Liberté, Égalité, Utopie. Paris entdecken: Auf den Spuren von Vincent van Gogh, in Belleville und bei Rosa Bonheur

Not­re Dame, Lou­vre, Eifel­turm: Die tou­ris­ti­schen Attrak­tio­nen von Paris zie­hen jähr­lich 50 Mil­lio­nen Besu­cher an. Natür­lich sind die Bau­wer­ke alle sehens­wert. Den Puls die­ser Stadt füh­le ich aber nicht im Zen­trum mit sei­nen prunk­vol­len Palais, son­dern in Bel­le­ville und im Stadt­wald Bois de Vin­cen­nes.

Ein Him­mel in Pas­tell­tö­nen spie­gelt sich im Fluss. Hin­ge­tupf­te dun­kel­blaue Schat­ten umtan­zen fünf ocker­gel­be Ruder­boo­te, die am Ufer ruhen. Über einen Eisen­trä­ger, der über zwei stei­ner­nen Stütz­pfei­lern liegt, rat­tert eine Dampf­lok. „Vin­cent van Gogh hat die­ses Bild genau an der Stel­le gemalt, an der wir gera­de sind“, sagt Nico­las Sirot, der uns das Gemäl­de namens „Brü­cken über der Sei­ne bei Asnié­res“ zeigt, wäh­rend wir in sei­nem klei­nen Motor­boot auf sanf­ten Wel­len hin- und her­schau­keln.

1886 reist Vin­cent van Gogh zu sei­nem Bru­der Theo, dem Geschäfts­füh­rer des Kunst­han­dels Gou­pil am Bou­le­vard Mont­mart­re. Damals ist Asniè­res noch ein idyl­li­scher Vor­ort. Im Ate­lier von Fer­nand Cor­mon nimmt der Künst­ler Unter­richt, er trifft Émi­le Ber­nard, der ihm von Asniè­res erzählt. Nur drei Mona­te arbei­tet Vin­cent van Gogh im Jahr 1887 im Nor­den von Paris, dafür ist der Exzen­tri­ker so pro­duk­tiv als sei er in einer mani­schen Epi­so­de, etwa 40 Bil­der ent­ste­hen, dar­un­ter drei Tri­pty­chen.

Nico­las Sirot hat einen Kata­log dabei, mit Gemäl­den jener Impres­sio­nis­ten, auf deren Spu­ren wir auf der Sei­ne unter­wegs sind. Es ist nicht das groß­bür­ger­li­che Milieu, das Künst­ler im 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­dert fas­zi­niert. Clau­de Monet oder Pierre-Augus­te Renoir inter­es­sie­ren sich nicht für Mode oder Monu­men­te, sie bevor­zu­gen Sze­nen aus dem All­tag. Tan­zen­de Paa­re, Ver­lieb­te beim Pick­nick, See­ro­sen im Teich. Émi­le Ber­nard, Paul Signac oder Geor­ges Seu­rat malen, wie die Indus­tria­li­sie­rung die Land­schaft ver­än­dert: Schlan­ke Schlo­te ragen in die Höhe, Fabrik­ge­bäu­de ducken sich auf Hügel, Eisen­bahn­brü­cken ver­drän­gen Fla­neu­re.

Wäh­rend wir Schau­plät­ze der fran­zö­si­schen Kunst­ge­schich­te ent­de­cken, schip­pern wir vor­bei an Haus­boo­ten mit Pflan­zen auf höl­zer­nen Pon­tons, hei­me­li­gen Bücher­wän­den und coo­len Retro­mö­beln. Alter­na­ti­ve Groß­städ­ter mit gut gefüll­ten Porte­mon­naies zieht es seit den 1970er-Jah­ren in die­se schwim­men­den Appar­te­ments. Etwa 150 Anle­ge­plät­ze gibt es auf der Sei­ne. Güns­tig ist ein sol­ches Zuhau­se nicht.

Ein möblier­tes „bateau mai­son“ mit sie­ben Zim­mern und 250 Qua­drat­me­tern wird im Inter­net der­zeit für 750.750 Euro ange­bo­ten. Ich ver­glei­che die­se Sum­me mit den hor­ren­den Mie­ten und Kauf­prei­sen für Immo­bi­li­en und ver­ste­he alle Bewoh­ner, die sich lie­ber auf dem Fluss nie­der­las­sen, wo sie, statt in Hun­de­kot zu tre­ten, wenn sie zur nächs­ten Bou­lan­ge­rie lau­fen, in aller Ruhe beob­ach­ten kön­nen, wie Kumu­lus­wol­ken über die Boots­dä­cher zie­hen und star­ke Äste der satt­grü­nen Laub­bäu­me ihre Schlaf­zim­mer umar­men.  

Nico­las Sirot möch­te die Sei­ne „zugäng­lich machen.“ Mit sei­nem Sei­ne Club bie­tet er auch Stand-Up-Paddling an. „Komi­scher­wei­se haben vie­le Men­schen Berüh­rungs­ängs­te, sie hal­ten die­sen Fluss für gefähr­lich“, sagt er. Sei­ne Tour zu den Lieb­lings­or­ten der Impres­sio­nis­ten ist eine span­nen­de Zeit­rei­se, bei­na­he wie in dem Film „Mid­night in Paris“ von Woo­dy Allen, in dem der Schrift­stel­ler Gil um Mit­ter­nacht in ein altes Auto steigt, das ihn in die 1920er-Jah­re bringt, wo er Ernest Heming­way, Jose­phi­ne Bak­er, Sal­va­dor Dalí, Pablo Picas­so und ande­re Künst­ler trifft.

Die Boots­fahrt ist auch eine gute Gele­gen­heit, den Mas­sen zu ent­kom­men, die ihre „Bucket List“ abar­bei­ten – und sie macht Lust auf ech­te Kunst: Im obers­ten Stock des Musée d´Orsay hän­gen die Wer­ke von Impres­sio­nis­ten. Das Gebäu­de in einem ehe­ma­li­gen Bahn­hof ist so spek­ta­ku­lär, dass ich über drei Stun­den hier blei­be, ohne mich zu lang­wei­len.

An den Wochen­en­den zieht es vie­le Fran­zo­sen in den Bois de Vin­cen­nes, so heißt ein Stadt­park mit 450 Hekt­ar Wald, 80 Hekt­ar Gär­ten und 20 Hekt­ar Was­ser­flä­chen. Über 500 Arten von Wild­pflan­zen und Tau­sen­de von Vogel‑, Säugetier‑, Rep­ti­li­en- und Insek­ten­ar­ten gibt es hier. Das Kol­lek­tiv Rosa Bon­heur hat 2021 beim Cha­let de la Por­te Jau­ne eine Guin­guet­te eröff­net. Der Name für die­se einst über­wie­gend länd­li­chen Taver­nen lei­tet sich, so erzählt man sich, vom Guin­guet ab, einem leich­ten Weiß­wein.

Neben einem Schiff am lin­ken Sei­ne-Ufer und einem Lokal im Parc des But­tes-Chau­mont ist das Rosa Bon­heur à l´Ouest der drit­te Ort der Grup­pe, die sich für ein gewalt­frei­es, tole­ran­tes Mit­ein­an­der ein­setzt, Street­art-Fes­ti­vals orga­ni­siert und jene Male­rin ver­ehrt, deren Namen sie ange­nom­men hat.  

Rosa Bon­heur wird am 16. März 1822 gebo­ren, sie stammt aus einer Künst­ler­fa­mi­lie, wächst teil­wei­se auf dem Land auf, ohne gesell­schaft­li­chen Zwang. Ihr Vater, Ray­mond Bon­heur, ist Anhän­ger der früh­so­zia­lis­ti­schen Bewe­gung der Saint-Simo­nis­ten, er setzt sich für die Gleich­stel­lung der Geschlech­ter ein. Rosa ist ein unge­stü­mes Mäd­chen, spä­ter benimmt sie sich wie ein Mann, lebt mit einer Gefähr­tin zusam­men.

Sie raucht Zigar­ren und watet im Schlacht­hof durch das Blut der Tie­re, die sie por­trä­tiert. Das Zitat „Ich habe kei­ne Geduld mit Frau­en, die um Erlaub­nis zum Den­ken bit­ten“, soll von ihr stam­men. Von Kai­se­rin Eugé­nie bekommt Rosa Bon­heur 1894 als ers­te Künst­le­rin das Kreuz der Ehren­le­gi­on mit der Bemer­kung, dass das Genie kein Geschlecht habe.

Die Atmo­sphä­re ist an allen Rosa-Bon­heur-Orten fried­lich und ent­spannt, im Osten ist sie gera­de­zu mär­chen­haft. Unter Lam­pi­ons sit­zen Gäs­te auf Klapp­stüh­len und an Bier­ti­schen. Sie dis­ku­tie­ren über Poli­tik und Pro­ble­me im Freun­des­kreis. Ich lau­fe um einen künst­lich ange­leg­ten See her­um, den Lac des Mini­mes. Durch einen dicken Baum­stamm in Huf­ei­sen­form bli­cke ich auf die Was­ser­ober­flä­che, auf der Blü­ten trei­ben.

Ein Chor singt „Je te don­ne“ von Jean-Jaques Gold­man und Micha­el Jones. In die­sem Lied geht es dar­um, was sich zwei Men­schen geben kön­nen, die sich lie­ben. Freun­din­nen umar­men sich. Eine Groß­mutter küsst ihr ein­jäh­ri­ges Enkel­kind. Auf einem Dance­f­lo­or im Inne­ren eines Pavil­li­ons bewe­gen sich Män­ner und Frau­en mit geschlos­se­nen Augen, flie­gen­den Haa­ren und bun­ter Klei­dung, sie sehen so ent­rückt aus als wür­den sie ihre Namen tan­zen.

Wir gehen ins „La Bel­le­vil­loi­se“. Zu die­sem Kul­tur­zen­trum gehö­ren ein Nacht­club für eta­blier­te Sän­ger, ein Café für New­co­mer, in dem an die­sem Abend ein Per­cus­sio­nist und eine Akkor­de­on­spie­le­rin auf­tre­ten und durch des­sen Dach ein Baum wächst und eine 170 Qua­drat­me­ter gro­ße Dach­ter­ras­se auf zwei Ebe­nen. War­um ich mich im 20. Arron­dis­se­ment mit sei­nen Märk­ten und Ate­liers, zwi­schen Maghre­bi­nern, Mada­gas­sen, Sene­ga­le­sen und Chi­ne­sen so wohl­füh­le, weiß ich nicht – viel­leicht, weil ich eben­so reni­tent sein kann wie die muti­gen Män­ner und Frau­en aus Bel­le­ville, die aus der Mon­ar­chie eine Repu­blik form­ten.

1791 grün­den Frei­geis­ter in der Rue de Bel­le­ville 130 den „Club des Amis de la Con­sti­tu­ti­on“, der sich nach einem Jahr in „Club des Amis de l´Égalité et de la Liber­té“ umbe­nennt. Im Juli 1840 ver­an­stal­ten Anhän­ger des Kom­mu­nis­ten Fran­çois-Noël Babeuf das „Ban­quet com­mu­nis­te de Bel­le­ville“. Wäh­rend im obers­ten Stock des „Mai­son du Peu­ple de la Bel­le­vil­loi­se“ der sozia­lis­ti­sche Par­tei­füh­rer Jean Jau­rès Ver­samm­lun­gen abhält, fin­det im Erd­ge­schoss des Hau­ses ein fai­rer direk­ter Han­del zwi­schen Her­stel­lern und Pro­du­zen­ten statt. Vor dem Ers­ten Welt­krieg hat die Bel­le­vil­loi­se 9000 Mit­glie­der und ist die größ­te Genos­sen­schaft Frank­reichs.

Fabri­ce Mar­ti­nez, der Direk­tor des „La Bel­le­vil­loi­se“ ist stolz auf das ideel­le und archi­tek­to­ni­sche Erbe. Als wir einen Rund­gang durch das Haus machen, zeigt er auf die Fas­sa­de. „Liber­té, Éga­li­té, Uto­pie“ steht dar­auf.

In einer Gale­rie mit Rot­licht in einem Thea­ter­raum suchen Käu­fe­rin­nen zwi­schen Feder­bo­as, Vin­ta­ge-Taschen und Glit­zer­mi­ni­klei­dern pas­sen­de Des­sous. Ein Hauch von Moulin Rouge schwebt durch die Luft wie ein pud­ri­ges Par­fum. Mir gefällt, dass es in Pari­ser Hos­tels wie dem Mama Shel­ter Sex­spiel­zeug zu kau­fen gibt. In der Flug­ha­fen­toi­let­te ste­hen Auto­ma­ten mit Kon­do­men und Tam­pons – und im „La Bel­le­vil­loi­se“ klei­den sich eben Nacht­schwär­me­rin­nen ein.

Die Son­ne geht unter und schenkt mir einen „Ciel Vanil­le“, einen vanil­le­gel­ben Him­mel, der die rau­en Sei­ten der Stadt weich­zeich­net. Ich freue mich auf das Caba­ret Sau­va­ge – und auf eine lan­ge Club­nacht mit Welt­mu­sik unter Lich­ter­ket­ten.  

Wir dan­ken der fran­zö­si­schen Tou­ris­mus­or­ga­ni­sa­ti­on Atout France für die Unter­stüt­zung der Recher­che.


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert