Tierra del Fuego – Ende der Welt

Immer wie­der gibt es die­se Stim­mung, in der der Aus­stieg domi­niert. Noch ist man nir­gends ange­kom­men, noch möch­te man nir­gends ankom­men. Fort will man sein, unter­wegs, gern hei­mat­los. Ziel­los gar. Man fährt, man schaut, man liest – die Augen gra­sen die Ebe­nen ab und möch­ten ein­fach nur das. Die Welt mit den Sin­nen abna­gen, ohne sie zu ver­än­dern und ohne zu reflek­tie­ren. Gern könn­te das tage­lang so wei­ter­ge­hen.

Dann aber erreicht der Bus ein Ufer und man begibt sich auf die schwan­ken­de Fäh­re. Dort, jen­seits die­ses unru­hi­gen Was­sers, das die Far­be schwar­zen Mar­mors zu imi­tie­ren scheint, liegt das Ende der Welt. Feu­er­land – Tier­ra del Fue­go – die letz­te Bas­ti­on. Das letz­te Stück Land mit Kap Hoorn, wo die­ser rie­sen­gro­ße, unru­hi­ge und sich rasch wan­deln­de Kon­ti­nent endet. Dann Was­ser und schließ­lich die Eis­mas­sen der Ant­ark­tis, die auch immer weni­ger Mas­se sein wol­len. Als wir mit dem Schiff die unru­hi­gen Wel­len peit­schen und der eis­kal­te Wind des hie­si­gen Herbs­tes mei­nen Hals und Nacken mit sei­nen Böen zu prü­fen scheint, fühlt es sich an, als hät­te ich wirk­lich die­ses gan­ze Gemen­ge an Men­schen, Städ­ten, Natur und Ereig­nis­sen im Nacken. Dort hin­ter mir, New York, die Ban­den­krie­ge Mexi­kos, die Unru­hen in Gua­te­ma­la, der Wan­del Kolum­bi­ens, die lan­ge Ket­te der Anden und die grü­ne Lun­ge des Ama­zo­nas­be­ckens. Dann, näher hin­ter mir – ich kann es noch erken­nen – die gel­ben Grä­ser Pata­go­ni­ens. Nun, auf Feu­er­land, hört alles auf. Dabei wis­sen wir, dass es nie auf­hört. Doch die Gren­zen unse­rer Welt zie­hen uns doch magisch an. Mich ganz beson­ders.
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Noch befin­de ich mich auf der west­li­chen, der chi­le­ni­schen Sei­te die­ses Land­strichs. Wir durch­que­ren Wäl­der und unwirt­li­che Hügel, zer­klüf­te­tes Gestein. Hier und da biegt eine Pis­te von der Asphalt­stra­ße ab, die ins Nichts zu mäan­dern scheint. Ich fra­ge mich, wie die­se Ein­sam­keit aus­sieht, wie die Land­schaft so weit weg von allen Schot­ter­pis­ten und Wan­der­we­gen sein könn­te. Die Land­schaft, die für man­che Men­schen hier doch ihr Zuhau­se ist. Die Cha­rak­te­re, die sol­che Ein­sam­keit schul­tern kön­nen, ohne Ablen­kung, ohne Bücher, ohne Fil­me, sie sind unge­sel­lig und dem eige­nen Kopf und ihrer Ver­gan­gen­heit aus­ge­lie­fert.

Das ist nicht nur so dahin­ge­sagt. Ges­tern Abend traf ich mit einem Chi­le­nen, der seit mei­ner Abfahrt bei Tor­res del Pai­ne den Platz neben mir im Bus ein­nimmt, eine Frau mitt­le­ren Alters. Beim Abend­essen kamen wir ins Gespräch, ein Wort gab das ande­re, und schließ­lich erzähl­te sie zögernd von der Ver­gan­gen­heit ihres Hei­mat­lan­des. Wer das heu­ti­ge Chi­le mit sei­ner Infra­struk­tur und dem wirt­schaft­li­chen Auf­schwung bereist, dem fällt es schwer zu ver­ste­hen, wel­che Geset­ze hier vor etwa vier­zig Jah­ren an der Tages­ord­nung stan­den. Maria klärt uns auf. Als 1973 der Putsch in Sant­ia­go begann, war sie noch ein Kind. Spä­ter wird sie mir erzäh­len. „Ab 20 Uhr bestand das Aus­geh­ver­bot. Ein­mal war mei­ne Mut­ter um die­se Zeit noch nicht nach Hau­se gekom­men, also nahm ich mei­nen klei­nen Bru­der an die Hand, um auf der Stra­ße nach ihr zu suchen. Auf jedem Hoch­haus stand ein Sol­dat, die schos­sen auf alles, was sich beweg­te. Also auch auf uns. Wir rann­ten zurück und schaff­ten es. Mei­ne Mut­ter war am Fuß­ball­sta­di­on, in dem sie unse­ren Vater inter­niert hat­ten – wie so vie­le ande­re. Dort hat man die Leu­te gefol­tert. Vor dem Sta­di­on schrien Men­schen die Namen ihrer Ange­hö­ri­gen, und man hör­te die Schreie der Gefan­ge­nen.“ Mehr nicht. Der Ver­gan­gen­heit aus­ge­lie­fert, wie schon gesagt.
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Pun­ta Are­nas, die süd­lichs­te Stadt Chi­les. Nied­ri­ge Häu­ser, meist aus Holz ver­klei­det. Ich befin­de mich im tiefs­ten Süden, doch alles mutet nörd­lich an, kein Wun­der, dass sich so vie­le Schot­ten und Wali­ser hier ansie­del­ten. Rund um die­se Stadt ste­hen noch die vik­to­ria­ni­schen Häu­ser, die sich jene Schaf­far­mer errich­te­ten, die dank der Wol­le Ende des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts unend­lich reich wur­den. Man­che die­ser Häu­ser wir­ken ein wenig albern, und bei mei­nem Spa­zier­gang muss ich unwei­ger­lich an Bruce Chat­win den­ken. Ein ent­fern­ter Ver­wand­ter sei­ner Fami­lie schick­te das Haut­stück eines Bron­to­sau­rus in die Hei­mat, Chat­win sah die­ses Stück als Kind und brach spä­ter wegen die­ser Haut nach Pata­go­ni­en auf. So begin­nen also Bücher, den­ke ich jetzt, als ich selbst auf die­se lang­sam in sich zer­fal­len­de Geschich­te bli­cke und mei­nen Schal enger bin­de. Wie­der ein­mal tre­te ich direkt in den Wind, und die­ser Wind hat alle Far­ben: Er ist satt oder fahl, er tuscht und streicht, er atmet, dann treibt er, er schlägt bru­tal zu oder hechelt um die Ecken. Hier ist er wahr­haft der Atem der Natur, über­all spür­bar, doch immer anders. Die weni­gen Blu­men fällt er in den Bee­ten.
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Vom Hafen aus gehen Schif­fe zu den vor­ge­la­ger­ten Inseln der Magel­lan­stra­ße. Dort leben gro­ße Her­den von See­lö­wen und klei­ne Pin­guin­ko­lo­nien. Pin­gui­ne haben es mir schon mein Leben lang ange­tan, mit ihrem Frack, ihrer tap­si­gen Art zu gehen, ihrer Eigen­art, sich nicht ent­schei­den zu kön­nen, ob sie mehr Vogel, oder mehr Unter­was­ser­we­sen sind. Ich kann mich eben­so oft schwer ent­schei­den, das stimmt also schon mal über­ein. Als wir in See ste­chen, über­rollt mich die­se Auf­re­gung, die sich bei Schiffs­fahr­ten so oft ein­stellt. Man sieht das Ufer zurück­wei­chen und nach und nach wird man Teil die­ses Ele­ments, auf dem man treibt. Nach ein paar Stun­den ent­stei­gen wir über einen schma­len Holz­steg dem Schiff und betre­ten eine klei­ne, graue und kom­plett baum­lo­se Insel. Unweit des pro­vi­so­ri­schen Hafens war­ten sie auf uns, und war­ten doch auf nichts. Pin­gui­ne. Hier sehe ich ihre Löcher, die Bau­ten, in denen gebrü­tet und genis­tet wird. Die­se Kolo­nie ist rela­tiv klein, sagt uns ein Füh­rer. Wind­ge­peitscht gehe ich an den Tie­ren vor­bei, sie beschäf­ti­gen sich ernst­haft nur mit sich selbst. Ob es nur von der merk­wür­di­gen Hal­tung kommt, weiß ich nicht, aber sie sehen Staats­be­am­ten oder Erz­bi­schö­fen ähn­lich, auch Non­nen. Plötz­lich kommt mir der Gedan­ke, dass mir der Zufall der Evo­lu­ti­on auch ein Dasein als Pin­gu­in hät­te zuwei­sen kön­nen, oder umge­kehrt, dass wir Homo sapi­ens iso­liert auf einer Insel leb­ten und eine Hor­de rie­si­ger Pin­gui­ne käme vor­bei, um uns abzu­lich­ten oder ernst­haft zu stu­die­ren. Wesens­ver­wandt füh­le ich mich ihnen ja ohne­hin. Nach der Rück­kehr in mein Gast­haus auf­wär­men am Kamin­feu­er, mit den Win­den vom Süd­po­lar­kreis ist nicht zu Spa­ßen.
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Ein Tag spä­ter die nächs­te Bus­fahrt. Dann Ankunft in Ushua­ia. Süd­lichs­te Stadt Argen­ti­ni­ens und damit auch die süd­lichs­te Stadt der Welt. Als ers­tes sehe ich Kriegs­schif­fe an einem Kai und ein ankern­des wei­ßes Unge­tüm mit der Auf­schrift Ant­ar­c­tic. Die­se Stadt ist der Aus­gangs­punkt für die Rei­sen­den zum Süd­pol, und das spürt man. Geschäf­te mit Out­door Klei­dung, Aus­rüs­tung für Schnee­ge­stö­ber, für Minus­ge­ra­de jen­seits der 40 Grad. Noch ist hier frü­her Herbst, und doch weht ein Schnee­re­gen, als ich am Tag dar­auf beim Früh­stück aus dem Hotel­fens­ter sehe. Ein paar Grad plus, das muss rei­chen. Wie hal­ten es die Leu­te hier im Win­ter aus, der ab April ein­setzt und Mona­te lang für kla­re Ver­hält­nis­se sorgt? Im Hin­ter­grund ver­schnei­te Ber­ge, eine senk­rech­te Linie bis zum Bea­gle-Kanal, der Argen­ti­ni­en von Chi­le trennt. Etwas, das aus­sieht wie auf dem Zei­chen­brett ent­stan­den, will­kür­lich und unna­tür­lich ver­läuft die­se (poli­ti­sche) Linie durch Flüs­se und lee­re Land­schaf­ten, womög­lich auch durch Fuchs­bau­ten und Eulen­nes­ter. Ushua­ia liegt nicht direkt am Meer, son­dern an die­sem Kanal, ein­ge­keilt zwi­schen der Sier­ra Sor­on­do und dem Par­que Nacio­nal Tier­ra del Fue­go. Dort­hin wer­de ich mor­gen fah­ren, um die­sen letz­ten Zip­fel Ame­ri­kas zu durch­wan­dern.
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Kei­ne gro­ße Stadt. Schma­le, stei­le Stra­ßen, der zugi­ge Wind, aber­mals. Die Häu­ser klein, aus Holz und Well­blech. Dies ist ein Ort, an dem man ein Jahr blei­ben könn­te, um ein Buch zu schrei­ben, um sich ganz ein­zu­las­sen auf die­se Grenz­erfah­rung. Doch da ich für sowas kei­ne Zeit habe, lese ich in den Büchern, die in einem klei­nen Café neben dem Hotel aus­lie­gen und ler­ne immer­hin, dass der Begriff Ushua­ia von „Bucht, die das Land bis in den Wes­ten durch­dringt“ bedeu­tet. In der Spra­che der Yáma­na, die vor der Ankunft der Wei­ßen hier leb­ten. Dann tre­te ich auf die Stra­ße, der Schnee­re­gen hat sich ver­zo­gen, die Wol­ken sind über­mäch­tig, Luft­schif­fe sind es, mit Polar­ge­sich­tern, alles hier ist Wei­te. Mit einem Lini­en­bus fah­re ich zum Natio­nal­park, mir bleibt nur noch der heu­ti­ge Tag, bevor ich mei­ne lan­ge Rück­rei­se nach Bue­nos Aires antre­ten muss. Es sind domi­nan­te Land­schaf­ten, hier am Ende der Welt. Daher zieht die­ser Land­strich wohl auch so vie­le Rei­sen­de an. Rei­sen­de, in deren Hei­mat es kein Stück Natur mehr gibt, das nicht ver­lo­ren, noch nicht domes­ti­ziert wor­den wäre. Hier aber erbli­cken sie Natur in einem Zustand, in dem sie noch nicht ver­lo­ren hat. Solan­ge sie nicht unter­wor­fen aus­sieht, wird sie bewun­dert, als ob man sei­ne eige­ne vor­zi­vi­li­sa­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit bewun­dert. Heu­te spre­chen Rei­se­füh­rer von den „letz­ten Para­die­sen“. Wie ver­rä­te­risch, man blickt also post­hum, vom Ende aus, zurück.
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Am Park­platz eini­ge Rei­se­bus­se mit lau­fen­den Moto­ren, um die Kli­ma­an­la­gen in Gang zu hal­ten. Bei ein paar Grad plus nicht not­wen­dig, außer­dem pas­sen die Geräu­sche nicht zur Stil­le, die hier so sehr domi­niert. Nach einer hal­ben Stun­de habe ich einen Fisch­ad­ler gese­hen, ein merk­wür­dig sump­fi­ges Gebiet pas­siert. Grell­grü­ne Gras­bü­schel auf sump­fi­gen Fle­cken, abge­stor­be­ne Bäu­me, die aus dem Was­ser ragen, wie die Rui­ne eines Wal­des. Ein Gän­se­paar – ich neh­me an, dass es Gän­se sind – wat­schelt über ein Stück Wie­se. Idyl­le, aber nur in mei­nen Augen. In Wahr­heit wer­den die Tie­re hier bald gut zu kämp­fen haben, um den stram­men und dunk­len Win­ter zu über­le­ben. Noch führt mich mein Weg wei­ter in Rich­tung Ber­ge, ich mache Rast an einer Samm­lung von Baum­stäm­men, die wie Bir­ken schim­mern, aber kei­ne Bir­ken sind. Hei­ßer Tee, Brot, ein Apfel, Scho­ko­la­de. Es reicht so wenig, jetzt, da ich wirk­lich hier bin. Doch rascher als mir lieb ist, beginnt sich die schwa­che Son­ne zu ver­ab­schie­den, es däm­mert bereits, und ich fah­re per Anhal­ter zurück nach Ushua­ia. Zuvor habe ich mir noch im Infor­ma­ti­ons­zen­trum des Natio­nal­parks einen Stem­pel in mei­nen Rei­se­pass geben las­sen – als Beweis, dass ich hier war. Man kann nie wis­sen.
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Ein letz­ter Tag in der Stadt mit den schma­len Stra­ßen und den fla­chen Bau­ten. Über­all Auf­re­gung und Auf­bruch der­je­ni­gen, denen die­ses Extrem nicht genügt, son­dern die Feu­er­land als Aus­gangs­punkt ihrer Ant­ark­tis-Expe­di­ti­on gewählt haben. So ist das mit den Enden der Welt. Im Grun­de endet sie nie, für mich endet hier mein Weg durch die­sen phä­no­me­na­len Erd­teil. Für ande­re geht die Rei­se von hier erst los, zum nächs­ten Ende. Aber die­ses Kapi­tel ist ein ande­res, viel­leicht eines Tages. Nun bli­cke ich ein letz­tes Mal auf das Was­ser, die Ber­ge, die Schnee­spu­ren auf den fer­nen Spit­zen und dann dre­he ich mich um, und mit einem ein­zi­gen Schritt begin­ne ich mei­nen lan­gen Rück­weg über die­se Insel, durch die Pam­pas Pata­go­ni­ens, durch den Moloch Bue­nos Aires, durch die Luft über den Süd­at­lan­tik, dann über Nord­afri­ka, Spa­ni­en, Frank­reich bis hin zum Zug, der mich ganz zurück in mei­ne Stadt brin­gen wird, in die Stadt der vie­len Brü­cken, Kanä­le, Kirch­tür­me – in die Stadt im fer­nen Nor­den.

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