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Wohin die Stiefel mich tragen

Paris, Roissy Air­port, 1980 

Die Stie­fel sind gut zwei Num­mern zu groß, aus schwe­rem Leder mit dicker Sohle, hand­ge­macht, vom Schus­ter mei­nes Stadt­vier­tels. Trotz­dem fühle ich mich darin kein biss­chen klo­big. Im Gegen­teil: eine nicht gekannte Leich­tig­keit beflü­gelt mein Herz als ich den Bus ver­lasse und mei­nen grü­nen Ruck­sack mit dem schwe­ren Metall­ge­stänge schul­tere. Das grobe Schuh­werk über den zu dün­nen Bei­nen gibt mir siche­ren Halt und das gute Gefühl, zuver­läs­si­gen Kon­takt zur Erde zu haben. Auch wenn ich noch auf dem zube­to­nier­ten Grund Abflug­halle Paris-Roissy stehe. Noch.

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Schon bald sol­len mich diese Stie­fel tro­cke­nen Fußes durch Urwald­flüsse brin­gen. Im hohen Gras der Tro­pen wer­den sich Gift­schlan­gen die Zähne am har­ten Leder aus­bei­ßen und in den Anden auf 4000 Meter Höhe wer­den mich die dicken Soh­len vor Stei­nen, Geröll und Dor­nen schüt­zen. Wohl­wol­lend betrachte ich meine neuen Stie­fel. Schick sind sie nicht und in Paris alle­mal unge­wöhn­lich. Schwer sind sie. Schon des­halb werde ich sie unter­wegs immer tra­gen. Damit ich sie nicht schlep­pen muss.

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Stark und sta­bil stehe ich in mei­nen neuen Stie­feln am Check-Inn wäh­rend um mich herum flat­ter­hafte Betrieb­sam­keit herrscht. Men­schen bli­cken ner­vös auf ihre Uhren. Män­ner tra­gen Akten­kof­fer geschäf­tig hin und her, so als hät­ten sie Drin­gen­des zu tun. Gepä­cke wer­den geschleppt, gezo­gen. Eine ältere Dame sucht ver­zwei­felt nach ihrem Flug­ti­cket. Laut­spre­cher­durch­sa­gen mel­den den klei­nen Henri, der seine Mut­ter sucht und Ankom­mende, die ihre Abho­ler nicht fin­den. Laut­spre­cher kräch­zen und rufen last calls aus.

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Inmit­ten die­ser plan­mä­ßi­gen Unruhe fühle ich mich selt­sam ruhig. So ruhig wie noch nie. Alles ist gerade per­fekt. Ich muss nichts mehr tun, nicht mehr über­le­gen und nichts ent­schei­den. Es ist, als hätte die Zeit ange­hal­ten. Ich stehe da und atme und fühle mich groß­ar­tig. Ich bin Anfang Zwan­zig, fühle mich unsterb­lich, habe Zeit ohne Ende, keine Ver­pflich­tun­gen, keine Ver­ab­re­dun­gen, nicht ein­mal eine Flug­re­ser­vie­rung. Ich fliege Stand By. Das war bil­li­ger. Gibt es einen Platz, fliege ich um 14 Uhr nach Cayenne, Fran­zö­sisch Guyana. Gibt es kei­nen, fliege ich mor­gen, oder über­mor­gen. Und zwar nur hin. Es ist ein One-Way-Ticket.

Ich habe auch kei­nen mate­ri­el­len Bal­last mehr: keine Woh­nung, um die ich mich küm­mern müsste, keine Rech­nun­gen, die bezahlt wer­den müss­ten, keine Ver­träge, die ein­ge­hal­ten wer­den müs­sen. Alles was ich habe ist still gelegt. Aus­zeit von mei­nen Sachen. Bücher und Klei­der in Kis­ten ver­staut, vie­les ver­schenkt und ande­res weg­ge­wor­fen. Alles was ich noch habe sind zehn Kilo geplan­ter Nütz­lich­keit, ver­staut in einem grü­nen Ruck­sack mit Metall­ge­stänge. Tage­lang habe ich hin und her geräumt und gerückt, die­ses rein, jenes raus, ent­schie­den und wie­der ver­wor­fen. Zuletzt kamen fein säu­ber­lich auf eine Liste (Ja, auf eine Liste) und in den Ruck­sack: eine Jeans, eine Ber­muda-Shorts, vier T‑Shirts, Unter­wä­sche, vier Paar Strümpfe, ein Tro­pen­hemd lang­är­me­lig, ein Bikini, was­ser­feste San­da­len, ein Bett­be­zug zum rein­schlüp­fen wegen der Wan­zen, ein Mos­ki­to­netz wegen der Mücken, eine Kamera und vier Film­rol­len. Zuletzt eine Wäsche­leine und vier Wäsche­klam­mern sowie ein Stück Kern­seife, Zahn­pasta und Zahn­bürste. Um den Bauch, direkt auf der Haus, trage ich einen selbst­ge­näh­ten Geld­gür­tel. Darin 2500 US-Dol­lar in Tra­vel­ler-Schecks und 500 Dol­lar cash, sorg­fäl­tig ein­ge­wi­ckelt in Frisch­hal­te­fo­lie, damit sich die Scheine nicht auf­lö­sen wenn ich schwitze. In mei­nem frisch aus­ge­stell­ten Rei­se­pass prangt ein Visum für Fran­zö­sisch Guyana. Von dort aus soll es durch Süd-und Mit­tel­ame­rika gehen. Es gibt keine Rei­se­route. Frü­hes­tens in einem Jahr will ich zurück sein. Wenn überhaupt.

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Das war 1980. Ich bin nach einem Jahr zurück­ge­kom­men. Ein biss­chen geblie­ben und dann wie­der los. Mal für kurz, mal für län­ger. Mal beruf­lich, mal nur so. Und jedes Mal wenn ich am Flug­ha­fen stehe und ein­che­cke erin­nere ich mich an die­ses wun­der­bare erste Mal, an das voll­kom­mene Gefühl von Frei­heit und Lebens­lust, an die­ses unein­ge­schränkte und vor­be­halt­lose „Ja“ zum Leben. Und bin erstaunt, dass es sich nicht abnutzt, die­ses Gefühl, die Neu­gier und Lust am Reisen.

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Cate­go­riesWelt
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Gitti Müller

Mein erster Anfall von Fernweh hat mich 1980 ein Jahr lang als Backpackerin nach Südamerika geführt. Damals wog so ein Rucksack noch richtig viel und das Reisen war beschwerlich. Seitdem kann ich es einfach nicht lassen. Heute habe ich vor allem einen Laptop und meine DSLR im Gepäck. Als Fernseh-Journalistin und Ethnologin komme ich viel rum aber in Lateinamerika fühle ich mich einfach wie zu Hause. Damit ich auch in abgelegenen Andenregionen ein Schwätzchen mit den Leuten halten kann habe ich die Indianersprachen Aymara und Quechua gelernt.
Im Mai 2017 hat der Piper-Verlag mein Buch "Comeback mit Backpack - Eine Zeitreise durch Südamerika" herausgebracht (ISBN-10: 3890291422, 272 Seiten mit Fotos) Es erzählt von meinen Reisen in analogen und in digitalen Zeiten.

  1. Ich lese die­sen Text und dabei machen sich meine Gedan­ken auf den Weg, sie zie­hen meine Beine mit und las­sen dem Her­zen keine Wahl, als ein­fach mitzukommen.
    Das Leder und die Soh­len der Stie­fel, bei­des ist haut­nah zu spüren. 

    „Would­n’t it be good to be in your shoes
    Even if it was for just one day?
    Would­n’t it be good if we could wish our­sel­ves away?“

    Danke für diese Reise zurück zum Anbe­ginn dei­nes Rei­sens, liebe Gitti.

    1. gitti says:

      Das Gute am inne­ren Rei­se­schuh ist ja, das er kei­nen Schus­ter braucht. Wir kön­nen immer wie­der los. Danke für dei­nen poe­ti­schen Kom­men­tar lie­ber Rainer!

  2. Beatrice says:

    Liebe Gitti, schön beschrie­ben! Und das Gefühl kann ich sehr, sehr gut nach­voll­zie­hen. Ich ver­su­che auch immer bei beson­de­ren Momen­ten unter­wegs inne­zu­hal­ten, damit ich mich hin­ter­her noch gut daran erin­nern kann. Hof­fent­lich kom­men Deine Stie­fel noch oft zum Ein­satz. Sei ganz herz­lich gegrüßt, Beatrice

    1. gitti says:

      Danke Bea­trice, die Ori­gi­nal­stie­fel sind es nicht mehr…aber ich bin immer noch mit schwe­ren Boots unter­wegs. die pas­sen immer und überall.

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