Wo die Worte fehlen

„Ver­dammt“, schießt mir als ers­tes durch den Kopf, „jetzt habe ich die Kame­ra gera­de wie­der ein­ge­packt!“ Macht nichts, denn der Anblick, der sich mir am Stra­ßen­rand zur Lin­ken bie­tet, brennt sich direkt auf mei­ner Netz­haut ein.

Wild­schwei­ne. Mit­ten in der Stadt. Drei an der Zahl. Mit ihren glän­zen­den Schnau­zen wüh­len sie in einem rie­si­gen Hau­fen Müll nach Fres­sen. Vögel lan­den auf ihren Rücken und picken in ihrem zer­zaus­ten Fell. Eine Plas­tik­fla­sche rollt von ihrer Müll­in­sel auf die Fahr­bahn bis fast vor die Klau­en einer abge­ma­ger­ten Kuh.

Chaos auf den Straßen der heiligen Stadt

Hier im Zen­trum von Var­a­na­si, der hei­ligs­ten Stadt der Hin­du­is­ten, offen­bart er sich mir: der Wahn­sinn einer indi­schen Groß­stadt, wie ich ihn mir immer vor­ge­stellt habe. Nur dass Var­a­na­si von allem noch mehr ist: noch lau­ter, noch vol­ler, noch dre­cki­ger.

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Lukas, der Jour­na­list aus Prag, der neben mir im Tuk-Tuk sitzt, lächelt. Wir haben nicht viel gespro­chen, seit wir ein­ge­stie­gen sind. Er ist voll in sei­nem Ele­ment: emp­fäng­lich für jedes Bild, jedes Geräusch, jeden Geruch. Genau wie ich hat er sich vor die­ser Rei­se durch Indi­en am meis­ten auf den Stopp in Var­a­na­si gefreut. Genau wie ich ist er gespannt auf den Ort, zu dem wir unter­wegs sind: das Manikar­ni­ka Ghat, eine von mehr als 80 Trep­pen, die hin­un­ter zum Ufer des Gan­ges füh­ren. Die­je­ni­ge, an der tag­täg­lich bis zu 200 Lei­chen nach Hin­du-Tra­di­ti­on ver­brannt und ihre sterb­li­chen Über­res­te dem hei­li­gen Fluss über­ge­ben wer­den.

Wir ste­hen im Stau. Män­ner rufen durch­ein­an­der, stän­dig hupt jemand. Mehr als ein­mal zucke ich zusam­men und bli­cke in Lukas’ grin­sen­des Gesicht. Unser Fah­rer ist genervt. Noch aggres­si­ver als zuvor spuckt er rotes Betel­nuss-Spei­chel-Gemisch auf das Fleck­chen Erde zwi­schen unse­rem Gefährt und dem Kar­ren neben uns.

https://www.youtube.com/watch?v=uH55sD-S2eQ

Ich sehe mich um: Vier Erwach­se­ne mit drei Kin­dern in einem Tuk-Tuk. Ein Kar­ren rand­voll mit Bana­nen. Ein zwei­ter, auf dem sich Pake­te turm­hoch sta­peln. Drei jun­ge Män­ner auf einem Rol­ler. Alle drei star­ren mich an. Genau wie die bei­den Mäd­chen auf der Rik­scha schräg vor uns. Ich win­ke Ihnen kur­zer­hand zu. Sie win­ken, zu mei­ner Über­ra­schung, über­schwäng­lich zurück.

Manikarnika Ghat: Unmengen Feuerholz für die Leichen

Fast andert­halb Stun­den brau­chen wir für die Zehn-Kilo­me­ter-Stre­cke. Wir bezah­len die ver­ein­bar­ten zwei­hun­dert Rupi­en und war­ten auf unse­re Beglei­ter: Lisa und Jan, bei­de aus Deutsch­land, sind uns in einem zwei­ten Tuk-Tuk gefolgt. Ihre Gesich­ter spre­chen Bän­de von der Fahrt. Lisa steigt aus und zupft das rosa­far­be­ne Tuch zurecht, das sie sich um ihren Kopf geschlun­gen hat. Ich tue es ihr gleich, bevor Lukas uns von der lär­men­den Haupt­stra­ße in die Gas­sen gegen­über lotst.

Wir lau­fen unter einem Tor mit einem rie­si­gen Toten­kopf hin­durch. Mit jedem Schritt wird die Luft dicker, die Fas­sa­den in der Fer­ne wir­ken ver­blasst wie auf einem alten Foto. Zum Glück stinkt es nicht nach Ver­we­se­nem. Davor hat­te ich Angst.

Lisa und ich hal­ten uns unse­re Tücher vor Mund und Nase und ste­hen wenig spä­ter zwi­schen den Unmen­gen an Feu­er­holz am Manikar­ni­ka Ghat. Am Weges­rand tür­men sich die Schei­te.

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Wir fol­gen Lukas durch das Holz­la­by­rinth, vor­bei an klei­ne­ren und grö­ße­ren Tem­peln, vor­bei an Zie­gen und Kühen, die selbst hier wie selbst­ver­ständ­lich zur Kulis­se gehö­ren.

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Der Weg führt uns auf eine Platt­form. „No pho­to here“, sagt jemand von der Sei­te. Ich bli­cke hin­ab. Fünf Meter unter uns brennt die Lei­che eines Man­nes. Mit den Füßen in Rich­tung Fluss liegt er auf einem Schei­ter­hau­fen. Sei­ne Schien­bei­ne und sein Kopf sehen wäch­sern aus, in der Kör­per­mit­te lodern die Flam­men. Ich war­te auf Schre­cken. Auf Ent­set­zen. Auf Ekel. Irgend­et­was. Ich spü­re: nichts.

Der Ganges in Indien: Baden im Massengrab

An der Trep­pe neben­an baden Ange­hö­ri­ge im Fluss. Eine alte Frau im Sari steht bis zur Brust in der trü­ben Brü­he und wäscht ihr Gesicht. Aus dem Augen­win­kel sehe ich Rauch­säu­len auf­stei­gen. Ich las­se bei­des auf mich wir­ken und fin­de immer noch kein pas­sen­des Gefühl. Noch nicht ein­mal pas­sen­de Wor­te.

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Erst als wir zwan­zig Minu­ten spä­ter in einem Boot an den Ghats vor­über­glei­ten, fällt mir eines ein: unwirk­lich. Unwirk­lich, wie das Feu­er der Schei­ter­hau­fen vor den ver­fal­le­nen Gebäu­den fla­ckert und ein paar Meter wei­ter Män­ner baden und ihre Haa­re waschen.

Häufig treiben Wasserleichen auf dem Ganges

Auf dem Fluss kommt das Gefühl zurück: leicht flau­er Magen, Krib­beln auf der Haut. Die Wor­te unse­res Boots­füh­rers Kamal tun ihr Übri­ges. „You know, some­time also floa­ting body here“, sagt er mit sei­ner hel­len Stim­me und dem typisch indi­schen Akzent in die Stil­le hin­ein und zeigt mit der fla­chen Hand aufs Was­ser. Ob wir wis­sen, war­um manch­mal Lei­chen an der Ober­flä­che trei­ben? Er sieht uns erwar­tungs­voll an. Jan stützt die Ell­bo­gen auf die Knie und legt sein Gesicht in sei­ne Hän­de. Kamal lässt sich nicht beir­ren. Eini­ge Kör­per – die von Schwan­ge­ren, Hei­li­gen und Kin­dern zum Bei­spiel – wür­den nicht ver­brannt, son­dern nur mit einem Stein beschwert. Und manch­mal rei­ße das Seil eben. Kamal grinst. Das Ruder knarzt, als er es wie­der in das gelb­brau­ne Was­ser taucht.

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Mit zwei Din­gen bin ich für den Rest der Fahrt beschäf­tigt: Hof­fen, dass uns kei­ne auf­ge­bläh­te Lei­che ent­ge­gen­kommt. Und: Auf das Boden­brett ach­ten, auf dem mein Fuß steht. Das sieht aus, als könn­te es jeder­zeit hoch­klap­pen und Was­ser durch­las­sen. Was­ser, das ich noch nicht ein­mal mit mei­nem klei­nen Zeh berüh­ren möch­te. Kamal hin­ge­gen trinkt es täg­lich, wie er beim Aus­stei­gen erzählt. „Zwei, drei Liter, Ma’am. Das Was­ser kommt aus dem Him­mel, dar­um bin ich so gesund.“

Auf dem Rück­weg zur Haupt­stra­ße muss ich nicht mehr nach Wor­ten suchen. „Schei­ße!“ rufe ich in einer der schma­len Gas­sen. Ich bin in Kuh­schei­ße getre­ten. Bringt Glück, rede ich mir ein.

https://www.youtube.com/watch?v=0ykvOeOGuuw

Vie­len Dank an Incre­di­ble India für die Ein­la­dung nach Indi­en.

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Miner
    Miner

    Gruß

    Indi­en ist ein wun­der­schö­nes Land. Ich wer­de auch bald eine klei­ne Rei­se nach indi­en machen und kann es ehr­lich gesagt kaum abwar­ten.
    Habe mir ver­schie­de­ne Infos schon gesucht und muss sagen, dass ich auch schon Infos zum Visum gesam­melt habe.

    Natür­lich ist es so, dass man sich sein eige­nes Bild machen muss.

    Bin echt gespannt wie die Rei­se sein wird.

  2. Avatar von Michaela

    Ich war zwar noch nicht in Var­a­na­si, aber in ande­ren Tei­len von Indi­en und das Land hat mich wirk­lich fas­zi­niert. Viel­leicht mache ich doch auch noch­mal auf nach Var­a­na­si – die­ser Arti­kel hat mich wie­der inspi­riert 🙂

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