Planlos durch Hanoi

Ich bin müde. Eigent­lich woll­te ich mei­ne letz­ten Tage in Viet­nam noch gut nut­zen, doch jetzt ist es bereits Nach­mit­tag und ich bin immer noch im Bett. Wür­de sich mein knur­ren­der Magen nicht zu Wort mel­den, ich wür­de wohl den gan­zen Tag lie­gen blei­ben. Habe ich nach fünf Mona­ten in Süd­ost­asi­en ein Rei­seb­urn­out?

Aus­ge­hun­gert stol­pe­re ich erst aus dem Bett und danach auf die Stras­se. An der Kreu­zung ver­schlin­ge ich eine Schüs­sel Phở, danach will ich mir die Bei­ne ver­tre­ten.

Phở, die traditionelle Nudelsuppe - schmeckt echt lecker! Bild-2

Ohne Stadt­plan und ohne Ziel lau­fe ich durch das Cha­os der viet­na­me­si­schen Haupt­stadt. Im Vor­feld habe ich mir nicht ein­mal die Mühe gemacht, her­aus­zu­fin­den was es in Hanoi an Sehens­wer­tem zu ent­de­cken gibt. Ich hab kei­ne Lust auf Sight­see­ing oder Tou­ris­ten­mas­sen. Ehr­lich gesagt, habe ich auf gar nichts Lust. Ich weiss nicht wohin mit mir. Mei­ne Lau­ne ist im Kel­ler.

Ich bie­ge von einer Stras­se in die Nächs­te. Mal nach links, mal nach rechts. Solan­ge bis ich vor mir zwei jun­ge Mön­che bemer­ke die selbst­be­wuss­ten Schrit­tes auf eine klei­ne Sei­ten­gas­se zusteu­ern. Ich über­le­ge nicht lang ehe ich ihnen fol­ge und so ste­he ich auch schon in einem Hin­ter­hof vor einem Tem­pel, wel­chen ich ansons­ten ver­mut­lich über­se­hen hät­te.

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Ich atme den Duft der Räu­cher­stäb­chen ein, die vor dem Tem­pel ange­zün­det wor­den sind. Es dau­ert nicht lan­ge bis plötz­lich immer mehr Men­schen neben mir auf dem Platz ste­hen oder an mir vor­bei gehen. Die meis­ten sind grau­haa­ri­ge Viet­na­me­sin­nen. Sie zie­hen ihre Schu­he aus und set­zen sich war­tend auf den Tem­pel­bo­den.

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Eine der alten Frau­en winkt mir zu. Über mei­ne Schul­ter schau­end ver­ge­wis­se­re ich mich, dass sie auch wirk­lich mich gemeint hat, dann bege­be ich mich eben­falls in den Tem­pel und setz­te mich neben sie. Gemein­sam mit ihren Freun­din­nen redet sie auf mich ein. Ich ver­ste­he kein Wort. Das Ein­zi­ge, das ich erwi­dern kann ist; Xin chào! Hal­lo! Eine drückt mir ein Glas Tee in die Hand. Bevor ich mich bedan­ken kann, ver­stum­men alle abrupt.

Einer der Mön­che hat sich zuvor­derst hin­ge­setzt, mit dem Gesicht uns zuge­wandt. Er stimmt einen ange­neh­men Sprech­ge­sang an und nach einer Wei­le geht der Gesang in die nor­ma­le Art des Redens über. Die Frau­en hören auf­merk­sam zu, manch­mal nicken sie zustim­mend, manch­mal lachen sie auf. Der Mönch scheint wit­zig zu sein. Ich hät­te ihn zu ger­ne ver­stan­den. Trotz­dem blei­be ich sit­zen.

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Nach einer hal­ben Stun­de grei­fen die Damen nach ihren dün­nen Gebets­bü­chern und begin­nen zu sin­gen. Inter­es­siert beäu­ge ich das Buch mei­ner Sitz­nach­ba­rin und ver­su­che zu fol­gen. Dann wühlt die Frau in ihrer Tasche und zieht ein zwei­tes Buch dar­aus her­vor. Ich neh­me es dan­kend an und sie zeigt mir, wel­cher Absatz gera­de gesun­gen wird.

Glück­li­cher­wei­se wer­den im Viet­na­me­si­schen die uns bekann­ten Buch­sta­ben ver­wen­det und so kann ich unge­fähr erah­nen, wie sich die ein­zel­nen Wör­ter aus­spre­chen las­sen. Die Frau­en sind alle bei der Sache und sin­gen vol­ler Inbrunst mit. Ich tue es ihnen gleich. Stun­de um Stun­de ver­geht. Wir sin­gen bis der Text auf der letz­ten Sei­te zu Ende ist, dann begin­nen wir wie­der von vor­ne. Und von vor­ne. Und von vor­ne.

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Seit gut drei Stun­den knie ich nun schon auf dem Tem­pel­bo­den und sin­ge viet­na­me­si­sche Gebe­te. Eini­ge der alten Frau­en nicken mir aner­ken­nend zu. Ich bin glück­lich und doch fra­ge ich mich: Was mache ich eigent­lich hier? Alles ist so unwirk­lich.

Vom stun­den­lan­gen Sit­zen schmer­zen mir Bei­ne und Rücken. Den­noch rüh­re ich mich nicht und sin­ge mir wei­ter­hin die Keh­le aus dem Hals. Die Atmo­sphä­re lässt mir alle Haa­re zu Berg ste­hen und ich bin vor lau­ter Dank­bar­keit, für die­se Wen­dung des Tages, den Trä­nen nahe. Wel­che Zufäl­le muss­ten zusam­men­spie­len, dass es mir mög­lich ist genau jetzt hier zu sit­zen?

Was für ein magi­scher Moment! 

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Die Frau­en schla­gen ihre Bücher zu und ste­hen auf. Ich muss mich erst­mal wie­der fan­gen – und die Bei­ne aus­schüt­teln. Sie sind ein­ge­schla­fen.

Draus­sen bit­te ich die net­te Frau, wel­che mir zuvor zuge­wun­ken hat, ein Foto von ihrem Gebets­buch machen zu dür­fen. Statt­des­sen drückt sie es mir in die Hand, gibt mir zu ver­ste­hen, dass sie es mir schen­ken möch­te und lächelt.

Auch die ande­ren Frau­en lächeln mich an und ver­beu­gen sich leicht zum Abschied. Wie­der tue ich es ihnen gleich. Dann ver­schwin­den sie so schnell, wie sie gekom­men sind.

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Ich befin­de mich wie­der allei­ne auf dem Platz vor dem Tem­pel und atme den Duft der Räu­cher­stäb­chen ein. Per­plex und tief ent­spannt blei­be ich noch eine Wei­le ste­hen.

Ich habe mich wie­der beson­nen und erin­ne­re mich, wes­halb ich vor bald einem hal­ben Jahr ins Flug­zeug gestie­gen bin; Ich woll­te Ein­bli­cke in frem­de Kul­tu­ren erhal­ten und mei­ne Tage so gestal­ten, wie ich will. Es läuft also alles nach Plan. Wenn ich den hal­ben Tag ver­schla­fen will, dann will ich das eben.

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Bild-15Mit einem Grin­sen im Gesicht schlen­de­re ich zum Park im Stadt­zen­trum und setz­te mich auf eine Bank. Kei­ne zwei Minu­ten spä­ter krie­ge ich Gesell­schaft von einem jun­gen Stu­den­ten: „Can I talk to you? I would like to prac­ti­ce my Eng­lish.“

Ich wil­li­ge ein und aus einem Gesprächs­part­ner wer­den plötz­lich zwei, dann drei, dann vier und schliess­lich umringt mich eine gan­ze Grup­pe eif­ri­ger Schü­ler. Kei­ner von ihnen kennt sich, aber alle haben das sel­be Ziel: Ihr Eng­lisch ver­bes­sern, um spä­ter in der Tou­ris­mus­bran­che einen Job zu erhal­ten. Ich hel­fe ihnen ger­ne.

Sie fra­gen mich aus: Über die Schweiz, das Leben in Euro­pa, mei­ne Rei­se. Im Gegen­zug erzäh­len sie mir von ihrem Stu­di­um, ihrer Fami­lie und ihren Träu­men. Der Ältes­te möch­te Sän­ger wer­den. Auf­ge­regt fragt er mich, ob er mir etwas vor­sin­gen darf. „Of cour­se!“ So was las­se ich mir doch nicht ent­ge­hen!

Er beginnt mit den ers­ten Zei­len von Whit­ney Hous­tons Schmacht­song I will always love you. Im Refrain stim­me ich mit ein und die ande­ren Stu­den­ten tuen es mir nach. Zusam­men mit vie­len jun­gen Viet­na­me­sen sit­ze ich also im Park und sin­ge ein Lie­bes­lied. Wie­der kommt mir alles unwirk­lich vor.

Nach einer Stun­de ver­ab­schie­de ich mich und setz­te mei­nen Spa­zier­gang fort. Die Däm­me­rung hat bereits ein­ge­setzt.

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Eine Wei­le spä­ter bemer­ke ich vor einem Gebäu­de auf der gegen­über­lie­gen­den Stras­sen­sei­te eine Men­schen­an­samm­lung. Neu­gie­rig bah­ne ich mir einen Weg durch vor­bei fah­ren­de Mopeds und erken­ne war­um hier so viel los ist. Was­ser­pup­pen­thea­ter steht in gros­ser Schrift über der Ein­gangs­tür.

Ich kau­fe mir ein Ticket und schon sit­ze ich in einem beque­men Ses­sel und war­te bis sich der Vor­hang öff­net. Das Stück ist auf Viet­na­me­sisch. Wie­der ver­ste­he ich kein Wort, wie­der blei­be ich sit­zen, denn ich bin bes­tens unter­hal­ten. Eine Band spielt tra­di­tio­nel­le Klän­ge, die Pup­pen tan­zen im Was­ser, nach jeder Sze­ne wird geklatscht.

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Mit einem Avo­ca­do Eis in der Hand schlen­de­re ich gemüt­lich zum Hos­tel zurück.

Ist das alles tat­säch­lich pas­siert? An nur einem Tag? Als ich am frü­hen Nach­mit­tag mit knur­ren­dem Magen erwach­te, hät­te ich nie­mals mit solch schö­nen Erleb­nis­sen gerech­net. Manch­mal begeg­net man dem Glück genau dann, wenn man es am meis­ten braucht.

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Antworten

  1. Avatar von Chris

    Hi Nora,
    echt inter­es­san­te Ein­drü­cke von Dir, auch wenn ich per­sön­lich Hanoi schon im Vor­feld schätzt. Die Train Street (inzwi­schen lei­der geschlos­sen), Was­ser­pup­pen­thea­ter, Onkel Ho’s Mau­so­le­um, das Gefäng­nis… irgen­wie gab es da viel zu sehen und zu erle­ben (natür­lich auch die rie­si­ge Schild­krö­te gleich auf der klei­nen Insel^^).

    Aber schon irre, wie sehr man als rei­se­af­fi­ner Mensch bei Dau­er­rei­sen in den Trott kom­men kann, dass man eigent­lich auf nicht mehr viel Lust hat, abstumpft usw. Ver­stärkt erneut bei mir die Erkennt­nis, dass eine Welt­rei­se für mich nie mög­lich sei.

    Dan­ke für Dei­ne Ein­drü­cke.

  2. Avatar von Lily Issa
    Lily Issa

    Sehr ein­drück­lich!
    Man fin­det, wenn man es in keins­ter wei­se erwar­tet.

  3. Avatar von Ursula (myVideoMedia )

    Sehr schö­ner Arti­kel ūber einen inter­es­san­ten Tag. Macht Lust auf Viet­nam, aber ich muß mich noch 3 Mona­te gedul­den ☺

    1. Avatar von Norah

      Hal­lo Ursu­la
      Vie­len Dank, das freut mich! Ich war ins­ge­samt einen Monat in Viet­nam und es hat mir wirk­lich sehr gut gefal­len. Möch­te am liebs­ten wie­der zurück und noch mehr Nudel­sup­pe essen 🙂
      3 Mona­te sind ja zum Glück nicht mehr all zu lan­ge – Viel Spass dann!

  4. Avatar von Mel (worldwhisperer)

    WOW, wie sich ein Tag wen­den kann.
    Ich glau­be ich hät­te mich nach­her auch gefragt ob das alles wirk­lich an einem Tag pas­siert ist.
    Aber dass du es so lan­ge sit­zend in dem Tem­pel aus­ge­hal­ten hast: respekt!

    LG Mel

    1. Avatar von Norah

      Hi Mel
      Ja, das war wirk­lich ein ver­rück­ter Tag 🙂
      Habe selbst auch gestaunt, dass ich so lan­ge sit­zen geblie­ben bin… Ich fin­de Tem­pel echt toll und war auch nach acht Mona­ten in Asi­en noch nicht »temp­led out«. So lan­ge hab ich’s nor­ma­ler­wei­se aber schon nicht aus­ge­hal­ten. An die­sem Tag hats ein­fach gepasst 🙂 Und die alten Viet­na­me­sin­nen waren alle super lieb!

  5. Avatar von claudia
    claudia

    Schö­ne Fotos, bild­haft geschrie­ben und vor allem sehr viel erlebt für einen Tag.

    1. Avatar von Norah

      Dan­ke Clau­dia 🙂

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