Das, was ich heute noch als die Seele Nica­ra­guas emp­finde, fand ich nicht unter meist aus­län­di­schen Sur­fern am Pazi­fik. Auch nicht in den Dis­kos von San Juan del Sur, zwi­schen den schmu­cken Kolo­ni­al­häu­sern Gra­na­das oder beim Vul­kansur­fen vom Cerro Negro. Wenn ich an Nica­ra­gua denke, an unge­schminkte, echte Men­schen, dann denke ich an Estelí und seine Zigar­ren­rol­ler. Oder mehr noch an das Mira­flor Natur­re­ser­vat. Dort, wo ich unter Bau­ern lebte.

It’s a long, long way to Estelí

Nichts, was sich wirk­lich lohnt, fällt einem in den Schoß. Sage ich mir, als ich im soge­nann­ten Chi­cken-Bus von León nach Estelí in Nica­ra­guas Lan­des­in­ne­rem sitze. Hüh­ner sind zwar nicht mit von der Par­tie in dem aus den USA impor­tier­ten Schul­bus, dafür aber umso mehr mensch­li­che Zwei­bei­ner. Meine anfäng­li­che Begeis­te­rung über einen reser­vier­ten Fens­ter­platz und einen recht kom­for­ta­blen Zwei­er­sitz ver­pufft, als ich merke, dass der Zwei­er­sitz in Wirk­lich­keit für drei bestimmt ist und der Begriff „voll“ im nica­ra­gua­ni­schen Duden noch nicht exis­tiert. Zum Glück habe ich zwei dünne Jugend­li­che neben mir, doch zu früh gefreut: Auch jeder Steh­platz muss min­des­tens zwei­fach belegt wer­den. Was ist das klei­nere Übel – das aus­la­dende Hin­ter­teil einer Ein­hei­mi­schen oder die tröp­felnde Plas­tik­tüte, an der ein Mann dane­ben schlürft?

Als ich glaube, dass nicht mal mehr eine Mücke in den Bus passt, drän­gen sich zwei kor­pu­lente Stra­ßen­ver­käu­fe­rin­nen mit Rie­sen­schüs­seln vol­ler Snacks auf dem Kopf durch den Gang. In der Mitte blei­ben sie ste­cken, von dort müs­sen die Fahr­gäste selbst Waren an die Hung­ri­gen im hin­te­ren Bus-Teil wei­ter­rei­chen. Obwohl min­des­tens 40 Grad herr­schen, tra­gen fast alle lange Hosen und sons­tige herbst­taug­li­che Kla­mot­ten. Ein wenig natür­li­che Kli­ma­an­lage brin­gen die auf­ge­scho­be­nen Fens­ter erst, als der Bus los­krächzt und uns stau­bi­ger Stra­ßen­wind um die Ohren weht. Ich halte des Öfte­ren die Luft an, wenn eine beson­ders strenge Schweiß­note meine Nase trifft. Immer wie­der ste­hen Füße auf mei­nen, immer wie­der bekom­men wir Sit­zen­den Ellen­bo­gen und andere Kör­per­teile an den Kopf. Aus dem Laut­spre­cher über mir plärrt in maxi­ma­ler Laut­stärke ‚Esca­par‘ von Enri­que Igle­sias, aber es gibt keine Chance zur Flucht. Wer Nica­ra­guas Inne­res ein Stück weit erkun­den möchte, muss leiden.

Zigar­ren­pro­duk­tion jen­seits von Kuba

Beim Gedan­ken an Zigar­ren und den Anbau von Tabak kommt meist Kuba in den Sinn. Dabei befin­den sich auch in Nica­ra­gua Tabak­an­bau­ge­biete in den Tälern von Estelí und Jalapa. Ins­ge­samt gibt es in und um Estelí etwa 120 Tabak­fa­bri­ken ver­schie­de­ner Grö­ßen, von deren Pro­duk­tion 99% expor­tiert wer­den und wo über­wie­gend Kuba­ner arbei­ten. „Viele Kuba­ner, die in die USA zum Stu­die­ren gin­gen, durf­ten danach nicht zurück in ihr Land, also kamen sie nach Nica­ra­gua und began­nen hier mit dem Tabak­an­bau“, erklärt Alfonso, der Besu­cher durch die Taba­ca­lera Flor de San Luis führt, eine der vie­len klei­nen Tabak­fa­bri­ken am Ort. Jede Fabrik habe ihre eige­nen Fel­der. „Pro Tag wer­den hier in Estelí eine halbe Mil­lion ‚puros‘ pro­du­ziert.“ Dabei seien jedoch nur 30 Fabri­ken auf die etwa zwei Jahre dau­ernde Fer­men­ta­tion des Tabaks spe­zia­li­siert. Bei der Fer­men­ta­tion könne man durch Zugabe von Was­ser den Geruch mani­pu­lie­ren, denn ins­ge­samt gebe es drei oder vier ver­schie­dene Aro­men. Ich lerne, dass bei einer etwa zwei Meter hohen Tabak­pflanze die klei­ne­ren Blät­ter oben stär­ker aro­ma­ti­siert sind und dass die wich­tigs­ten Blät­ter die für Zigar­ren­hül­len seien – sie müss­ten beson­ders vor Schäd­lin­gen geschützt werden.

In einem win­zi­gen, fens­ter­lo­sen Raum der Fabrik sit­zen an die 20 Arbei­ter und rol­len Zigar­ren, als gäbe es kein Mor­gen. Kei­ner von ihnen sieht auf, bezahlt wird pro fer­ti­ger und qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ger Zigarre – einen Cor­doba pro Stück, was etwa drei Cent ent­spricht. Ein Arbei­ter schaffe 50 bis 100 pro Tag. Meine Lunge zieht sich schon beim Rauch­ge­ruch, der in der Luft hängt, zusam­men. Der Chef geht immer mal wie­der mit fins­te­rem Blick durch die Rei­hen, begut­ach­tet die neu­este Aus­beute, raucht Probe. „In einer klei­nen Fabrik arbei­ten etwa 100 Leute, ins­ge­samt sind es 50% der Bevöl­ke­rung von Estelí und Umge­bung“, weiß Alfonso. In Nica­ra­gua wer­den die ‚puros‘ für zwei Dol­lar ver­kauft, in den USA spä­ter für 14.

Bei Dora und den Katzen

Ich habe noch die über die Zigar­ren­blät­ter gebeug­ten Arbei­ter im Kopf, als ich Stun­den spä­ter im nächs­ten Chi­cken-Bus sitze, die­ses Mal mit Ziel El Coyo­lito. Die UCA, eine land­wirt­schaft­li­che Koope­ra­tive in Estelí, schickt mich für ein paar Tage ins Mira­flor Natur­re­ser­vat, etwa 30 Kilo­me­ter von der Stadt ent­fernt und über 250 Qua­drat­ki­lo­me­ter groß. Zufäl­lig habe ich von den drei Kli­ma­e­be­nen auf rela­tiv klei­ner Flä­che gele­sen, die als untere, mitt­lere und hohe Ebene klas­si­fi­ziert wer­den, mit viel Nebel­wald und rie­si­ger Bio­di­ver­si­tät. Doch fast noch mehr als die Natur reizt mich die Idee hin­ter die­sem Öko­tou­ris­mus­pro­jekt, denn die UCA setzt sich damit seit zwei Jahr­zehn­ten für die Bau­ern­fa­mi­lien im Reser­vat ein – bei zweien von denen ich die nächs­ten Nächte ver­brin­gen will.

Außer mir sit­zen nur Ein­hei­mi­sche im Bus. Meine Nach­ba­rin gibt ihrem Baby die Brust, die meis­ten Män­ner tra­gen Cow­boy­hüte und Wes­tern­gür­tel. In Los Cocos in der unte­ren Ebene, Zona baja, muss ich raus, denn dort steht schon Dora am Stra­ßen­rand und war­tet auf mich. Die Bäue­rin schließt mich in ihre Arme, als wäre ich eine lang­jäh­rige Freun­din. Fast bin ich ent­täuscht, dass ich in einer schi­cken klei­nen Holz­hütte mit Elek­tri­zi­tät und schmu­cker Mini­ter­rasse statt mit im Haus woh­nen soll, doch Dora ist ganz stolz dar­auf. Pos­ter zie­ren die Wände, auf einem, das den länd­li­chen Tou­ris­mus ver­mark­tet, ist sie selbst abgebildet.

Die etwa Fünf­zig­jäh­rige lebt mit ihren erwach­se­nen Kin­dern in einem ein­fa­chen Stein­haus. „Mein Mann ist weg, in den USA“, erzählt sie trau­rig, wäh­rend sie mir einen rie­si­gen Tel­ler vol­ler Hähn­chen­keu­len, Reis, frit­tier­ten Bana­nen und Salat auf­tischt. Am liebs­ten kocht sie drau­ßen mit Holz­kohle. Vor und im Haus lau­fen kleine und große Kat­zen herum, und als ich eine Sekunde nicht hin­schaue, sitzt der fre­che Kater Lucas auf dem Tisch und möchte eine Hähn­chen­keule stibitzen.

Den Nach­mit­tag mache ich mich mit dem 34-jäh­ri­gen Ali auf in die Natur der Zona baja. Er und seine Frau hät­ten das UCA-Pro­jekt mit­auf­ge­baut. Seine Augen fun­keln. „Wir haben auch viel Unter­stüt­zung aus Deutsch­land bekom­men, sogar von Milka! Sie ver­kau­fen einen Teils unse­res Kaf­fees in Deutsch­land wei­ter.“ Ein wich­ti­ges Ziel der Koope­ra­tive sei es, mehr Bewusst­sein für Umwelt­schutz auch unter der Bevöl­ke­rung zu wecken. Es gäbe 45 Gemein­den mit 450 oder 500 Ein­woh­nern und einige klei­nere. „Mitt­ler­weile machen etwa 70% aller Fami­lien in Mira­flor bei unse­rer Koope­ra­tive mit. Zuerst gab es Pro­bleme, weil einige Fami­lien nei­disch auf die waren, die Tou­ris­ten unter­brach­ten und mehr Gewinn ein­stri­chen.“ Dann hät­ten viele es selbst pro­biert, gemerkt, dass es auch viel Arbeit bedeute und wie­der aufgegeben.

Mit Ali wan­dere ich durch die Land­schaft, manch­mal geht es auch über pri­va­tes Farm­land hin­weg. Dann klopft er kurz bei den Bau­ern an, bit­tet um Pas­sier­er­laub­nis, und ein paar Mün­zen wech­seln den Mann. „Wir möch­ten, dass mög­lichst viele von unse­rem Pro­jekt pro­fi­tie­ren.“ Wir besu­chen drei kleine Was­ser­fälle, dann einen 600 Jahre alten Baum, des­sen mas­si­ven Stamm zehn Men­schen gemein­sam umar­men könn­ten. „Einige behaup­ten, dass manch­mal Licht unter dem Baum angeht“, erzählt Ali die Legende, die sich um den größ­ten Baum der Zone rankt. „Man sagt, dass in sei­nem Schat­ten frü­her eine rei­che Frau Rast machte, wenn sie reiste, und jedes Mal ließ sie zum Dank etwas Gold da. Das befin­det sich nun unter dem Baum.“

Mitt­ler­weile gebe es einige Grund- und wei­ter­füh­ren­den Schu­len in den Gemein­den, Bil­dung werde immer wich­ti­ger. „In den 60ern hat­ten wie eine hohe Analpha­be­ten­rate. Mein Vater konnte auch noch nicht schrei­ben, aber er wollte unbe­dingt, dass wir neun Kin­der zur Schule gehen und was ler­nen.“ Bil­dung sei vie­len jun­gen Men­schen wich­tig. Man bekomme weni­ger Kin­der und tue dafür mehr für sich.

Nach dem gemein­sa­men Abend­essen – mal wie­der Gallo Pinto, Reis mit roten Boh­nen, dem Natio­nal­ge­richt – sitze ich noch stun­den­lang mit Dora zusam­men und wir schwat­zen wie alte Freun­din­nen. „Ich fahre ein­mal in der Woche mit dem Bus in die Stadt zum Ein­kau­fen. Gerade Reis gibt es in Estelí bes­ser als hier.“ Der Bus fahre mor­gens hin und am frü­hen Nach­mit­tag wie­der zurück. Ich über­lege, ob auch ich mit so einem Land­le­ben zufrie­den sein könnte. Noch lange sitze ich auf mei­ner klei­nen Ter­rasse, lau­sche den Gril­len und stelle mir die Mil­lio­nen von Sterne unter der Wol­ken­schicht vor. Zu einer Ant­wort komme ich nicht.

Auf dem Pfer­de­rü­cken in die Wildnis

Viel zu schnell geht meine Zeit bei Dora zu Ende, ich stehe ein letz­tes Mal am Wasch­be­cken unter freiem Him­mel und putze meine Zähne. Dann höre ich aus der Ferne das Tuten des Bus­ses – das Signal, wenn er sich einem Dorf nähert, damit sich alle Mit­fahr­wil­li­gen bereit machen. Dora bringt mich an die Straße und winkt mir nach, bis der Bus um eine Kurve ver­schwin­det. Es ist schön, wenn man auf Rei­sen jeman­den ken­nen­lernt, den man ver­mis­sen darf. Schnell ver­än­dert sich die Land­schaft, es ist, als wür­den wir in eine Mär­chen­welt hin­ein­fah­ren. Nebel und Regen ver­lei­hen der Natur ein nahezu mys­ti­sches Aus­se­hen, die zuneh­mend von soge­nann­ten ‚Barba de viejo‘-Bäumen beherrscht wird – die Bäume des Alten­mann­barts. Wie alte, graue Bärte sehen die schlapp her­un­ter­hän­gen­den Stränge wirk­lich aus, die Kühe auf den Wei­den abrup­fen und sich einverleiben.

Früh­stück bekomme ich – Gallo Pinto zum Ers­ten – bei der Bäue­rin Mar­tha in Las Pal­me­ras, in der höchs­ten Zone, Zona alta. Im Gegen­satz zu Dora setzt sie sich nicht zu mir. Im Inne­ren des düs­te­ren Lehm­hau­ses hockt ein etwa vier­jäh­ri­ges Mäd­chen und schaut Tele­tub­bies auf einem win­zi­gen Fern­se­her, wäh­rend es mit den Fin­gern Gallo Pinto aus einer Schüs­sel futtert.

Dann stößt Ali zu mir, der mir mehr vom Reser­vat zei­gen möchte – die­ses Mal zu Pferd. Meine Rei­t­er­fah­rung beschränkt sich auf frag­wür­dige Reit­stun­den durch einen kolum­bia­ni­schen Dschun­gel und eine Nah­tod­erfah­rung auf dem Rücken eines durch­ge­knall­ten Esels in einem perua­ni­schen Can­yon. Ich bekomme zuerst den Schim­mel, Ali schnappt sich einen schö­nen Brau­nen und schwingt sich mit mei­nem gro­ßen Ruck­sack auf den Pferderücken.

Ich weiß nicht, ob es an mir liegt, aber der Schim­mel zeigt bald ähn­li­che Ten­den­zen wie der perua­ni­sche Esel, und wo die Brem­sen von so einem Tier sit­zen, habe ich noch immer nicht ver­stan­den. Ali hat viel zu lachen, wäh­rend wir bei Bind­fa­den­re­gen bis zur Finca, dem klei­nen Bau­ern­hof, sei­ner Fami­lie rei­ten. Er möchte mir einen rie­si­gen Ficus zei­gen, der im Inne­ren voll­kom­men aus­ge­höhlt ist. „Der Baum ist ein Para­sit – er lebt nur auf Kos­ten von ande­ren, hat sich ihrer ermäch­tigt und ist so groß gewor­den.“ Ich glaube, ein paar Gesich­ter in dem kno­chi­gen Geäst im Inne­ren zu erken­nen, auf deren Besit­zer die­sel­ben Eigen­schaf­ten zutref­fen würden.

Wir rei­ten 14 Kilo­me­ter von der Zona alta in die Zona inter­me­dia, die mitt­lere Ebene. All­mäh­lich ver­schwin­det der Nebel­wald mit sei­nen vie­len Bär­ten, die Bäume wer­den klei­ner und die offe­nen Fel­der häu­fi­ger. Auch das braune Pferd möchte gern schnel­ler vor­an­kom­men als ich, und mein Hin­tern fühlt sich bald an, als wäre ich bei Mr. Grey höchst­per­sön­lich in Lehre gegan­gen. Die Men­schen frü­her, die sich über­wie­gend auf Pfer­den beweg­ten, muss­ten ein benei­dens­wer­tes Sitz­fleisch haben. Wir hal­ten erst am Aus­sichts­punkt El Apante an, wo ich mehr vom Pferd falle als absteige, um die end­los grüne Land­schaft unter mir zu bewun­dern. Oh, wie schön ist Nicaragua!

„Hier wer­den viele Kar­tof­feln, aber auch Toma­ten, Pfef­fer und Kaf­fee ange­baut“, klärt mich Ali auf, wäh­rend ich Bau­ern zuschaue, die mit­hilfe von Och­sen ihre Fel­der bewirt­schaf­ten. „In die­ser Zone gibt es fast nur Solar­ener­gie und kein flie­ßen­des Wasser.“

Pünkt­lich zum Mit­tag­essen bin ich bei mei­ner neuen Gast­fa­mi­lie, bei der Bäue­rin Mari­bel in Casa La Perla. Sie begrüßt mich nicht wie Dora, doch strahlt sie die Stärke einer Frau aus, die weiß, wie man sich durchs Leben beißt. Es gibt Gallo Pinto zum Zwei­ten, den ich mit Ali allein essen darf, wäh­rend die sechs Fami­li­en­mit­glie­der wei­ter ihren Auf­ga­ben nach­ge­hen. Bis­her habe ich nur die zwan­zig­jäh­rige Toch­ter San­dra, den Sohn und des­sen Frau ken­nen­ge­lernt, die aus­sieht, als ginge sie noch in die 5. Klasse. Mari­bels Stein­haus hat im Unter­schied zu Doras kei­nen Flie­sen­bo­den, son­dern nur Lehm. In der Küche wird mit Holz gekocht, ein rie­si­ger Hund liegt am pro­vi­so­ri­schen Herd. Im Inne­ren ist es düs­ter, mit­ten im Wohn­zim­mer steht neben einem Regal vol­ler Pokale ein Motor­rad. Da es kein flie­ßen­des Was­ser gibt, schöpft man neben der Außen­toi­lette Was­ser aus einem Fass, um selbst Spü­lung zu spie­len. Was nicht alle Fami­li­en­mit­glie­der zu tun scheinen.

„Hier isst jeder, wenn er vom Feld heim­kommt“, erklärt mir Ali das Feh­len der gemein­sa­men Ess­kul­tur. „Ein gro­ßes Pro­blem für die Men­schen ist die Müll­ent­sor­gung. Meis­tens ver­bren­nen sie selbst Plas­tik irgendwo am Weges­rand und sind sich nicht bewusst, wie umwelt­schäd­lich da ist. Wir ver­su­chen sie dafür zu sen­si­bi­li­sie­ren.“ Bald ver­lässt mich Ali, ich ver­bringe ein wenig Zeit mit Mari­bel. Und habe mich nicht in ihr geirrt. „Vor 20 Jah­ren habe ich zusam­men mit fünf ande­ren Frauen die Koope­ra­tive gegrün­det, um mehr Finan­zie­rung für Frauen zu errei­chen.“ Meist habe es die nur für Män­ner gege­ben, und ihr Mann habe sie mit sechs Kin­dern sit­zen­las­sen. „Das ist nor­mal in Nica­ra­gua. Die Män­ner sind oft sehr besitz­ergrei­fend, die Frauen dür­fen über­haupt nichts.“ Aber sie und ihre Fami­lie hät­ten auf sich selbst gesetzt – und auf den Tou­ris­mus. „Wir bauen gerade aus, bald haben wir Platz für 25 Per­so­nen, wie Schul­klas­sen“, berich­tet Mari­bel stolz. Die Solar­ener­gie sei bei ihr erst kürz­lich dank einer Spende von 1000 Dol­lar aus dem Aus­land instal­liert worden.

Dass San­dra in die Fuß­stap­fen ihrer Mut­ter tritt, erfahre ich wäh­rend eines kur­zen Rund­gangs, bei dem sie mir den Hof zeigt. „Wir bauen Kaf­fee, Mais, Kar­tof­feln, Kohl und Bana­nen an.“ In Gum­mi­stie­feln führt sie mich durch mat­schige Fel­der, bis zum Kräu­ter­gar­ten ihrer Mut­ter, die sich auch als Mediz­in­frau pro­biert. „Ich fahre jedes Wochen­ende nach Mana­gua zum Eng­lisch­kurs, dann kön­nen noch mehr aus­län­di­sche Tou­ris­ten zu uns kom­men“, erzählt sie. Hei­ra­ten wolle sie nicht, die Män­ner in Nica­ra­gua seien unaus­steh­lich. Kurz danach packt sie einen Sta­pel Kla­mot­ten zusam­men, die sie in der Haupt­stadt erwor­ben hat und nun auf dem Dorf für etwas mehr Geld ver­kauft. Kurz vorm Abend­essen kommt sie strah­lend zurück, drückt ihrer Mut­ter ein paar Scheine in die Hand.

Beim Abend­essen – Gallo Pinto zum Drit­ten – setzt sich Mari­bel zu mir. Sie plau­dert von ihrem zwei­ten Sohn, der in den USA lebe und 700 Dol­lar die Woche ver­diene, sodass er die Fami­lie unter­stüt­zen könne. Lei­der dürfe er aber nicht zu Besuch kom­men, weil man ihn dann nicht zurück in die USA ließe. „Wir brau­chen das Geld. Eine Kuh kos­tet 1.500 Dol­lar. Wir haben eine, die gibt nicht genug Milch zum Ver­kauf.“ Trotz­dem sei es bes­ser, auf dem Land zu leben, als in irgend­ei­ner Fabrik in der Stadt zu arbei­ten. Ich denke an die Arbei­ter in der Tabak­fa­brik und nicke. „Manch­mal mache ich mir Sor­gen, dass es Leu­ten wie dir, die etwas ande­res gewöhnt sind, hier bei uns nicht gut genug ist“, gesteht Mari­bel und schaut zu Boden. Sofort schäme ich mich fürs Nase­rümp­fen über das flie­gen­rei­che Klo. Und dafür, dass ich mir beim Duschen, das aus einem über den Kopf gekipp­ten, kal­ten Eimer Was­ser bestand, gedacht habe, dass ich zum Glück nur ein­mal bei der Fami­lie duschen müsste. Wäre ich so weit gekom­men wie Mari­bel, wenn ich wie sie auf­ge­wach­sen wäre?

Um sechs Uhr wer­den Mari­bel und San­dra unru­hig – es ist Zeit für die Sechs-Uhr-Tele­no­vela. Da ent­we­der der kleine Schwarz-weiß-Fern­se­her oder das Licht lau­fen kann, kommt eine Kerze auf den Tisch und die Glotze wird ange­schal­tet. Der Serie fol­gen die Nach­rich­ten, die jeden alten Mann und jedes Kind abbil­den, die an die­sem Tag in Nica­ra­gua über­fah­ren wur­den. Um kurz nach sie­ben gehen alle ins Bett. Die Tage auf dem Land begin­nen früh. Bei Ker­zen­schein putze ich mir am ein­zi­gen Wasch­be­cken am Haus­ein­gang die Zähne, um meine Zahn­pasta wuseln ein paar Kaker­la­ken herum. Und trotz­dem, irgend­wie fühle ich mich bei Mari­bel wohl. Als der Bus am nächs­ten Mor­gen aus der Ferne hupt, kaufe ich ihr noch schnell etwas Gua­yaba-Mar­me­lade ab. Dann schnappe ich mei­nen Ruck­sack und laufe zur Straße, ein wenig von Mari­bels Zähig­keit im Gepäck.

Das Leben, ein Traum

Ich habe Glück und finde noch einen freien Platz im Bus, neben einem älte­ren Bau­ern mit Son­nen­brille und Hut, der mich neu­gie­rig ansieht. Kaum sind wir ange­fah­ren, steht ein Mann auf, eine Bibel unterm Arm. „Jeder von uns sollte sich bewusst sein, dass das Leben nur ein Traum ist. Es zieht so schnell vor­bei, und wir müs­sen ent­schei­den, ob wir danach ins Para­dies oder in die Hölle wol­len.“ Es ist mucks­mäus­chen­still, wäh­rend er eine halbe Stunde lang pre­digt. Als die Lita­nei been­det ist und der Mann sich wie­der setzt, tippt mir der Far­mer auf die Schul­ter. „Glaubt man in dei­nem Land auch an Gott?“ So komme ich mit Juan Sant­iago ins Gespräch, der sei­nen Hof im Mira­flor Reser­vat hat – und sie­ben Kin­der. Auf meine Frage, wie viele Enkel­kin­der er habe, sieht er mich ent­setzt an. „Das weiß ich gar nicht!“ Er ver­fällt in Schwei­gen. Was der Pre­di­ger aus­nutzt, um sich mir eben­falls zuzu­wen­den. Auch er heißt Juan.

„Es ist wich­tig, dass die Men­schen alles über Jesus wis­sen, auf sein Kom­men vor­be­rei­tet sind.“ Ich nicke brav. Der Bus fährt unter­des­sen durch einen Fluss, der sich durch den hef­ti­gen Regen am Vor­tag auf der Straße gebil­det hat. Als wir in Estelí ankom­men, strahlt mich der Far­mer an. „17! Ich habe 17 Enkel­kin­der!“ Er hält lange meine Hand in sei­ner, der Pre­di­ger schickt mich mit Got­tes Segen auf den Weg. Und ich, ich bin dank­bar. Nicht nur wegen des fri­schen Segens. Eher, weil ich mir mal wie­der bewusst gewor­den bin, wie viele Pri­vi­le­gien ich genieße. Zum Bei­spiel das Pri­vi­leg, zu den ein­fachs­ten Men­schen Nica­ra­guas raus­fah­ren und von ihnen ler­nen zu dür­fen. Denn auch wenn das Leben nicht immer ein Traum ist, erin­nern mich Men­schen wie Mari­bel und Dora daran, dass nicht alles schwarz oder weiß ist, Hölle oder Para­dies. Son­dern etwas recht Bun­tes irgendwo dazwischen.

 

Cate­go­riesNica­ra­gua
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Laura says:

    Hallo☺️
    Haben sie noch den Kon­takt von der Farm?
    Ich bin gerade in Nica­ra­gua und würde sehr gerne mal paar Tage auf eine Farm!
    Wäre super, wenn sie mir ant­wor­ten könnten.

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