Wie wir Orte nutzen

»Wir gehen unten rum, da tau­chen die Stei­ne so impo­sant vor uns auf!« Man soll­te mei­nen, nach einer sol­chen Ankün­di­gung wird jede Sehens­wür­dig­keit weni­ger beein­dru­ckend. Und doch: Als wir aus dem klei­nen Wald­stück her­aus­tre­ten und zwi­schen den Blät­tern vor uns auf ein­mal die Fel­sen­tür­me empor­ra­gen sehen, kom­men wir aus dem Stau­nen erst ein­mal nicht mehr her­aus.

Die Extern­stei­ne im Teu­to­bur­ger Wald leben wohl von ihrem Über­ra­schungs­ef­fekt: Sie erhe­ben sich so plötz­lich aus dem umlie­gen­den Wald, dass man über­haupt kei­ne Vor­stel­lung davon hat, wie sie ent­stan­den sein könn­ten. Als hät­te jemand die Stei­ne vor lan­ger Zeit bestellt und ver­ges­sen, sie irgend­wo zu ihren Art­ge­nos­sen zu brin­gen. Oder als wären ein paar rie­si­ge Wan­de­rer auf dem Weg von Han­no­ver nach Pader­born ver­stei­nert wor­den.

Drei­zehn ein­zel­ne, rela­tiv frei ste­hen­de Fel­sen, der höchs­te ragt bei­na­he fünf­zig Meter in die Luft. Ero­si­ons­pro­zes­se haben unge­wöhn­li­che, teils bizarr anmu­ten­de For­men hin­ein­ge­schlif­fen.

So weit die Fak­ten. Doch klar, dass es bei so einem unge­wöhn­li­chen Natur­wun­der nie­mals bei den rei­nen Fak­ten bleibt.

Was machen wir Menschen aus den Orten, die uns umgeben?

Jeder Ort ist zunächst ein­mal »da«. Wäh­rend Bau­wer­ke mit einer bestimm­ten Ziel­set­zung hoch­ge­zo­gen wur­den, waren Wäl­der, Ber­ge, Fel­sen oder Seen nur dem Zufall der Natur unter­wor­fen. Doch egal, ob Ziel oder Zufall – jeden Ort, den wir betre­ten oder an den wir her­an­tre­ten, laden wir mit Bedeu­tung auf. Klar, vie­le Gebäu­de brin­gen von sich aus schon eine Bedeu­tung mit, sie sind zum Woh­nen, zum Kunst­aus­stel­len oder für die Ver­wal­tung gedacht, sie sind das Geburts­haus einer berühm­ten Per­son oder haben den Bal­kon an der Wand, von dem mal ein bekann­ter Poli­ti­ker sprach.

Auch, wenn in Städ­ten und gene­rell bei Bau­wer­ken jedes ein­zel­ne für jeden von uns sehr unter­schied­li­che Bedeu­tun­gen haben kann: Wie sehr wir die Bedeu­tung von Orten selbst kon­stru­ie­ren, lässt sich am bes­ten in der Natur beob­ach­ten. Hier gibt es kei­nen Stadt­pla­ner, der sei­ne Vor­stel­lun­gen einer gemüt­li­chen Sitz­ecke oder eines reprä­sen­ta­ti­ven Plat­zes mit­ten in den Ort stellt. Es gibt kei­nen Sinn und kei­nen Zweck. Doch wir Men­schen schaf­fen es, über­all einen zu fin­den – oder, bes­ser gesagt, einen zu kre­ieren.

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Die Externsteine als Heiligtum?

Archäo­lo­gi­sche Fun­de bewei­sen, dass Men­schen die Stei­ne bereits 10.000 vor Chris­tus auf­ge­sucht haben. Zu wel­chem Zweck, dar­über lässt sich höchs­tens mut­ma­ßen. Es gibt Astro­no­men, die anneh­men, dass die Stei­ne zu die­ser Zeit bereits zur Him­mels­be­ob­ach­tung ver­wen­det wur­den. Denn durch ein Loch auf der Spit­ze eines der Fel­sen lässt sich nicht nur die Son­nen­wen­de beob­ach­ten (was theo­re­tisch durch jedes nach Osten gerich­te­te Fens­ter mög­lich wäre), son­dern alle acht­zehn Jah­re sieht man durch das Loch zudem per­fekt den Mond.

Die Son­nen­wen­de, das kann jeder – und das mag Zufall sein. Doch ein Loch per­fekt so aus­zu­rich­ten, dass man damit den Mond auf sei­ner nörd­lichs­ten Bahn erkennt, die er nur alle acht­zehn bis neun­zehn Jah­re erreicht?! Das wirft die Idee auf, die Extern­stei­ne wären damals als Stät­te der Mond­ver­eh­rung genutzt wor­den.

In den Grot­ten, die unter den Fel­sen aus­ge­höhlt sind, kann man kla­re­re Ant­wor­ten auf die vie­len Fra­gen geben, die die Extern­stei­ne umhül­len: Durch Ana­ly­sen der Wir­kung von Licht auf die Gestei­ne konn­te man zumin­dest ziem­lich sicher fest­stel­len, dass irgend­wann zwi­schen dem 6. und dem 10. Jahr­hun­dert hier zum ers­ten Mal Feu­er gelegt wur­de.

Im Mit­tel­al­ter begann man damit, Reli­ef­bil­d­er in die Fel­sen zu schla­gen und damit christ­li­che Moti­ve auf den Wän­den zu ver­ewi­gen. Kunst­his­to­ri­ker strei­ten sich noch immer dar­über, wann genau dies gewe­sen sein mag. Eine Wei­hin­schrift in der Grot­te nennt die Zahl 1115, doch auch über deren Echt­heit ist viel dis­ku­tiert wor­den.

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Die Externsteine als Erholungsort

Im 19. Jahr­hun­dert began­nen die Men­schen in Deutsch­land, den Wert der Natur als Erho­lungs­ort zu begrei­fen. Doch wei­te und anstren­gen­de Wan­de­run­gen woll­te man damals so gut wie ver­mei­den – und man hat­te ein ganz ande­res, stär­ker nach Ästhe­tik suchen­des Ver­ständ­nis von Natur. Vor den Stei­nen wur­de daher der Wiem­be­cke­t­eich aus einem Bach auf­ge­staut, in dem sich die Fel­sen heu­te noch spie­geln. Man leg­te nicht nur Wan­der­we­ge an, son­dern 1912 sogar eine Stra­ßen­bahn, die bis 1935 mit­ten zwi­schen den Fel­sen hin­durch­fuhr und dort sogar eine Hal­te­stel­le hat­te.

Seit­dem ist die Bedeu­tung der Extern­stei­ne für Wan­de­rer und Tou­ris­ten ver­mut­lich nie abge­ris­sen. Heu­te ver­lau­fen zwei Fern­wan­der­we­ge an den Stei­nen ent­lang – sowie unzäh­li­ge kur­ze Rund­wan­der­we­ge durch den Teu­to­bur­ger Wald. Die Natur rund um die Fel­sen wur­de zum Schutz­ge­biet erklärt. Das 1875 erbau­te Her­manns­denk­mal, das pro Jahr von meh­re­ren hun­dert­tau­send Men­schen besich­tigt wird, steht nur etwa acht Kilo­me­ter ent­fernt – und dane­ben gibt es heu­te sogar einen Klet­ter­wald.

Die Externsteine als »Kraftort«

»Für man­che Leu­te ist das hier ein ›Kraft­ort‹. Die kom­men dann mit Wün­schel­ru­ten oder Trom­meln«, erklärt unser Gui­de. Vor Kur­zem sei eine Grup­pe Archi­tek­ten mit Wün­schel­ru­ten ange­reist, die dem Ort eine hohe Ener­gie­kon­zen­tra­ti­on attes­tiert hät­ten. So lus­tig das klingt, beson­ders zu tra­di­tio­nel­len Fes­ten wie der Wal­pur­gis­nacht im April oder der Som­mer­son­nen­wen­de haben die Leu­te, die die Extern­stei­ne bewah­ren möch­ten, ein ech­tes Pro­blem. Regel­rech­te Zelt­la­ger wur­den in der Ver­gan­gen­heit hier ver­an­stal­tet, die Eso­te­ri­ker-Tref­fen hier sind wohl die größ­ten in Deutsch­land. Um die Stei­ne vor Van­da­lis­mus (und ver­mut­lich auch die Gäs­te vor dem Her­un­ter­fal­len) zu schüt­zen, sind Zel­te, Alko­hol und Lager­feu­er zur Som­mer­son­nen­wen­de und zur Wal­pur­gis­nacht seit 2010 ver­bo­ten.

Im All­ge­mei­nen wird die mys­ti­sche Atmo­sphä­re der Stei­ne und ihre Beliebt­heit bei Eso­te­ri­kern jedoch auch mar­ke­ting­tech­nisch genutzt. Es wer­den »mys­ti­sche Rund­gän­ge« ange­bo­ten und Kur­se zur »bewuss­ten Selbst­er­fah­rung« in der Natur.

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Die Externsteine als germanisches Heiligtum

Eine wei­te­re Grup­pe, die die Stei­ne für sich nutzt, wirft ein etwas düs­te­re­res Licht dar­auf: Im Zuge des Gedan­kens, in der Anti­ke müs­se eine »ger­ma­ni­sche Hoch­kul­tur« vor den Hoch­kul­tu­ren des Mit­tel­meer­raums exis­tiert haben, nah­men sich die Natio­nal­so­zia­lis­ten alter Kult­stät­ten und Hei­lig­tü­mer an. Hein­rich Himm­ler, der eine gro­ße Begeis­te­rung für alles Ger­ma­ni­sche hat­te, grün­de­te eine »Extern­stein-Stif­tung«, die die Fel­sen zu einem »Hei­li­gen Hain« umge­stal­ten soll­te. Um Bele­ge für eine vor­christ­li­che Kult­stät­te zu fin­den, führ­te man archäo­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen durch.

1945 war es mit der Nut­zung des angeb­li­chen ger­ma­ni­schen Hei­lig­tums durch rech­te Grup­pie­run­gen mit­nich­ten vor­bei. Die Schrift­stel­le­rin und Hit­ler-Ver­eh­re­rin Savi­tri Devi, ein Idol der Neo­na­zi-Sze­ne, ver­brach­te 1953 eine Nacht an den Extern­stei­nen und erleb­te nach eige­ner Aus­sa­ge Tod und Wie­der­ge­burt. 2004 ver­gru­ben die »Jun­gen Kon­ser­va­ti­ven«, eine infor­mell orga­ni­sier­te Neo­na­zi-Grup­pe, Gegen­stän­de wie deut­sche Flag­gen oder Lin­den­blät­ter unter dem Stich­wort »Trau­ern um Deutsch­land«.

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Die verschiedensten Besucher

Wir sehen die Stei­ne nur kurz, und doch bekom­men wir einen guten Ein­blick in die ver­schie­de­nen Besu­cher­grup­pen: Rent­ner stie­feln mit Trek­king­aus­rüs­tung durch die Natur, eini­ge jun­ge Leu­te mit Ruck­sä­cken sehen aus, als wären sie län­ge­re Zeit zu Fuß unter­wegs. Die obli­ga­to­ri­schen Tages­be­su­cher in Turn­schu­hen und Jeans, die viel­leicht das Kom­bi­ti­cket für Extern­stei­ne und Her­manns­denk­mal in einem gekauft haben, dür­fen auch nicht feh­len. Und auf der Wie­se vor den Stei­nen lie­gen ein paar Leu­te in bun­ten wei­ten Hosen im Gras. Sie haben Trom­meln mit­ge­bracht.

Das sel­be Bild im Ter­min­ka­len­der auf der Extern­stei­ne-Web­site: Die Work­shops zur bewuss­ten Natur­er­fah­rung ste­hen direkt neben der »Gesund­heits­wan­de­rung Extern­stei­ne«. Man kann nicht nur in einer »fan­tas­ti­schen Rei­se« die »See­le der Extern­stei­ne« ent­de­cken, son­dern auch Kur­se in digi­ta­ler Foto­gra­fie buchen. Und mehr­mals im Jahr gibt es in der Grot­te unter den Fel­sen Kri­mi­le­sun­gen.

Die Extern­stei­ne umhül­len vie­le Mys­te­ri­en, und vie­le Fra­gen blei­ben unge­klärt – das macht ihre Fas­zi­na­ti­on aus. Was mich jedoch so viel mehr fas­zi­niert, ist die Tat­sa­che, was für unter­schied­li­che Grup­pen die Stei­ne nut­zen – und was für ver­schie­de­ne Metho­den sie dafür gebrau­chen. Und vor allem, wie gut sie trotz allem neben­ein­an­der exis­tie­ren. Wahr­schein­lich gibt es nicht nur ein Neben‑, son­dern sogar ein Mit­ein­an­der: Schließ­lich nut­zen auch die Eso­te­ri­ker ver­mut­lich die ange­leg­ten Wan­der­rou­ten, und ich bin mir sicher, dass vie­le Tou­ris­ten auch des­halb so begeis­tert von den Stei­nen sind, weil sich hier so vie­le kurio­se Gestal­ten tum­meln.

Anstatt die Stei­ne auf eine rein tou­ris­ti­sche Nut­zung zu beschrän­ken, wer­den die Eso­te­ri­ker nicht nur gedul­det, son­dern akzep­tiert. Die Nazis hät­te man zwar nicht so gern auf dem Gelän­de, aber man kann auch wenig dage­gen unter­neh­men.

Wer die Steine beanspruchen möchte, darf das tun

Jede Grup­pe hat ein Recht, die Stei­ne für sich zu nut­zen, die Wan­de­rer und Foto­gra­fen genau­so wie die Wün­schel­ru­ten­gän­ger und die Kraft­ort-Sucher. »Wer die Stei­ne für sich bean­spru­chen möch­te, darf das tun«, meint unser Gui­de. Doch kei­ne der Besu­cher­grup­pen kann die Stei­ne ganz allei­ne für sich haben – das mache über­haupt kei­nen Sinn. Dafür sei­en sie ein­fach schon zu lan­ge in mensch­li­cher Benut­zung. Und es fehl­ten Bewei­se über die Nut­zung in frü­he­ren Zei­ten.

Und letzt­end­lich sind die Extern­stei­ne ja auch nur das: Stei­ne, die zufäl­lig in der nord­rhein-west­fä­li­schen Land­schaft ste­hen.

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