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Die Periodik des Alltags

Vier Wochen in Peru waren ein erhe­ben­des Erleb­nis: der Titi­ca­ca­see, Machu Pic­chu, die wei­ßen Berge der Anden! Doch vor allem: die Frei­heit, die Eupho­rie, meine Erwar­tung, dass mit die­ser Reise nun alles anders wird. Meine Ernüch­te­rung, dass es nicht so gekom­men ist.

Abflug nach Peru, 23 Stun­den über den Glo­bus, es geht zum ers­ten Mal nach Süd­ame­rika. Eine große Reise.>

Zwi­schen­lan­dung in Atlanta. Der Beamte von der Ein­wan­de­rungs­be­hörde hebt die Hand und legt mir nahe zu schwei­gen, als ich erzäh­len will, was ich in Peru mache: „Holi­days, Sir“. Es inter­es­siert ihn nicht.

Im Flug­ha­fen kaufe ich das Time Maga­zine und The Atlan­tic. Ich trinke einen Kaf­fee und fühle mich sehr sophisti­ca­ted. Ich denke daran, dass Rei­sen über­haupt nicht mehr mon­dän ist.

Boar­ding für den Flug nach Lima. Die Frage, was man sich davon verspricht.

Rei­sen ist diese feine Grat­wan­de­rung: zwi­schen Ein­sam­keit und Allein­sein, zwi­schen bana­ler und anre­gen­der Gesell­schaft, Über­druss und Genüg­sam­keit, stres­si­gem Aktio­nis­mus und Tatendrang.

Die Freund­lich­keit der Ste­war­des­sen: ein Zwang­op­ti­mis­mus, den man irgend­wie schätzt. Diese eupho­ri­sche Erwar­tungs­hal­tung auf einem Inter­kon­ti­nen­tal­flug, obwohl eigent­lich alles stres­sig ist. „Wel­come on bord, Sir.“ Ja! Genau! Recht herz­li­chen Dank.

Über den Wol­ken wird das Ver­hält­nis zu den Bezugs­punk­ten des Lebens neu ver­han­delt: zu Orten und Plät­zen, Bars und Cafés, Stre­cken und Wegen durch die Stadt, aber auch inne­ren Abläu­fen, Mus­tern im Kopf, der Ein­tei­lung des Tages in bestimmte Sinn­ab­schnitte. Zeit zum Aus­span­nen, Arbei­ten, Essen, Tele­fo­nie­ren, dar­aus setzt sich der Tag ja meist schon zusammen.

Die Sehn­sucht des Rei­sen­den: sich der Peri­odik des All­tags entziehen.

Ich trinke einen Rot­wein. Das Gefühl, leicht betrun­ken in die Ferne zu flie­gen, weil das irgend­wie ein gro­ßer Moment ist.

Die Über­heb­lich­keit des Rei­sen­den: Man stellt es – jetzt end­lich, nach lan­ger Mühe, der Rou­ti­ne­ar­beit den Rücken keh­rend – alles bes­ser an.

- Lima Miraflores – 

Wohl­stand kommt ohne Ästhe­tik aus, das sieht man hier ganz deut­lich. Sta­chel­draht auf den Mau­ern der Häu­ser, teure Sushi-Restau­rants, die aus­län­di­schen Bot­schaf­ten ste­hen wie Kaser­nen auf kleins­tem Raum. Der Him­mel hängt grau über Lima. Nur ein paar Sur­fer mit Neo­pren­an­zü­gen stür­zen sich in den Ozean, die Küste fällt steil zum Was­ser hin ab.

Lima Miraflores

Umher­schlen­dern und wis­sen, dass man Zeit hat, dass man sich an nichts ori­en­tie­ren muss, dass man frei ist in sei­nen Entscheidungen.

Die Haut der Bewoh­ner von Mira­flo­res ist sehr hell, hier leben viele Nach­fah­ren der spa­ni­schen Besat­zer, rei­che Leute, die criol­los oder – etwas abfäl­li­ger – chol­los. Es sieht alles so euro­pä­isch aus.

Ich habe vier­ein­halb Wochen in Peru, mehr als einen gan­zen Monat, der keine gere­gel­ten Abläufe kennt. Vier Wochen, die sich anfüh­len wie ein gan­zes Jahr.

- Are­quipa -

Der Bus hat 18 Stun­den gebraucht, wir haben geschla­fen und Filme auf einem klei­nen Fern­se­her geguckt. In 3 Meters above the sky kämpft ein har­ter Typ um eine Frau aus gutem Haus, sie ver­lie­ben sich, aber er kann sei­nem Wesen letzt­lich nicht ent­kom­men, er prü­gelt sich, er ver­saut es, das Ganze nimmt kein gutes Ende.

Wir waren wie­der ein­ge­schla­fen und als wir auf­wach­ten, war drau­ßen plötz­lich Wüste, die costa lag da, tro­cken und karg.

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Wir waren los­ge­fah­ren ohne eine große Idee von etwas, was diese Reise nun bedeu­ten könnte, von etwas, das statt­fin­den müsste: Frauen auf­rei­ßen, Wage­mu­ti­ges tun, mög­lichst den Tou­ris­ten-Tou­ris­ten hin­ter sich las­sen, ins indi­vi­dua­li­sierte Extrem gehen.

Just having a good time.

Der Tag hat schon zwei oder drei Stunde Farbe, als wir uns der wei­ßen Stadt Perus nähern. Schnee­be­deckte Vul­kane am Hori­zont. Der Him­mel ist die­sig, Schnee­kup­pen ragen aus den Wol­ken. Wir suchen ein klei­nes Hos­tel und schlen­dern durch die Gas­sen. Sehr weiße Haut unter sehr wei­ßer Sonne.

Tri­via­les Gefühl, aber: Are­quipa fühlt sich gut an.

Die Lust auf einen Kaf­fee am Nach­mit­tag. Der weite Raum über den schnee­be­deck­ten Vul­ka­nen der Stadt. Blauer Himmel.

In der Santa Cata­lina bie­ten die Geschäfte feine Alpaka-Wolle an. Hand­schuhe, Schals, Pull­over. McDo­nalds und Star­bucks in der Haupt­ein­kaufs­straße. Alles sehr ver­traut und doch ganz weit weg. Man sitzt jetzt mit­ten in Peru und war vor zwei Tagen noch in Deutschland.

War­mes Abend­licht am Plaza Prin­ci­pal de la Vir­gen de la Asun­ción, die mäch­tige Kathe­drale aus Sil­lar­ge­stein über­ragt den Platz, Kin­der scheu­chen Tau­ben auf, das Son­nen­licht bricht sich im Was­ser des Spring­brun­nens, über­all sind Men­schen. Gelb­sti­chige Stadt, alles retro und doch Gegenwart.

Die ange­nehme Anony­mi­tät des Reisenden.

Der Wunsch: auf einer Bank sit­zen und glück­lich sein.

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- Abends in Cabanaconde -

Das Kärg­li­che, Ärm­li­che for­dert den igno­ran­ten Tou­ris­ten her­aus, der über­all ein­fach nur rum­sit­zen und sich toll füh­len möchte.

Ein­sam­keit, Beklem­mung. Was willst du hier, Fremder?

Frauen in bun­ten Gewän­dern, tiefe Fal­ten, große Hütte. Scham, dass man die iso­lierte und länd­li­che Armut pit­to­resk fin­det. Der pri­vi­le­gierte weiße Mann foto­gra­fiert die armen Bauern.

Wir wan­dern einen Tag hinab in die Schlucht des Colca-Can­yons und wie­der her­auf, denn wir wol­len schnell wei­ter, zum gro­ßen Titi­ca­ca­see im Süden des Landes.

Was lässt sich in wel­cher Zeit sehen? Rei­sen als Kon­sum­op­ti­mie­rung: Orte ablau­fen, Fotos schie­ßen, abha­ken. Das, wofür man die Pau­schal­tou­ris­ten spöt­tisch bemit­lei­det und verachtet.

Mor­gen wol­len wir weiter.

Das Unver­mö­gen, sich davon freizumachen.

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- Auf der Fahrt nach Puno -

Wir fah­ren mit dem Bus hin­auf auf die Hoch­ebene der Alti­plano, vor­bei am Misti und Chachani, immer höher schraubt sich die Straße. Man erwar­tet jetzt eigent­lich einen Pass, einen Schei­tel­punkt, hin­ter dem es gleich wie­der bergab geht. Doch dann tut sich das Hoch­land auf, mehr als 3500 Meter hoch, bis weit an den Hori­zont. Nichts außer wei­tem Gras durch­zo­gen von Tümpeln.

Hin­ein­fah­ren in die Nacht, Men­schen­leere. Die­ses selt­same Gefühl, tief im Hoch­ge­birge unter­wegs zu sein und den­noch gleich das Meer zu erreichen.

Gefällt man sich eigent­lich in dem, was man macht?

Wir wis­sen nicht, ob sich die Land­schaft gleich ver­än­dert. Wie sich das Tal immer wei­ter auf­tut, als habe es jemand mit einem Mes­ser auf­ge­schnit­ten, wo man eigent­lich glaubte, gleich ginge es über­haupt nicht mehr wei­ter. Wie man im Bus dasitzt und durch das perua­ni­sche Hoch­land fährt.

Ist das wich­tig, dass man sich dabei gefällt? Oder gerade nicht?

>Diese Frage ließe sich ja jedem ultra­pro­le­ten­haf­ten Par­ty­ur­lau­ber stel­len, der am Sams­tag­abend in El Are­nal in so eine ver­hei­ßungs­volle Nacht zieht, frisch rasiert, gestylet, braun gebrannt, in die­ser selbst­ge­wis­sen Vor­freude auf die Ereig­nisse der Nacht. Der gefällt sich sicher auch, in dem gan­zen Ding, das er da durchzieht.

Drau­ßen ist es kom­plett dun­kel, wir sehen nichts mehr.

Rei­sen als ein sehr selbst­be­stä­ti­gen­der Akt, also als ein kom­plett sozia­ler Akt, der die­sen Spie­gel braucht.

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- Abends in Puno -

Die Lich­ter der Stadt, weiß und orange.

Unheim­lich ist das Wis­sen, dass hin­ter dem See, noch viel tie­fer auf die­sem Kon­ti­nent, nur noch Urwald kommt, tau­sende Kilo­me­ter weit. Wir müs­sen ein Zim­mer für die Nacht finden.

Wie stark der Ablauf des Tages Maß und Ori­en­tie­rung auf Rei­sen gibt. Bus­fahrt­zei­ten, eine offene Grenze, die Dunkelheit.

Man sitzt ja nicht den gan­zen Tag bei irgend­wel­chen Urvöl­kern, wan­dert auf ein­sa­men Berg­pfa­den, liegt pir­schend im Busch. Man fährt Bus, man geht „kurz ins Inter­net“ und liest die Nach­mit­tags­zu­sam­men­fas­sun­gen der ein­schlä­gi­gen Nach­rich­ten-Web­sites, man sucht etwas Ver­nünf­ti­ges zu essen und will gele­gent­lich ein­fach einen guten Kaf­fee trin­ken (ganz oft schwierig).

Drau­ßen auf den Stra­ßen läuft eine Parade durch die Stadt, wir wis­sen nicht, wel­ches Fest gefei­ert wird, aber die Bür­ger­steige sind voll, Män­ner trin­ken Alko­hol, spie­len Instru­mente. Die Ver­klei­de­ten tan­zen über die Fahr­bahn. Lau­tes, lebens­fro­hes Puno.

Immer wie­der die Frage, warum man reist, warum an einen bestimm­ten Ort?

Wir suchen ein pas­sa­bles Restau­rant. Das cevi­che wird mit einer roten Schote ser­viert, ich beiße herz­haft hin­ein, weil ich denke, dass es sich um Paprika han­delt. Schmerz und Trä­nen. Die lachen­den Kell­ner. Die Ver­las­sen­heit von Puno, die wir wahr­neh­men. Das laute Leben, das drau­ßen vor uns an der Tür vor­bei­zieht. Der Wider­spruch in die­sem Moment.

Ich bestelle Milch, um die Schärfe zu beru­hi­gen, damit ich wei­ter essen kann. Zum Abschluss gibt es  papaya con leche und Kaf­fee (mäßig gut, aber mit viel Milch).

Mein Ver­lo­ren-Sein in der Ferne.

- Auf der Fahrt nach Copacabana -

Im Bus zur Grenze: Hip­pies mit Schal und die­ser Nage­tier­fri­sur, die Sei­ten kurz, im Nacken ganz lang. Die Ein­la­dung zu einem Rave auf der Isla del Sol. Leute mit komi­schen Fle­cken im Gesicht, lächelnd und drauf.

Mein Zorn auf die Back­pa­cker. Wie sie dasit­zen in ihren lum­pi­gen Kla­mot­ten und Armut zele­brie­ren. Ihre Lang­weile im Gesicht, ihre gespielte Abge­klärt­heit. Wie sie sich an nichts mehr begeis­tern kön­nen und trotz­dem alles awe­some finden.

An der Grenze zu Boli­vien müs­sen wir aus­stei­gen und die Pässe stem­peln lassen.

Diese Anma­ßung der Tra­vel­ler-Kaste, die behaup­tet, das Land und die Leute ken­nen­ler­nen zu wol­len, die soge­nannte Kul­tur, und dann diese däm­li­che Frage, in wel­cher Zeit das denn über­haupt zu machen wäre: zwei Wochen, zwei Monate, zwei Jahre?

Mein Ein­ge­ständ­nis, dass ich nur für mich reise, dass das eine ganz ego­is­ti­sche Kom­po­nente hat.

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- Cusco -

Wie­der liegt eine lange Nacht­fahrt hin­ter uns. Wir lau­fen herum und wis­sen nichts mit dem Tag anzu­fan­gen, außer her­um­zu­lau­fen. Cusco ist son­nig und klar an die­sem Tag.

Was ich glaube: Das Zuhause reist mit, es ver­än­dert die Reise, die Sicht auf die Reise, die Herangehensweise.

Wir sind in der Haupt­stadt des alten Inka-Rei­ches, Cusco ist das kul­tu­relle Zen­trum Südamerikas.

Am Plaza del Armas vor den wuch­ti­gen Igle­sia de Com­pa­ñía gibt es einen gro­ßen Stra­ßen­um­zug. Die Kin­der aus den Kin­der­gär­ten der Stadt haben sich ver­klei­det. Kos­tüme und Comedy, Folk­lore und Batman.

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Müsste man nicht eigent­lich kom­plett alleine reisen?

Wir sit­zen auf der Treppe nahe den Arka­den­gän­gen und essen – gegen jedes unge­schrie­bene Back­pa­cker-Gesetz – einen Cheese­bur­ger von McDo­nalds. Es wird Abend in Cusco, am nächs­ten Tag wol­len wir Machu Pic­chu sehen.

Ist Rei­sen nun Welt­ent­zug oder nicht? Wie alt­mo­disch die­ser Gedanke ist, letzt­lich dumm. Meine Sehn­sucht nach einer grö­ße­ren Welt.

Viel­leicht muss man die Gren­zen von Hei­mat und Ferne auf­he­ben, das Inter­net immer dabei haben, Mails che­cken, an Arti­keln fei­len, Online-Ban­king machen, all diese Dinge. Oder genau das Gegen­teil tun.

„Mach die Welt zu dei­nem zuhause.“ Wie ich es nicht mehr hören kann.

Am Mor­gen der schlimme Kater. Wir sind in so einem Sauf­tou­ris­ten-Hos­tel abge­stie­gen, bestimmt 400 Schlaf­plätze, Happy Hour jeden Abend, die Drinks sind groß und stark gemischt. An der Bar nur crazy dudes, die den gan­zen Tag gute Laune haben, dabei hat man ja fast nie den gan­zen Tag gute Laune.

Was ich nicht sagen kann: dass sich der Mensch allein durch das Rei­sen in sei­nen Gewohn­hei­ten ver­än­dert, ob ihm das Rei­sen eine Ver­än­de­rung aufzwingt.

Meine Gewiss­hei­ten und wie sie schwinden.

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- Iqui­tos -

Peru sieht hier ganz anders aus als im Rest des Lan­des, irgend­wie kari­bi­scher, denke ich mir, obwohl ich noch nie in der Kari­bik war.

Wie läs­sig es ist, durch Iqui­tos zu fah­ren in einem offe­nen Drei­rad, das eigent­lich nichts kos­tet. Ein­fach her­um­fah­ren. Wir bre­chen auf in den Dschun­gel, zwei Tage sind wir fort im Amazonas-Regenwald.

Der Wunsch, dass die Pla­nung ent­glei­tet. Die Angst, dass es wirk­lich so kommt.

Am Hafen essen wir fang­fri­schen Fisch, der fast nichts kos­tet. Wie freund­lich die Men­schen sind, und sei es nur, weil sie etwas ver­kau­fen wol­len. Wie egal mir das ist.

Immer wie­der einen Kaf­fee trin­ken (warum eigent­lich?) – Her­um­sit­zen unter der tro­pi­schen Sonne. Die Frage, was nun anzu­fan­gen wäre mit die­ser Reise, was sie bedeu­ten kann, was sie aus­ge­löst hat, warum das nun gut war, hier­hin oder dort­hin zu fahren.

Wie ich nicht raus­komme aus mei­nem dum­men Kopf.

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- Auf dem Weg nach Huaraz -

Fahrt durch den Elends­gür­tel nach Nor­den. Knapp ein Drit­tel aller Perua­ner woh­nen in Lima. An jeder Ecke: Händ­ler, Schmugg­ler, Che­cker, die infor­mel­len Arbei­ter der infor­mel­len Sied­lun­gen, pri­mi­tiv zusam­men­ge­bas­telt aus Schilf­rohr, Well­blech und Abfall. Die bar­ria­das erobern die tro­cke­nen Hänge der Küstenwüste.

Ich will etwas Sinn­vol­les zu Papier brin­gen, aber es gelingt nicht.

Der Hum­boldt­strom treibt den Nebel an Land, den grauen garúa, der alles etwas depres­siv aus­se­hen lässt. End­lose trübe Küste ent­lang der Panamericana.

Bus­fahr­ten sind ganz wich­tig, weil einem dann erst diese Gedan­ken kom­men, weil man dann erst Zeit hat, alles zu reflek­tie­ren und zu sinn­voll schei­nen­den Schlüs­sen zu ver­bin­den, obwohl man ja weiß, dass das alles wie­der nur tem­po­räre Ein­sich­ten sind, aber anders geht es gar nicht. Man kann nicht immer ver­su­chen, zeit­lose Wahr­hei­ten auf­zu­schrei­ben, bei denen jeder in zwan­zig Jah­ren zustim­mend nickt, damit braucht man gar nicht anfan­gen, das gelingt viel­leicht ein­mal in drei Tex­ten. Also: die Erwar­tun­gen zurück­schrau­ben und das Tem­po­räre zulassen.

Wie­der: Hin­ein­fah­ren in die Nacht, die­ses Mal bin ich allein, end­lich allein. Das Land fal­tet sich auf, als der Bus die Küste ver­lässt. Meine Sehn­sucht nach dem Gebirge.

Meine Unzu­frie­den­heit mit mir selbst.

- Im Natio­nal­park Huascarán -

Ich liege im Zelt auf 3900 Metern, drau­ßen die ver­glet­scher­ten Sechs­tau­sen­der der Cor­dil­lera Blanca. Que­ñua-Bäume wach­sen ent­lang des klei­nen Flus­ses an unse­rem Lager­platz im Llanganuco-Tal.

Meine Über­le­gung: wie viel Zeit es braucht, sich von den Struk­tu­ren und Zwän­gen der Hei­mat zu lösen, und ob dazu nicht Abge­schie­den­heit, Ein­sam­keit und ein kla­rer Bruch nötig sind.

Drau­ßen macht Mar­cus, unser Koch, das Abend­essen fer­tig. Stille im Tal. Mein Wunsch, eine Zei­tung zu lesen.

Die Ver­mu­tung: Es ist eine unglaub­lich wich­tige Erfah­rung, ein­mal mit sich selbst allein in der Fremde zu sein, damit man sei­nen Platz in der Welt fin­det, ein Ver­hält­nis, ein Arran­ge­ment tref­fen kann mit all dem Unbe­kann­ten, das einem im Leben begeg­net, ganz grundsätzlich.

Am nächs­ten Mor­gen: Auf­bruch zum Basis­la­ger des Nevado Pisco. Große Euphorie.

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- Hua­raz -

Nach einer Woche in der Wild­nis: erst mal wie­der duschen und dann ein net­tes Restau­rant suchen. Wie gut es tat, wirk­lich raus zu sein. Plötz­lich schei­nen Dinge wie­der mög­lich zu sein.

Meine Freude über das, was war.

2012. What a year. Januar: Total­abs­ti­nenz, Klar­kom­men, Ruhig­stel­len, kein Alko­hol und keine Musik, bitte über­haupt keine Emo­tio­nen, lie­ber Nicht­emp­fin­den als mie­ses Emp­fin­den. Februar: wie­der Ran­tas­ten, alles schon okay, der Weg stimmt.

Ich rufe meine Eltern an, die sich schon Sor­gen gemacht haben, und laufe abends ein­fach die Stra­ßen bergan, ich weiß nicht, wohin ich gehe.

März: Reise, Bruch, Refle­xion, zum letz­ten Mal. April: so ein offe­ner, wei­ter, brei­ter Som­mer kün­digt sich an, der viel ver­heißt, erah­nen lässt. Mai: Umzug, eine Ände­rung der all­ge­mei­nen Umstände. Und auch: raus aus dem eige­nen Hirn, irgend­wie der Selbst­ver­fol­gung entkommen.

Ober­halb von Hua­raz haben sich rund 400 Men­schen ver­sam­melt. Bier­käs­ten, ganze Schweine auf dem Grill, Volks­fest­stim­mung. Was ich erst lang­sam begreife: Es soll hier einen Stier­kampf geben. Die Leute suchen sich die bes­ten Plätze am Hang. Trun­ken­heit und Hand­ge­menge. Die Leute lachen mich an und sagen „gringo“.

Juni: Der Rei­se­mo­ment, ein Monat ent­wur­zelt, aber über­all glück­lich, sogar mit viel Arbeit, unge­wohn­ter Arbeit. Eine Zeit, die man erst im Rück­blick als Wen­de­punkt erkennt. Brüs­sel, diese Som­mer­nacht, Tan­zen bei Madame Mus­ta­che, Mor­gen­som­mer­licht, Herz­klop­fen. Da steht man wie­der auf der Bühne des Lebens und sitzt nicht mehr in der Grübelkammer.

So irre, so vie­les, die­ses Jahr. Blick auf die Berge hin­ter Hua­raz nach einer Woche im Gebirge, nur mit dem Berg­füh­rer und mir selbst: fast schon zu gut die­ser Sommer.

Bevor der Stier­kampf rich­tig los­geht und die Sonne hin­ter den Ber­gen ver­schwun­den ist, laufe ich wie­der run­ter in die Stadt.

Mein Opti­mis­mus in die­ser Stunde.

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- Zurück in Lima -

In der Hitze des Mit­tags laufe ich nach Bar­ranco. Ich bin allein und trinke Wein in einem klei­nen Restau­rant. Wie ich ein­fach ziel­los umher­laufe und mich frage, was das soll.

Mein Ver­such, durch das Ver­schwin­den in der Ferne in der Hei­mat alle Teile noch mal neu zu ord­nen, sie anders zusammenzusetzen.

Das Ver­schwin­den gelingt beson­ders gut im Stadt­ver­kehr. Junge Paare, die knut­schen: Das ist immer ein schö­nes und gleich­zei­tig melan­cho­li­sches Bild, weil es einen an Zei­ten erin­nert, wo nicht so viel aus­ge­han­delt wer­den musste, weil es mehr gab, dass die Rich­tung, den Rah­men vorgab.

Viel­leicht wol­len sich junge Men­schen ein­fach schi­cke Anzieh­sa­chen kau­fen, mit ihren Freun­den in der Mall abhän­gen und die neus­ten Lie­der auf ihrem Smart­phone haben. Und viel­leicht ist das über­haupt nicht verkehrt.

Meine Erkennt­nis: Die Reise an sich, also die Bewe­gung von einem Ort zu einem ande­ren, die man eher als Fort­be­we­gung bezeich­nen muss, ist erst ein­mal über­haupt nichts wert.

Wie kann das Rei­sen eine gänz­li­che andere Erfah­rung sein als das Leben zuhause, wenn man sich den glei­chen Mecha­nis­men unterwirft?

Meine Ver­wir­rung in die­ser Frage.

Der letzte Abend am Plaza Mayor. Ich setze mich auf die Stu­fen der Kathe­drale von Lima. Ich wälze die grund­sätz­li­chen Fra­gen des Lebens. Vier Wochen sind vor­bei, aber es kommt mir vor, als sei ich erst ges­tern ange­reist. Meine Rastlosigkeit.

Das Taxi Rich­tung Flug­ha­fen ist pünktlich.

Die Illu­sion, dass zu Hause alles anders wird.

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Cate­go­riesPeru
  1. Tara says:

    Sehr schöne Ein­drü­cke und cool geschrie­ben! Auch die Fotos finde ich toll. Ihr habt hier immer rich­tig tolle Geschich­ten zu fin­den, das lenkt mich extrem vom Arbei­ten ab und lässt träumen
    Bald geht es für mich hof­fent­lich auch nach Peru

    Liebe Grüße und schreibt wei­ter Geschichte(n),
    Tara

  2. Hirnblaehung says:

    Grau­en­haft geschrie­ben .… ( Geschmä­cker sind ja bekannt­lich verschieden … )

    Aber danke für die Bilder :)

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