Lang lebe der Durchschnitt

 Møgel­tøn­der, Däne­mark

Mit »Couch­sur­fing im Iran« schrieb Ste­phan Orth nicht nur einen Best­sel­ler, son­dern befeu­er­te gleich­zei­tig einen Hype, der zwar nicht neu, aber den­noch nicht bei allen Rei­sen­den ange­kom­men ist.

Und nicht nur das, er gab mir damit auch die Idee für eine Som­mer­se­rie, um das Som­mer­loch bei mei­ner Zei­tung zu fül­len.

Aber war­um immer gleich so weit in die Fer­ne?

Klar, die Infor­ma­ti­ons­la­ge über das Leben im Iran ist rela­tiv dünn und Geschich­ten aus 1001 Nacht haben sicher­lich ihren Reiz. Aber ist es nicht (fast) genau­so inter­es­sant zu erkun­den, wie die Men­schen in der eige­nen Nach­bar­schaft so Leben?

War­um also nicht mal aus­kund­schaf­ten, was die Sofas in der Umge­bung so alles zu bie­ten haben und und wel­che unent­deck­ten Geheim­nis­se die eige­ne Regi­on birgt?

Orte im Umkreis von 50 Kilo­me­tern um Flens­burg und damit gera­de noch in der Reich­wei­te des­sen, was mei­ne Ves­pa leis­ten kann, ohne zu explo­die­ren.
Mein Chef­re­dak­teur gab sofort sein ok.
Aber nach­dem ich im letz­ten Jahr für die Zei­tung ein­mal kom­plett durch Schles­wig-Hol­stein gelau­fen bin, wun­dert er sich wahr­schein­lich eh nicht mehr über mich.

Rol­ler voll­ge­tankt, Rei­fen noch ein­mal auf­ge­pumpt, Regen­kla­mot­ten im Helm­fach ver­staut, Ruck­sack geschul­tert und los.

Vol­ler Moti­va­ti­on brau­se ich aus der Stadt her­aus auf der Grenz­stra­ße, die sich par­al­lel zum Grenz­ver­lauf zwi­schen Deutsch­land und Däne­mark von Flens­burg bis fast zur Nord­see durch die Land­schaft schlän­gelt.

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Im Gegen­satz zum Auto habe ich auf mei­nem Rol­ler kein Radio und der ein­zi­ge Song, der sich in mei­ne Gehirn­win­dun­gen gebrannt zu haben scheint ist »Des­pa­ci­to«, der jetzt mit völ­lig sinn­frei­em Spa­nisch-Kau­der­welsch in Dau­er­schlei­fe bei mir Kopf läuft.

»DEEESPAAAACITO LALALALALALITO UNO MAS BURRITOOOOOOO«

Wäh­rend ich sin­gend ent­lang der deutsch-däni­schen Gren­ze durch die nord­frie­si­sche Land­schaft knat­te­re und mit fra­gen­den, teils ver­ängs­tig­ten Bli­cken von den mich über­ho­len­den Auto­fah­rern beäugt wer­de, muss ich zum wie­der­hol­ten Male fest­stel­len wie schön die nord­deut­sche Pam­pa doch auf ihre Wei­se ist. Die­se wun­der­ba­re Tris­tesse, die­se natur­ge­wor­de­ne Lan­ge­wei­le, die nur durch eini­ge ver­ein­zel­te Kuh­her­den auf­ge­lo­ckert wird. Muss man mit umge­hen kön­nen, aber dann hat es durch­aus sei­ne Rei­ze.

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Nach rund einer Stun­de bin ich end­lich da.

Møgel­tøn­der, ein klei­nes Dorf in der Gemein­de Tøn­der, zu deutsch Ton­dern, etwa sechs Kilo­me­ter nörd­lich der Gren­ze und sechs Kilo­me­ter ent­fernt von der Nord­see, 847 Ein­woh­ner, die Møgel­ton­der­aner genannt wer­den und bis 2014 Hei­mat des däni­schen Prinz Joa­chim von Däne­mark.

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Møgel kommt vom alt­dä­ni­schen mykil (groß), der Ort heißt also über­setzt in Deut­sche Groß-Ton­dern. Der acht­mal so gro­ße Nach­bar­ort Tøn­der, im Gegen­zug, war frü­her als Klein-Ton­dern bekannt.
Ver­steh einer die Dänen.

Mei­ne Gast­ge­ber Ole und Lene woh­nen in einem net­ten Haus im Zen­trum des Dor­fes, das frü­her ein­mal eine Schu­le und zu deut­schen Zei­ten mal ein Kin­der­heim für Kin­der alko­hol­kran­ker Men­schen war. Ihre bei­den Söh­ne sind ein paar Jah­re jün­ger als ich und stu­die­ren in Oden­se.

Aus dem Inne­ren des Hau­ses strömt bereits der Duft eines saf­ti­gen Bra­tens, der im Ofen vor sich hin schmort. Die Woh­nung ist sehr geschmack­voll ein­ge­rich­tet. Und vor allem sehr gemüt­lich.

Ich füh­le mich direkt wohl.

Lene schnei­det Kar­tof­feln, wäh­rend Ole dabei ist, den Salat zu waschen.

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»Kann ich euch irgend­wie hel­fen«, fra­ge ich.
»Du kannst mir hel­fen, den Wein für heu­te Abend aus­zu­su­chen“, ant­wor­tet Ole.

Wie sich her­aus­stellt haben Ole und Lene ein klei­nes Wein­ge­schäft im Kel­ler ihres Hau­ses, das sie seit eini­gen Jah­ren neben­bei zum Spaß betrei­ben, zur Gän­ze gefüllt mit kost­ba­ren Trop­fen aus Frank­reich. Alle­samt von befreun­de­ten Win­zern, die sie auf Rei­sen in Frank­reich ken­nen­ge­lernt haben.

»Das ist außer­dem ein guter Grund, um öfter mal einen Wein zu trin­ken und nach Frank­reich zu fah­ren«, sagt Ole.

Unse­re Wahl fiel auf einen 2013er Vac­quey­ras aus der Domaine »La Gar­ri­gue«.
Da ich kei­ne Ahnung von Wein habe, muss ich mei­ne Wein-Kri­tik auf das Wort »lecker« beschrän­ken.

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Kur­ze Zeit spä­ter ist auch der Bra­ten fer­tig.
Drei- bis vier­mal im Jahr nimmt das Ehe­paar Couch­sur­fer bei sich auf.

»Zu vie­len sagen wir auch nein. Beim Tøn­der Fes­ti­val zum Bei­spiel. Da haben wir oft mehr als 30 Anfra­gen. Wir sagen auch zu Nord­deut­schen und ande­ren Men­schen nein, die nur her­kom­men, um zu hei­ra­ten. Wer hei­ra­tet, der kann sich auch ein Hotel­zim­mer leis­ten«, sagt Ole.

Eine Aus­nah­me haben die bei­den gemacht, als eine rus­si­sche Frau, die im Exil in Ber­lin leb­te und eine Frau aus Lett­land hei­ra­ten woll­ten, und sich bei ihnen gemel­det haben.

»Hei­ra­ten durf­ten sie in Deutsch­land nicht. In Däne­mark aller­dings ist das kein Pro­blem und da woll­ten wir ihrer Lie­be nicht im Weg ste­hen«, sagt Ole.

Ihr ers­ter Couch­sur­fer war ein Fran­zo­se, der zu Fuß durch Däne­mark wan­der­te und kein Wort Eng­lisch sprach. Ole traf ihn und sei­nen Hund in Tøn­der, wo er ver­zwei­felt ver­such­te eine Blei­be für sich und sei­nen Hund zu fin­den. Ohne Erfolg.

»Ich bin zu ihm gegan­gen und habe ihm gesagt: Wenn du einen klei­nen Umweg nach Mogel­ton­der machen möch­test, dann war­tet dort eine war­me Mahl­zeit und ein Bett auf dich. Und ein paar Stun­den spä­ter stand er wirk­lich vor unse­rer Haus­tür. Wir haben uns mit Goog­le Trans­la­te und einem Ipad unter­hal­ten, es war ein sehr lus­ti­ger Abend«, erzählt Ole.

Sie haben immer noch Kon­takt. Heu­te kann der Fran­zo­se auch Eng­lisch.

Ein Jahr spä­ter war ein wei­te­rer jun­ger Mann aus Frank­reich zu Besuch. Die Nacht zuvor hat­te er in einem Hüh­ner­stall in Büsum geschla­fen.

»Wir haben ihm als ers­tes ein kal­tes Bier gege­ben und er war glück­lich«, lacht Ole.
Seit­dem kamen Män­ner und Frau­en aus Japan, USA, Eng­land, Chi­le, Frank­reich, Ita­li­en um eine oder meh­re­re Näch­te in Møgel­tøn­der zu über­nach­ten.

»Das ist auch für uns schön, denn wir bekom­men auch etwas dafür von die­sen jun­gen Men­schen. Wir ler­nen etwas über ande­re Län­der und ande­re Kul­tu­ren und haben meis­tens einen gemüt­li­chen Abend mit gutem Essen und Wein«, erzählt Ole.
»Außer­dem ist es schön zu hören, was die Men­schen über Däne­mark den­ken«, sagt Lene.

»Wie viel wis­sen Deut­sche eigent­lich über Däne­mark? Also ein ganz gewöhn­li­cher Deut­scher?«, fragt Ole.

»Ein gewöhn­li­cher Deut­scher? Wenig. H.C. Ander­sen und die klei­ne Meer­jung­frau. Feri­en­häu­ser und Carls­berg. Das war’s, fürch­te ich. Ich den­ke, die meis­ten in Deutsch­land wis­sen nicht mal, wie eure Köni­gin heißt. Oder dass es eine däni­sche Min­der­heit in Schles­wig-Hol­stein gibt. Oder eine deut­sche Min­der­heit in Däne­mark. Und was den­ken Dänen über Deut­sche?“, fra­ge ich.

»Am meis­ten, dass alles kor­rekt und ordent­lich sein soll. Ord­nung muss sein!«, lacht Lene.

»Und ihr nennt die Leu­te beim Nach­na­men, oder? War­um?«, fragt Ole.

»Das kann ich dir ehr­lich gesagt auch nicht erklä­ren. An der Uni in Søn­der­borg hat­ten wir eine Dozen­tin. Mei­ne däni­schen Kom­mi­li­to­nen nann­ten sie Maria und die Deut­schen muss­ten sie Frau Bon­ner nen­nen, obwohl wir den glei­chen Kurs bei ihr hat­ten. Sie hat es damit erklärt, dass es ein­fach ein Kul­tur­ding ist, erklä­re ich.
Ole schüt­telt nur mit dem Kopf.

Der letz­te Couch­sur­fer kam mit dem Fahr­rad und war auf dem Weg von Bour­deux nach Oslo. Die meis­ten nut­zen Møgel­tøn­der nur als Zwi­schen­stop auf ihrem Weg, um einen Halt am Wat­ten­meer zu machen.

Viel Sight­see­ing kann man in Møgel­tøn­der nicht machen, abge­se­hen vom Schacken­borg Schloss und der nahe­ge­le­ge­nen Gren­ze in Rud­bøl. Aber das wol­len auch die wenigs­ten, die hier­her kom­men, um bei Lene und Ole zu über­nach­ten.

Sie wol­len ent­span­nen, ein Glas Rot­wein trin­ken oder vier und die däni­sche Gemüt­lich­keit genie­ßen.

Das machen wir auch an die­sem Abend. Wir reden über alles mög­li­che. Über Rei­sen und fer­ne Län­der, über Kul­tur und Musik und über die Unter­schie­de zwi­schen Däne­mark und Deutsch­land.

»Was meinst du, ist der größ­te Unter­schied zwi­schen Deut­schen und Dänen?«, fragt Ole.

Das habe ich mich tat­säch­lich des öfte­ren gefragt, seit ich an der Gren­ze woh­ne.
»Ich glau­be »typisch deutsch« ist die­ses stän­di­ge Meckern, nicht zufrie­den zu sein. Kein Volk der Welt hat so viel und meckert gleich­zei­tig so viel. Das Auto unse­res Nach­barn ist immer ein biss­chen grö­ßer, neu­er, schö­ner, schnel­ler als das eige­ne«, sag ich.

Wäh­rend ich das sage, fällt mir auf, wie oft ich eigent­lich dar­über mecke­re, wie oft die Deut­schen meckern.

Es ist ein Teu­fels­kreis.

»Du und Lene, ihr wirkt auf der ande­ren Sei­te sehr zufrie­den«, sage ich.

»Das sind wir auch. Wir schät­zen die klei­nen Din­ge. Fami­lie, gute Gesprä­che, gutes Essen. Das ist Hyg­ge. Die Gesell­schaft ist hier wich­ti­ger, als der Ein­zel­ne. Wir pas­sen auf­ein­an­der auf, wir ver­trau­en ein­an­der und hel­fen ein­an­der«, sagt Ole.

Ich muss an die däni­sche Jan­tel­oven den­ken, eine Art skan­di­na­vi­scher Ver­hal­tens­ko­dex, der das Kol­lek­tiv über ego­is­ti­sches Erfolgs­stre­ben stellt, und den ich immer etwas gru­se­lig fand.

„Dies ist das Gesetz von Jan­te

  1. Du sollst nicht glau­ben, dass du etwas Beson­de­res bist.
  2. Du sollst nicht glau­ben, dass du uns eben­bür­tig bist.
  3. Du sollst nicht glau­ben, dass du klü­ger bist als wir.
  4. Du sollst dir nicht ein­bil­den, dass du bes­ser bist als wir.
  5. Du sollst nicht glau­ben, dass du mehr weißt als wir.
  6. Du sollst nicht glau­ben, dass du mehr wert bist als wir.
  7. Du sollst nicht glau­ben, dass du zu etwas taugst.
  8. Du sollst nicht über uns lachen.
  9. Du sollst nicht glau­ben, dass sich irgend­je­mand um dich küm­mert.
  10. Du sollst nicht glau­ben, dass du uns etwas bei­brin­gen kannst.«

»Aber du kannst doch nicht sagen, dass das nor­mal für Däne­mark ist, oder?«

»Doch, wir sind voll­kom­men durch­schnitt­lich. Die meis­ten Dänen sind so. Es gibt natür­lich eine Mas­se an Men­schen, die mehr Geld haben als ich. Aber die sind nicht glück­li­cher. Ich bin zufrie­den. Es gibt sicher­lich vie­le Din­ge, die ich nicht habe, aber die Din­ge sind nicht wich­tig für mich. Aben­de wie die­ser hier, zum Bei­spiel«

Das hat er schön gesagt.

»Skål for gen­n­ems­nit­lig­he­den – Auf den Durch­schnitt«, sage ich und hebe mein Glas.
»Skål for gen­n­ems­nit­lig­he­den«, sagt Ole.

Am nächs­ten Mor­gen wer­de ich bereits vom Duft von frisch geba­cke­nem Brot und frisch gebrüh­tem Kaf­fee geweckt,

»Wird jeder Couch­sur­fer so gut von euch bewir­tet?«, fra­ge ich Ole.

»Ja klar.«

»Aber war­um macht ihr das? War­um lasst ihr frem­de Men­schen bei euch schla­fen und gebt ihnen gutes Essen und Wein, obwohl ihr sie gar nicht kennt?«

Ole über­legt kurz.

»Weißt du, wir haben selbst Kin­der und wir hof­fen, wenn unse­re Kin­der unter­wegs in der Welt sind, dass es dann auch eini­ge Men­schen gibt, die sich rich­tig gut um sie küm­mern. Und daher ver­su­chen wir uns auch um ande­re jun­ge Men­schen zu küm­mern, wenn sie hier­her kom­men. Für uns ist es ein­fach ein gutes Leben, das wir haben und davon geben wir ger­ne etwas ab. Wenn die jun­gen Leu­te wie­der zuhau­se sind, sol­len sie sagen kön­nen: »Dann waren wir also in die­sem klei­nen Dorf. In Møgel­tøn­der. Und da waren zwei merk­wür­di­ge Men­schen. Und es war ein­fach so schön.« Und wenn sie das sagen kön­nen, dann war es das doch wert, oder nicht?«, erklärt Ole.

Ich bin tat­säch­lich etwas gerührt.
»Ole, wenn das der Durch­schnitt ist, dann sind die Dänen ein glück­li­ches Volk, sage ich.
»Ja, das sind wir«, ant­wor­tet Ole.

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Antworten

  1. Avatar von Aylin

    Schö­nes Erleb­nis, schön geschrie­ben. Jetzt möch­te ich auch Lene und Ole besu­chen

    1. Avatar von Lennart Adam

      Kann ich ver­ste­hen, ich wäre am liebs­ten bei ihnen ein­ge­zo­gen 😉

  2. Avatar von andreas
    andreas

    des­pa­Ci­to, um Got­tes Wil­len :))

    1. Avatar von Lennart Adam

      Ent­schul­di­ge mein Fran­zö­sisch…

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