko­lonne, durch die ich hin­durch­hu­schen kann.In die­sem Moment sehe ich ein Poli­zei­auto den Kanal ent­lang­ra­sen. Vor den Män­nern bleibt es ste­hen. Alles geht unglaub­lich schnell, wie ange­wur­zelt stehe ich auf der ande­ren Seite der Schnell­straße und beob­achte aus der Ferne, was im Kanal geschieht. Die Schlag­knüp­pel der Poli­zis­ten knal­len auf die nack­ten Beine der Indo­cu­men­ta­dos. Einer von ihnen springt auf die Straße, stößt bei­nahe gegen einen LKW. Der Len­ker kann gerade noch brem­sen und der junge Mann ver­schwin­det zwi­schen den schüt­zen­den Häu­ser­schluch­ten. Jene, die nicht flie­hen kön­nen, wer­den fest­ge­nom­men, einem Rich­ter vor­ge­führt. Die Meis­ten wer­den die Nacht im Gefäng­nis ver­brin­gen. An die­sem Tag laufe ich nicht über die Schnell­straße. Im Kanal ist nie­mand mehr, mit dem ich über sein Leben spre­chen könnte.

Am nächs­ten Tag gehe ich wie­der zum Kanal. Die Indo­cu­men­ta­dos von ges­tern sind wie­der da, also über­quere ich die Schnell­straße, um mit ihnen zu reden. Sie erklä­ren mir, dass die Poli­zei öfters in den Kanal kommt und so viele wie mög­lich will­kür­lich fest­nimmt. Wegen der Quo­ten. Ich erzähle ihnen, dass ich am Vor­tag gese­hen habe, wie die Poli­zei sie geschla­gen hat. Einer der Män­ner schiebt das Hosen­bein nach oben und zeigt mir einen blauen Fleck. Ich frage ihn, ob ich die­sen foto­gra­fie­ren dürfte. Er bejaht. Ich mache das Foto. Als ich wie­der auf­schaue, lau­fen dem jun­gen Mann Trä­nen über die Wan­gen. Ich frage ihn, ob alles okay wäre. Er erklärt mir, dass es unglaub­lich viele Vor­ur­teile ihnen gegen­über gebe, dass nie­man­den inter­es­sie­ren würde, was wirk­lich los wäre. Er wischt sich die Trä­nen von den Wan­gen. “Du bist die Erste, die mich fragt, warum ich auf der Straße lebe”, sagt er leise.

Cate­go­riesMexiko
Hanna Silbermayr

Oft sind es die kleinen Dinge, die uns zum Staunen bringen. Begegnungen und Gespräche, die zum Nachdenken anregen, uns einen Moment innehalten lassen in einer Welt, die sich immer schneller zu drehen scheint, uns ein Lächeln entlocken.

Solche Momente möchte ich nicht für mich behalten, sondern mit Euch teilen. Ich, das ist eine ausgebildete Grafikdesignerin, studierte Romanistin und Politikwissenschaftlerin, die im Namen des Journalismus immer wieder in Lateinamerika unterwegs ist. Demnächst wohnungslos und in stetiger Bewegung.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert