Das dritte Auge des blinden Mannes

Wenn ich heu­te zurück­bli­cke, dann hat­te ich in mei­nem Leben Mut mit Sorg­lo­sig­keit und Bequem­lich­keit mit Glück ver­wech­selt. In Indi­en gewinnt alles an Kon­tur und Schär­fe. Delhi atmet aus und du das Leben ein: den wür­zi­gen, viel­schich­ti­gen Duft der Luft in Delhis Gas­sen, die rei­nen, natür­li­chen Geräu­sche, von Mensch und Tier gemacht, und die unzäh­li­gen fun­keln­den Bli­cke schwar­zer, brau­ner und grü­ner Augen­paa­re, die in dei­ne Augen fal­len wol­len.

Ich saß über mei­nem Alu Palak, trank schwei­gend mei­nen damp­fen­den Masa­la-Tee und blin­zel­te aus dem Fens­ter des klei­nen Lokals hin­aus auf die Stra­ße. Ich staun­te. Ein blin­der Mann fiel mir auf. In Lum­pen geklei­det, einen roten Tur­ban auf dem Kopf balan­cie­rend. Sei­ne Haut war braun.

Indi­en wird regiert von den Braun­tö­nen die­ser Welt. Wie ein mono­chro­mer Regen­bo­gen. Vom tabak­brau­nen Garam Masa­la bis zur rost­brau­nen Haut des blin­den Man­nes. Um den Alten her­um war frei­er Raum. Das war erstaun­lich. Die schma­len Gas­sen von Delhi sind ver­stopft von schie­ben­den Men­schen, fres­sen­den Tie­ren, hupen­den Motor­rä­dern und mie­fen­dem Müll. Der Alte schob sich die Gas­se ent­lang vor­an und navi­gier­te sicher zu der klei­nen Gar­kü­che, in der ich stau­nend hock­te.

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Der Gang des Lebens
Mein Blick blieb an dem Mann haf­ten. Als er ein­trat, schien er direkt in mein Inners­tes zu sehen. Nie zuvor in mei­nem Leben hat­te ich so viel Lebens­freu­de gese­hen. Was für ein Ver­gnü­gen, im Gesicht die­ses blin­den Man­nes zu lesen! Spä­ter wuss­te ich: Es sind die­se unschein­ba­ren Momen­te, die den Fort­gang des Lebens bestim­men.

Der Mann setz­te sich an mei­nen Tisch und nick­te mir zu. Er schau­fel­te die Spei­sen in sich hin­ein und kau­te dann lang­sam und gründ­lich. Ein Mann, der ruh­te. Als er fer­tig war, hob er sei­nen Kopf in die Höhe und blick­te in mei­ne Rich­tung.

„Sie mögen Indi­en? Die bes­te Land?“ frag­te der Alte.
Er frag­te wei­ter, nach mei­nem Namen und der Her­kunft, ohne eine Ant­wort auf sei­ne Fra­gen zu erwar­ten.
„Ich bin Mar­kus,“ erwi­der­te ich pflicht­be­wusst.
„Ist die­se gute Tag ein Geschenk! Doch dei­ne Stim­me singt trau­ri­ge Töne, mein Freund.“

Stumm vor Stau­nen
Ich war stumm vor Stau­nen. Es waren nur drei Wor­te, die mich ent­tarn­ten. Mei­ne gesund­heit­li­che Ver­fas­sung hat­te sich in der Nacht ver­schlech­tert. Die Bron­chi­en pfif­fen. Ich war fieb­rig. Wie der Mann, der mir gegen­über saß, war ich um einen guten Teil mei­ner Sin­ne beraubt.

Sor­ge keim­te in mir auf, ernst­haft in Indi­en zu erkran­ken. Mala­ria am Ende. Doch die­se Sor­ge fühl­te sich schlag­ar­tig win­zig an, als ich in das Gesicht eines blin­den Man­nes sah, der sein Leben in die­sem unvor­stell­bar wir­ren Knäu­el meis­ter­te, das sie Delhi rufen.
„Viel­leicht wer­de ich krank wer­den,“ setz­te ich zu einer Erläu­te­rung an.
„Kei­ne Sor­ge. Krank wird jeder ein­mal, der nach Indi­en kommt. In Indi­en sagen wir: Erst wenn es schön ist, ist es vor­bei.“

Ich kann nicht sagen war­um, aber ich ver­trau­te die­sem Mann. Nur ver­hei­ra­te­te Frau­en tra­gen in Indi­en ein Bin­di, doch auf der Stirn des Blin­den schien eben­falls ein unsicht­ba­res drit­tes Auge zu thro­nen. Mit dem nahm er die wich­ti­gen Din­ge wahr.

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Rei­sen in der Frem­de
Wer in der Frem­de fest­steckt, rich­tet schär­fe­re Fra­gen an das Leben. Sol­che, die sonst unter einem gewal­ti­gen Klang­tep­pich ver­hal­len. Der Rei­sen­de ruht nicht und will wis­sen: Was ist das Mini­mum des Lebens? Und was davon gehört mir? Die Gesund­heit? Das Augen­licht? Ein Wort?

Ich war kraft­los und matt. Der alte Mann zahl­te beim Raus­ge­hen mein Essen und steu­er­te mich durch die ver­win­kel­ten Gas­sen zu mei­nem Hotel. Ich hat­te ihm ver­traut, von Anfang an. Und dabei einen Freund gewon­nen. Der Rei­sen­de muss das tun. Wenn es ihm behagt, muss er Mut bewei­sen und ver­trau­en. Mehr hat er nicht. Bequem­lich­keit und Sicher­heit exis­tie­ren nicht. Mut und Ver­trau­en sind ihm Klau­en und Fall­schirm zugleich.

Der Alte ent­fern­te sich gruß­los, und ohne, dass ich ihm für sei­nen anste­cken­den Lebens­mut dan­ken konn­te, ver­schluck­te ihn das Men­schen­di­ckicht von Delhi. Mutig und glück­lich.

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Antworten

  1. Avatar von Mauritius Expertin

    Hey,

    was für ein inter­es­san­ter bericht. Ich bin wirk­lich erstaunt über den blin­den Mann. Wie kann es den sein das wüss­te das du Krank warst und wie du wie­der zum Hotel kammst? Ich bin echt Sprach­los.

    1. Avatar von markus

      wüss­te ich auch gern… thats life.

  2. Das dritte Auge des blinden Mannes

    […] Wenn ich heu­te zurück­bli­cke, dann hat­te ich in mei­nem Leben Mut mit Sorg­lo­sig­keit und Bequem­lich­keit mit Glück ver­wech­selt. In Indi­en gewinnt alles an Kon­tur und Schär­fe. Delhi atmet aus und du das Leben ein: den wür­zi­gen, viel­schich­ti­gen Duft der Luft in Delhis Gas­sen, die rei­nen, natür­li­chen Geräu­sche, von Mensch und Tier gemacht, und di… Rei­se­de­pe­schen […]

  3. Avatar von Ute

    Ein super geschrie­be­ner und bebil­der­ter Bericht! 🙂

    1. Avatar von markus

      freut mich sehr zu hören, ute, dass dir die geschich­te gefällt. dan­ke!

  4. Avatar von Alex

    Ja, gera­de in Asi­en bekommt man einen Blick für das Wesent­li­che.

    1. Avatar von markus

      so ist es wohl, alex. wel­cher teil asi­ens hat dich über­rascht?

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