Mein Haus, mein Auto, meine Individualreise

Raue Fel­sen­in­seln ragen aus tür­kis­blau­en Was­ser her­aus, ein paar ver­streu­te Holz­boo­te zie­ren die idyl­li­sche Land­schaft, ein Drink im Son­nen­un­ter­gang am ande­ren Ende der Welt. Wow, wo Ben wohl wie­der unter­wegs ist, schießt es uns aner­ken­nend (und ein wenig neid­voll) durch den Kopf, wenn wir die­sen foto­gra­fi­schen Aus­schnitt in unse­ren sozia­len Netz­wer­ken auf­pop­pen sehen. Wie außer­ge­wöhn­lich anders Ben doch ist, dass er gera­de da unter­wegs ist, mutig, sich allei­ne an so einen abge­le­ge­nen Ort zu wagen. Ein Aben­teu­rer und Ent­de­cker, der sein Leben genießt und genau­so führt, wie jeder ande­re es sich erträumt; er ver­wirk­licht sich selbst.

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Was wir nicht sehen: Ben ist gar nicht allein unter­wegs. Er teilt sich die­se famo­se Aus­sicht mit zig ande­ren eben­so aben­teu­er­lus­ti­gen Rei­sen­den. Der Strand ist voll mit Leu­ten: Deut­sche, Aus­tra­li­er, Hol­län­der, die sich selbst­ge­fäl­lig ob ihrer Welt­ge­wandt­heit bei einem Sun­dow­ner fei­ern. Ein­hei­mi­sche ste­hen ledig­lich als Bedie­nung hin­ter der Strand­bar, die schein­bar pro­vi­so­risch aus Bam­bus zusam­men­ge­zim­mert ist, trotz­dem über Wire­less LAN ver­fügt und das Menü auf Eng­lisch, Deutsch und Rus­sisch führt. Abends tref­fen sich hier alle Tou­ris­ten im Ort. Ben ist kein Ent­de­cker, er folgt dem aus­ge­tre­te­nen Tou­ris­ten­pfad durch Süd­ost­asi­en, wo sich an vie­len Orten ein soge­nann­ter Back­pa­cker-Pau­schal­tou­ris­mus ent­wi­ckelt hat. Jede Men­ge Indi­vi­du­al­tou­ris­ten, die alle auf der glei­chen Rou­te rei­sen, in den glei­chen Städ­ten hal­ten, und die glei­chen Hos­tels, Loka­le und Bars auf­su­chen. Um in ent­le­ge­ne­re Ecken zu kom­men wer­den Pau­schal­aus­flü­ge bei geschäfts­tüch­ti­gen Ein­hei­mi­schen gebucht, die es ver­ste­hen eine gut funk­tio­nie­ren­de Tou­ris­mus­ma­schi­ne­rie zu betrei­ben.

Zu Hau­se erzählt Ben von sei­ner ach so indi­vi­du­el­len Rei­se durch das fer­ne Asi­en und lächelt ein wenig abschät­zig, als Lin­da von ihrem im Rei­se­bü­ro gebuch­ten Strand­ur­laub auf Kre­ta erzählt. Und streng defi­ni­to­risch hat er ja auch nicht Unrecht. Ein Indi­vi­du­al­rei­sen­der ist ein Rei­sen­der, der die erfor­der­li­chen Leis­tun­gen ein­zeln bucht. In der Regel nur die An- und Abrei­se orga­ni­siert und den rest­li­chen Ver­lauf der Rei­se vor Ort auf sich zukom­men lässt. Im Gegen­satz zur Pau­schal­rei­se. Die Pau­schal­rei­se ver­spricht ein Gesamt­pa­ket aller Rei­se­leis­tun­gen, wie An- und Abrei­se, Unter­künf­te, Ver­pfle­gung, ggf. Aus­flugs­pro­gramm zu einem Gesamt­preis mit einem genau durch­or­ga­ni­sier­ten Rei­se­ab­lauf, meist in einer Grup­pe.

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Indi­vi­du­al­rei­sen­de und Pau­schal­rei­sen­de kann man auch als Visua­li­sie­rung der jahr­tau­sen­de­al­ten geis­tes­ge­schicht­li­chen Dis­kus­si­on um die Fokus­sie­rung einer Gesell­schaft auf den Ein­zel­nen oder aber die Gemein­schaft betrach­ten.
Alle Eigen­schaf­ten, Inter­es­sen und Beson­der­hei­ten des Indi­vi­du­ums bil­den sei­ne Per­sön­lich­keit. Unter­schei­den sich die­se Ele­men­te von denen der Gemein­schaft in beson­de­rer Wei­se, ist es dem Indi­vi­du­um gelun­gen sich mit sei­ner Per­sön­lich­keit von der Mas­se abzu­he­ben.

In Zei­ten von Mas­sen­pro­duk­ti­on, Glo­ba­li­sie­rung und Fran­chise-Unter­neh­men, die jeder deut­schen Innen­stadt eine aus­wech­sel­ba­re Kon­for­mi­tät ver­passt haben, scheint das Bedürf­nis, etwas Beson­de­res zu sein, immer stär­ker zu wer­den. Zahl­rei­che Indus­trie­zwei­ge haben die­se Ent­wick­lung bereits in ihren neu­en Mar­ke­ting­stra­te­gien berück­sich­tigt. Pau­schal­rei­se­un­ter­neh­men sind auf die­sen Trend auf­ge­sprun­gen und bie­ten ihren Kun­den nun die Mög­lich­keit, aus einer Aus­wahl an vor­ge­fer­tig­ten Modu­len den Urlaub an die Rei­se­vor­lie­ben anzu­pas­sen.

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Zu Rei­sen war von jeher ein gutes Mit­tel, um die Per­sön­lich­keit zu for­men bzw. her­aus­zu­stel­len; nur war dies bis Mit­te des 20. Jahr­hun­derts den wohl­ha­ben­den Schich­ten vor­be­hal­ten. Das bekann­tes­te Bei­spiel dürf­te die Grand Tour sein. Die gro­ße Rei­se war seit der Renais­sance erst für die Söh­ne des euro­päi­schen Adels, spä­ter auch für das geho­be­ne Bür­ger­tum eine fast obli­ga­to­ri­sche Rei­se zu den damals bedeu­ten­den euro­päi­schen Kunst­städ­ten in Mit­tel­eu­ro­pa, Ita­li­en, Spa­ni­en und dem Hei­li­gen Land. Sie fun­gier­te als Bil­dungs­rei­se, dien­te aber auch dem Erwerb von Welt­läu­fig­keit und Sta­tus.

Mit zuneh­men­den Wohl­stand der Gesell­schaft, der Ent­wick­lung von güns­ti­gen Pau­schal­rei­sen durch Tho­mas Cook und spä­tes­tens seit der Eta­blie­rung von Bil­lig-Flie­gern ist Rei­sen per se kein beson­de­res Her­aus­stel­lungs­merk­mal, kein Sta­tus­sym­bol mehr. Was der Mas­se zugäng­lich ist, kann den gesell­schaft­li­chen Stand des Trä­gers nicht mehr zum Aus­druck brin­gen, kann die Per­sön­lich­keit des Indi­vi­du­ums nicht mehr von der Mas­se abhe­ben.

Es reicht nicht mehr aus, die son­nen­ge­bräun­te Haut nach dem Mit­tel­meer­ur­laub zur Schau zu tra­gen, das kann mitt­ler­wei­le jeder. Um aus­ge­fal­le­ner und inter­es­san­ter zu wir­ken, muss es in die Fer­ne gehen; zu klang­vol­len Sehn­suchtsor­ten, abge­le­ge­nen Län­dern, am bes­ten ganz auf sich allein gestellt. Dort, wo vie­le Men­schen hin möch­ten, aber schein­bar nicht jeder hin­kommt.

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Mutig, aben­teu­er­lich und welt­in­ter­es­siert wirkt Ben durch sei­ne Rei­se nach Süd­ost­asi­en. Zudem rea­li­siert er sei­ne eige­nen Zie­le und Wün­sche. Selbst­ver­wirk­li­chung ist wei­ter­hin das ganz gro­ße Lebens­ziel unse­rer Gesell­schaft, und damit ein sehr erstre­bens­wer­ter Sta­tus. Rei­sen als Aus­druck der Selbst­ver­wirk­li­chung ste­hen hoch im Kurs. Es gibt des­halb kaum ein bes­se­res Mit­tel sei­ne Per­sön­lich­keit zum Aus­druck zu brin­gen als durch eine Rei­se auf eige­ne Faust.

Doch der Wunsch nach dem Beson­de­ren kehrt sich ins Para­do­xe. Denn die Sache hat bei aller Indi­vi­dua­li­tät einen ganz wich­ti­gen gemein­schaft­li­chen Aspekt: Letzt­end­lich ist der Mensch ein sozia­les Wesen, Sta­tus­sym­bo­le und Selbst­ver­wirk­li­chung funk­tio­nie­ren nur durch die Bestä­ti­gung und die Aner­ken­nung der Gemein­schaft. So indi­vi­du­ell wir alle sein wol­len, so wol­len wir das nur im Kreis unse­rer Gesell­schaft sein und fin­den uns somit auch mit schein­bar indi­vi­du­el­len Aktio­nen, ver­mut­lich unbe­wusst aber gewollt, in der Mas­se wie­der.

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Antworten

  1. […] des­halb Fern­rei­sen, „weil wir es eben kön­nen“ (lest dazu bit­te unbe­dingt den tol­len Bei­trag von Mari­an­na Hill­mer!). Oder weil uns Euro­pa als Rei­se­ziel zu pope­lig wäre. Zu kalt zum Baden ist es schon mal gar […]

  2. […] auch für die Anre­gung durch Mari­an­na Hill­mers Arti­kel „Mein Haus, mein Auto, mei­ne […]

  3. Avatar von Ilona

    Vor etli­chen Jah­ren schon gab es bei neon eine herr­lich-zyni­sche Glos­se über »Das Back­pa­cker-Pack«, in der genau das stand: Back­pack­ing ist eine Art Mas­sen­tou­ris­mus, auch wenn man das Gefühl hat, wahn­sin­nig indi­vi­du­ell zu sein…

    Ich geste­he ja, dass ich auch hin und wie­der eine Grup­pen­rei­se buche. Mir macht das Allei­ne­rei­sen kei­nen Spaß – Ver­ständ­nis haben dafür nicht immer alle, weil das ja so »unin­di­vi­du­ell« ist. Im End­ef­fekt haben die Indi­vi­du­al­rei­sen­den dann so ziem­lich das­sel­be gese­hen, wie ich. Sie rei­sen nur lie­ber allein, ich habe lie­ber Gesell­schaft.

    Den­noch muss ich mir auch selbst an die Nase fas­sen. Nach mei­ner letz­ten Fern­rei­se (die erst kürz­lich war), hat­te ich das Gefühl, über­sät­tigt zu sein (also, ich habe es noch) und dass ich mir ein­fach auf Teu­fel komm raus die­se Rei­se haben gön­nen müs­sen – weil ich es konn­te, dass ich ande­re Rei­sen in weni­ger wei­ter Ent­fer­nung aber weit mehr genos­sen habe. Wem woll­te ich bewei­sen, dass ich das jetzt tun kann, weil ich ein bes­se­res Gehalt habe? Mir selbst? Mei­nen Freun­den? Allen ande­ren? Fürs ers­te mag ich kei­ne Fern­rei­sen mehr machen, lie­ber wie­der in der Nähe blei­ben, auch wenn die Fern­rei­se ein­drucks­vol­ler wirkt, als ein Ita­li­en­trip. Der Ita­li­en­trip hat mich doch glück­li­cher gemacht.

    1. Avatar von Marianna

      Dan­ke für dein ehr­li­ches Feed­back!

  4. Avatar von *thea

    Inter­es­san­ter Gedan­ken­gang – habe ich mir auch schon öfter gedacht. Ich mache unheim­lich ger­ne indi­vi­du­al­ur­laub, aber war mir ehr­lich gesagt schon immer bewusst, dass ich in die­sen Län­dern trotz­dem das vor Ort tou­ris­ti­sche mache. Man­che Sachen waren mir im nach­hin­ein dann wirk­lich zu viel Mas­sen­tou­ris­mus (HaLong­Bay, Puket) ande­re habe ich sehr genos­sen. (Tay­ro­na Park in Kolum­bi­en, bum­meln durch Hoi An). Ich habe ein­fach für mich raus­ge­fun­den, dass ich an Pau­schal­rei­sen nicht mag immer an einem Ort zu sein und womög­lich noch alle Mahl­zei­ten im glei­chen Hotel zu essen. Trotz­dem schät­ze ich eine vor­han­de­ne Infra­struk­tur und schö­ne Unter­künf­te. Ich glau­be auch, dass man manch­mal mit einem Städ­te­trip in unse­re west­li­che Welt mehr ins Land ein­tau­chen kann als mit dem klas­si­schen Süd­ost­asi­en Back­pack­ing Pfad. Wenn ich mich in Lis­sa­bon oder New York in eine Bar stel­le, ist die Chan­ce eine Unter­hal­tung mit Locals zu füh­ren doch höher als in Aisen, wo fast jeder davon lebt, mir eine Dienst­leis­tung anzu­bie­ten. Huch jetzt ist das etwas aus­geu­fert- schreit nach einem eige­nen Blog­post, haha 😀

    1. Avatar von Marianna

      Hi Thea,

      bin gespannt auf dei­nen Post 😉
      Stim­me dir was das Ein­tau­chen angeht teils auf jeden Fall zu.

      LG
      Mari­an­na

  5. Avatar von Ela

    Ein schö­ner Text und sehr wahr… In Thai­land kam ich mir übri­gens auch nicht mehr vor wie ein Back­pa­cker, alles ist so durch­or­ga­ni­siert, dass man nicht mehr mit­den­ken muss beim Rei­sen. Auch mal schön, hat sei­ne Vor­tei­le, wenn man sich wirk­lich nur erho­len möch­te. Aber nur so rei­sen, ich weiss nicht. Abwechs­lung halt, wie in jedem Bereich 🙂
    Lie­be Grü­ße,
    Ela

    1. Avatar von Marianna

      Dan­ke dir!

      Und klar, es ist auch mal ganz erhol­sam, wenn man nicht alles kom­plett orga­ni­sie­ren muss.

  6. Avatar von Mathias Iwersen via Facebook

    Ist es denn für mein per­sön­li­ches Emp­fin­den einer aus­ser­ge­wöhn­li­chen Rei­se nicht völ­lig egal, wie vie­le ande­re vor mir schon das glei­che gemacht haben?

    1. Avatar von Marianna

      Für dein per­sön­li­ches Emp­fin­den kann es völ­lig egal sein, sicher. Aber es geht auch ein­we­nig dar­um, wie du dein per­sön­li­ches Emp­fin­den nach außen prä­sen­tierst und in wie weit dein per­sön­li­ches Emp­fin­den nicht von dei­ner Außen­welt – doch – beein­flusst wird.

  7. Avatar von Philipp Laage

    In vie­len Milieus, in denen man über das Auto oder teu­re Kla­mot­ten als Sta­tus­sym­bo­le nur mit­lei­dig den Kopf schüt­telt, müs­sen es dann wohl Rei­sen zur Auf­wer­tung der eige­nen Bedeu­tung sein. Wie heißt es noch? Jeder will anders sein, aber nie­mand allein.

    1. Avatar von Marianna

      Genau so ist es!

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