Wenn man sich nicht verliebt

Im Inter­net sah ich sie zum ers­ten Mal. Sie leuch­te­te in Son­nen­far­ben, der Wind strich durch ihre Wäl­der, auf ihrem Meer lagen Lach­fal­ten. Sie war makel­los und ich ließ mich ver­zau­bern, schwor ihr Treue, woll­te zu ihr.
La Isla Boni­ta – so ihr Spitz­na­me. Die schö­ne Insel. La Isla de San Miguel de La Pal­ma – so ihr offi­zi­el­ler Name. Ein kana­ri­sches Eiland im Atlan­ti­schen Oze­an, ein paar Hun­dert Kilo­me­ter vor der West­sa­ha­ra gele­gen.

Wir kann­ten uns noch nicht per­sön­lich, führ­ten nur eine Fern­be­zie­hung, doch ich war mir sicher, dass wir zusam­men­ge­hör­ten. Ich plan­te sogar, zu ihr zu zie­hen. Mit ihr zu leben. Auf ihr, unter ihren Bewoh­nern, zwi­schen Bana­nen­plan­ta­gen und Vul­kan­stein. In einer gelb gestri­che­nen Fin­ca, irgend­wo abseits. Weg von Tru­bel und Auto­lärm. Weg von kal­ten Fas­sa­den und der Bana­li­tät des All­tags. Ich woll­te die Luft mei­ner Hei­mat­stadt nicht mehr atmen und das Geklap­per der Stö­ckel­schu­he auf dem Asphalt nicht mehr hören. Woll­te kei­ne Regen­ge­sich­ter mehr in der U‑Bahn sehen und konn­te mein eige­nes Regen­ge­sicht im Spie­gel nicht län­ger ertra­gen. Ich war es leid. Mei­ne fünf­zehn­jäh­ri­ge Bezie­hung mit Düs­sel­dorf hat­te ihren Tief­punkt erreicht. Wir schwie­gen uns an. Geliebt haben wir uns nie. Wir waren eine Zweck­ehe ein­ge­gan­gen, woll­ten uns nicht bin­den, und taten es den­noch.
Manch­mal, ja, dann moch­ten wir uns, dann klam­mer­ten wir uns anein­an­der, ja, das schon. Und wir sind durch Dick und Dünn gegan­gen, über­stan­den Unglück und Schwer­mut, fei­er­ten zusam­men in Clubs mit Stu­den­ten und Stern­chen, tanz­ten auf Tischen, aßen Kuchen, dreh­ten uns im Kreis, betran­ken uns, wach­ten auf bei immer ande­ren Gelieb­ten oder schlos­sen uns ein, heul­ten die gan­ze Nacht auf dem bil­li­gen Lami­nat­bo­den, bis die graue Mor­gen­son­ne hin­ter den grau­en Beton­wän­den hin­auf­kroch, so trä­ge, als wol­le sie das Elend nicht mit­an­se­hen, das sich unter ihr aus­walz­te.
Ja, wir hat­ten viel erlebt zusam­men. Fünf­zehn Jah­re Nie­sel­re­gen, Hei­ter­keit, Trau­er, Rausch, Abstür­ze und Lan­ge­wei­le. Und nun schwie­gen wir uns an. Seit gerau­mer Zeit herrsch­te Funk­stil­le zwi­schen uns. Düs­sel­dorf und ich – wir hat­ten uns nichts mehr zu sagen.

Tja, und dann kam sie. Die Schö­ne. Ein Jahr lang glotz­te ich sie an, auf Fotos und Vide­os in High Qua­li­ty. Dann ver­ab­re­de­ten wir uns. Ich flog zu ihr. Tat­säch­lich. Noch bevor ich end­gül­tig über­sie­deln und mit Düs­sel­dorf Schluss machen wür­de, woll­te ich sie sehen. Sie erkun­den und einen Platz für mich suchen. Dann zurück und Düs­sel­dorf den Lauf­pass geben. Das war der Plan.

Im Flie­ger saßen über­wie­gend deut­sche Rent­ner in Karo­hem­den; die Insel ist ein Wan­der­pa­ra­dies. Ich bekam Kopf­schmer­zen von dem Tur­bi­nen­ge­don­ner.
Lan­dung in San­ta Cruz. Son­ne. Salz in der Luft. Pal­men schau­kel­ten. Kak­teen am Stra­ßen­rand, dahin­ter das Meer, tief­blau und undenk­bar zu bestim­men, wo das Was­ser auf­hör­te und der Hori­zont anhob. Als wäre der Him­mel hin­ein­ge­fal­len.
Das sah hübsch aus, doch mich plag­ten immer noch Kopf­schmer­zen und der Anblick ließ in mir selt­sa­mer­wei­se kei­nen Freu­den­tau­mel auf­zie­hen. Obwohl La Isla Boni­ta mich herz­lich emp­fing. Wahr­schein­lich bin ich ein­fach müde, dach­te ich. Oder hung­rig. Oder blind. Muss erst das Regen­ge­sicht abstrei­fen und dann wird alles anders.

Mei­ne Fin­ca war gelb gestri­chen und inmit­ten einer Bana­nen­plan­ta­ge. Vögel zwit­scher­ten. In Düs­sel­dorf höre ich sie nie, nur wüten­de Tau­ben.
In der Wohn­kü­che kleb­ten zwei Geckos an der Wand, nicht län­ger als ein Kugel­schrei­ber. Sie schimpf­ten mit­ein­an­der, glucks­ten wie Hüh­ner. Der eine Gecko war dun­kel­braun und ich nann­te ihn Dro­gon, der ande­re hat­te hell­graue Schup­pen, ihn tauf­te ich Viser­i­on. Sie schie­nen nicht zu atmen, spreiz­ten nur ihre klei­nen Füß­chen mit ihren fünf klei­nen Zehen, und starr­ten mich an.
Ich setz­te mich auf die Dach­ter­ras­se und blick­te hin­aus aufs Meer. Ganz still war es hier oben. Nur das Brau­sen des Win­des in den Ohren. Die Son­ne färb­te mei­ne Wan­gen rot. Ich trank ein Bier und tipp­te ein paar Zei­len in den Lap­top. Schrei­ben klapp­te gut. Trin­ken auch. Nach zwei Stun­den taps­te ich vom Dach und ging zurück ins Haus. Dro­gon und Viser­i­on waren ver­schwun­den.

Fünf­zehn Minu­ten Fuß­weg ent­fernt schlum­mer­te ein klei­nes Dorf. Grü­ne und rote und gel­be Fin­cas stan­den her­um. Man­che waren ver­las­sen, man­che waren zu Bruch­bu­den ver­wit­tert. An einer Haus­tür hing ein Schild mit der Auf­schrift: »Bewa­re of Zom­bies.« Flie­gen­git­ter vor den Fens­tern. Ein paar Jungs spiel­ten Fuß­ball im schwar­zen Kies. Auf den Stra­ßen lag Vul­kan­ge­röll, als hät­te es Stei­ne gereg­net. Eine Frau goss mit einem Gar­ten­schlauch die Pal­me vor ihrer Ter­ras­se. Ein Hund bell­te. Es roch nach Salz­was­ser und Fisch­stäb­chen. Ich schlen­der­te durch das Dörf­chen und war noch immer nicht ent­flammt. In mir reg­te sich nichts. Kein Froh­mut, kei­ne Ver­zü­ckung, auch kein Miss­be­ha­gen, ja nicht ein­mal Abnei­gung. Nur Gleich­gül­tig­keit. Das ist fast noch schlim­mer als Anti­pa­thie.
Ein Mann sag­te »Hola«, ich lächel­te ihm zu. Das Meer spru­del­te ans Ufer und eine Kolo­nie Kreb­se tän­zel­te durch die Schaum­kro­nen.
Nach zehn wei­te­ren Minu­ten Fuß­weg erreich­te ich ein Tou­ris­ten­städt­chen mit Sou­ve­nir­shops und Strand­pro­me­na­de. Rent­ner in Karo­hem­den schlürf­ten Frucht­säf­te und Kin­der bekle­cker­ten sich mit Scho­ko­la­den­eis. Auch hier blieb mein Blick nir­gends hän­gen. Nichts reiz­te mich. Vie­les hat­te ich schon anders­wo gese­hen. In ande­ren Län­dern. Auf ande­ren Inseln. War ich zu streng? Zu per­fek­tio­nis­tisch? Weil ich auf La Pal­ma leben woll­te? Ich über­leg­te, ob ich wie­der­kom­men wür­de, um zu urlau­ben. Ganz ohne Bezie­hungs­ab­sicht. Nein. Wür­de ich nicht. Und ich muss­te mir die Wahr­heit ein­ge­ste­hen; ich war nicht ver­liebt. Kein Bauch­krib­beln, kein Herz­bum­pern.

Es gab Orte auf die­ser Welt, die mich Knall auf Fall erober­ten. Paris ist so ein Ort. Mei­ne gro­ße Lie­be. Als fünf­zehn­jäh­ri­ger Back­fisch betrat ich das Wun­der zum ers­ten Mal, und ich keh­re fast jedes Jahr zurück. Und stets bin ich selig und ver­narrt und hin­ge­ris­sen. Auch wenn ich nicht (mehr) dort leben möch­te. Zu groß die Angst, dass wir uns im all­täg­li­chen Einer­lei ver­lie­ren.
Luzern ist auch so ein Ort. Flugs war sie da, die Hin­nei­gung. Und sie ist über­all dort, wo Ber­ge sind. Oder Geschich­te. Oder Über­schwäng­lich­keit. Die grie­chi­sche Insel Hydra wickel­te mich schon nach drei Minu­ten um den klei­nen Fin­ger. Mit ihren weiß-blau­en Häu­sern, die sich die Hügel hin­auf sta­peln und im Abend­licht leuch­ten. Die vie­len Gäss­chen in Sara­je­vo begeis­ter­ten mich augen­blick­lich. Eben­so Gra­na­da, mit den Fla­men­co­tän­ze­rin­nen und den Blu­men­töp­fen auf den Fens­ter­bän­ken. Der Melo­dra­ma­tik Edin­burghs war ich sogleich erle­gen. New Yorks nächt­li­ches Lich­ter­meer fas­zi­nier­te mich. Oder das wei­te Gras­land der Mon­go­lei. Die Pfer­de dort. Und der Him­mel, der zu tief hängt.
Ja, das sind Fle­cke, die mein Herz annek­tier­ten. Im Sturm und mit flie­gen­den Fah­nen. Kei­ne Fra­ge­zei­chen, kein zwei­ter Blick.
Viel­leicht, weil ich nie die Absicht hat­te, dort­hin zu zie­hen? Viel­leicht, weil wir offe­ne Bezie­hun­gen mit­ein­an­der füh­ren? Wer weiß.

Es gab aber auch jene Städ­te und Land­schaf­ten, die mich abstie­ßen, wütend mach­ten oder ein­sam. So wie Gar­misch-Par­ten­kir­chen. Wir konn­ten uns nicht einen Mil­li­me­ter aus­ste­hen. Sie straf­te mich mit Regen und Fad­heit und ich schenk­te ihr mei­ne Ver­ach­tung. Istan­bul und ich – wir funk­tio­nier­ten eben­falls nicht, zick­ten uns an, und List­wjan­ka in Sibi­ri­en lös­te puren Hass in mir aus. In Ula­an­baa­tar war ich vor lau­ter Trüb­nis schon nach­mit­tags betrun­ken. Und eine ira­ni­sche Insel im Per­si­schen Golf schüt­tel­te mich ab wie eine läs­ti­ge Flie­ge.
So ist das manch­mal. Orte sind wie Men­schen. Man mag sich oder man mag sich nicht. Ohne Vibes kein Reiz.

Mit La Pal­ma war es anders. Ich moch­te die Schö­ne, aber ich hat­te mich ein­fach nicht in sie ver­gafft. Trotz der Lor­beer­wäl­der. Und trotz der ver­schla­fe­nen Dör­fer mit den gel­ben und roten Fin­cas. Was war der Grund? War­um zün­de­te es nicht? Viel­leicht stör­ten mich doch die Bana­nen­plan­ta­gen? Oder der vul­ka­ni­sche Schutt? Und dann zwick­te das schlech­te Gewis­sen. Hör­te ich doch stets von Freun­den und Kol­le­gen, wie herr­lich die Insel sei. Wie ely­sisch. Selbst für die UNESCO gehört sie neben Bora Bora und Jamai­ca zu den drei schöns­ten Inseln der Welt. Und tat­säch­lich, La Pal­ma gab sich alle Mühe, mir zu gefal­len, doch der Fun­ke sprang nicht über. Was mach­te ich nur falsch?

Als ich wie­der auf dem Dach mei­ner gelb gestri­che­nen Fin­ca saß, mit dem Lap­top auf dem Schoß, und zuschau­te, wie die Son­ne im Meer ver­sank, da akzep­tier­te ich es ein­fach: La Isla Boni­ta und ich – wir reim­ten uns nicht. Kei­ne Vibes. Wir pass­ten nicht zusam­men. Wir wer­den kein gemein­sa­mes Leben füh­ren. That’s it. Unse­re Online-Lie­be zer­brach an der Rea­li­tät.  Ich hat­te mir ein Para­dies vor­ge­stellt, und tja, ich fand es nicht. Konn­te es nicht fin­den. Das pas­siert. Ziem­lich unspek­ta­ku­lär. Und gleich­wohl war ich mir so sicher wie nie zuvor, dass auch die Bezie­hung mit Düs­sel­dorf zu Ende ging. Ja, zu Ende gehen muss­te. Immer­hin.
Ich hof­fe, die schö­ne Isla hat mei­ne Ent­schei­dung gegen sie nicht per­sön­lich genom­men. Viel­leicht kön­nen wir ja Freun­de blei­ben.

 

Tro­pi­cal the island bree­ze
All of natu­re wild and free
This is whe­re I long to be
La isla boni­ta.

- Madon­na -

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Mona
    Mona

    Ich fin­de es auch schö­ner, wenn man posi­tiv von einer Desti­na­ti­on über­rascht wird, an die man zuvor kei­ne gro­ßen Erwar­tun­gen gestellt hat.…bei mir ist es immer so=)

  2. Avatar von The Vegan Travelers

    Oh ja, so war es bei uns mit Marok­ko. Aber hey, schreib die Kana­ren nicht gleich ganz ab, denn jede Insel ist anders: https://www.the-vegan-travelers.com/de/europa/spanien/kanaren-guide-welche-kanarische-insel-ist-die-beste.html

  3. Avatar von Alex: Zitate richtig verwenden

    die­ses Gefühl ist mir auch bekannt..

  4. Avatar von Mela | individualicious

    Das Gefühl ken­ne ich nur all­zu gut – die nicht enden wol­len­de Vor­freu­de und dann die pure Ernüch­te­rung vor Ort. Aber: ist eben ein­fach so, das kann man nur akzep­tie­ren. Beim nächs­ten Ziel ist’s wie­der anders. Und umso schö­ner fin­de ich es ja eigent­lich, wenn man posi­tiv von einer Desti­na­ti­on über­rascht wird, an die man zuvor kei­ne gro­ßen Erwar­tun­gen gestellt hat.

  5. Avatar von whereismap

    Ein sehr schö­ner Arti­kel! Dan­ke

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