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Lock­down – Zwi­schen Wahn­sinn und Vernunft

Milly und ich sit­zen drau­ßen an ihrem klei­nen Holz­tisch mit ran­ge­schraub­ten Bän­ken und rüh­ren mit läng­li­chen Holz­stü­cken in einer Mischung aus Split und Erde herum. Der Split ist eigent­lich dafür da, ihn in die Lücken zwi­schen den Pflas­ter­stei­nen zu keh­ren und steht über­dacht in einem gro­ßen Eimer. Von dort aus schafft sie ihn sand­förm­chen­weise heran. Die Erde kommt aus dem Bee­ren­beet. Mit erns­tem Gesicht rührt Milly in ihrem Hasen­förm­chen herum und sieht zu mei­nem her­über. „Deins ist jetzt fer­tig!“ Sie schüt­tet meine Split­erde auf den Tisch. Das meiste fällt durch die Rit­zen auf den Boden. Sie nimmt mein lee­res Fuß­förm­chen mit, um die nächste Ladung Split zu holen.

Ich bin – wie wahr­schein­lich die meis­ten von uns Erwach­se­nen – viel zu ziel­ori­en­tiert, um all die tol­len Spiele rich­tig genie­ßen zu kön­nen, die meine 5‑jährige Toch­ter den gan­zen Tag lang so vor­schlägt. Sie schleppt die tolls­ten Bau­ma­te­ria­lien für unser neues „Haupt­quar­tier“ her­bei – Bal­kon­bank­kis­sen, Mal­tisch­stühl­chen, frisch gewa­schene Bett­be­züge und noch nicht abge­wa­schene Salat­schüs­seln – und ich denke nur an die schmie­ri­gen Fol­gen, ans Waschen, Put­zen und Auf­räu­men. Gleich­zei­tig tut es mir leid, dass ich nicht mit ihr im Moment sein kann, nicht die glei­che Begeis­te­rung für die­ses groß­ar­tige Pro­jekt ent­wi­ckeln kann wie sie.

Und dann alle zwei Sekun­den: „Mama, im Spiel bin ich Sarah und mein Pferd heißt Scar­lett. Und Du bist Alma und dein Pferd heißt But­ton. Ich hol jetzt Scar­lett. Scar­lett hat gerade ein Foh­len bekom­men. Es heißt Sabrina und ist pink. Im Spiel hat Scar­lett einen wei­ßen Kör­per und eine bunte Mähne. Und But­ton hat einen grü­nen Kör­per und ein biss­chen rot in der Mähne. Mami im Spiel sag ich jetzt… und du sagst dann… Mami im Spiel… Mami im Spiel….“ Den gan­zen Tag lang spie­len – dage­gen ist Arbei­ten ein Kinderspiel!

Der Lock­down mit Kon­takt­sperre hält nun bereits 4 Wochen an. Wir haben den 18. April 2020. Vor weni­gen Tagen kam die Nach­richt, dass die Kitas bis nach den Som­mer­fe­rien geschlos­sen blei­ben sol­len. Das heißt für Milly und viele andere Kin­der, dass sie über­haupt nicht mehr in den Kin­der­gar­ten (oder in die Krippe) zurück­keh­ren kön­nen. Als nächs­tes kom­men sie in die Schule (oder eben in den Kin­der­gar­ten), und zwar in Nie­der­sach­sen Ende August. 

Ich klam­mere mich an das Fünk­chen Hoff­nung, dass viel­leicht die Kon­takt­sperre wenigs­tens ab dem 4. Mai gelo­ckert wird. Dann könnte man sich mit einer ande­ren Fami­lie betreu­ungs­mäs­sig arran­gie­ren. So hat­ten wir es gemacht, bevor die Kon­takt­sperre kam: Mil­lys beste Freun­din wohnt um die Ecke. Vor­mit­tags kam sie zu uns, nach­mit­tags war Milly dort. Aber seit der Kon­takt­sperre ist das ille­gal. Ihre Mut­ter ist Leh­re­rin und möchte sich ver­ständ­li­cher­weise nicht unvor­bild­lich ver­hal­ten – Nach­barn, Schü­ler und Kol­le­gen wür­den es mit­krie­gen, und man weiß ja nie. 

Aber ganz ehr­lich: ich per­sön­lich hätte ein­fach damit wei­ter­ge­macht. Ich fand uns vor­bild­lich vor­sich­tig. Wir hat­ten schon vor der Kon­takt­sperre alle ande­ren Kon­takte abge­bro­chen, in Abspra­che mit der ande­ren Fami­lie, die es genauso machte. Nur einer von uns ging ein­kau­fen und zwar mit Hand­schu­hen und Maske. 

Mir feh­len pra­xis­taug­li­che Vor­schläge sei­tens der Poli­tik, die in diese mei­ner Mei­nung nach sinn­volle und leicht umsetz­bare Rich­tung gehen. Vie­len Eltern und Kin­dern, ginge es viel bes­ser, und sowohl die Psy­che als auch die wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­vi­tät wür­den einen Auf­schwung erle­ben, ohne die Corona-Anste­ckungs­ge­fahr groß zu erhöhen.

Heute las ich in einem Arti­kel, dass es laut wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen zur Corona-Virus­epi­de­mie nicht ein­mal sinn­voll ist, die Kitas so lange zu schlie­ßen. Das gab mir den Rest. Klar, ich will jetzt auch nicht Poli­ti­ke­rin sein. Es ist schwie­rig. Aber unsin­nige Ent­schei­dun­gen auf Kos­ten derer zu tref­fen, die für die Pro­duk­tion und Auf­zucht unse­rer Zukunft ver­ant­wort­lich sind, das kann ich nicht nach­voll­zie­hen. Und es macht mich wütend.

Junge Fami­lien sind die Säu­len der Gesell­schaft! Aber die kön­nen sie auch nur sein, wenn man sie pflegt. Aller­spä­tes­tens wenn sie kaputt sind, sollte man sie repa­rie­ren, und ich bin echt kaputt! Am bes­ten wäre, sie gleich auf einen sta­bi­len Sockel zu bauen und danach so gut zu pfle­gen, dass sie mit vol­ler Kraft wei­ter stüt­zen können. 

Und ganz ehr­lich: Uns geht es ja noch gut. Was machen eigent­lich Allein­er­zie­hende mit klei­nen Kin­dern, oder mit meh­re­ren Kin­dern ver­schie­de­nen Alters? Allein die Vor­stel­lung macht mich wahn­sin­nig! Wir haben wenigs­tens einen Gar­ten und viel Grün­flä­chen in der Nähe. Bei uns kann Papa als Psy­cho­loge wei­ter­ar­bei­ten und Geld ver­die­nen. Er fährt mit dem Fahr­rad in die Pra­xis, die er alleine führt, und macht dort mit den Pati­en­ten Videositzungen. 

Ich bin frei­be­ruf­li­che Dol­met­sche­rin und habe natür­lich null Auf­träge, seit es keine Ver­an­stal­tun­gen mehr gibt. Sogar eine sonst all­jähr­lich statt­fin­dende mehr­tä­gige Kon­fe­renz und meine Haupt­ein­nah­me­quelle im Herbst ist jetzt vor ein paar Tagen bereits abge­sagt wor­den. Bei­nahe kom­plette Ver­dien­st­ein­buße über meh­rere Monate also. Außer­dem muss ja sowieso einer von uns die Kin­der­be­treu­ung über­neh­men und das bin dann wohl ich.

Und die arme Milly ist das ein­zige Kind im Haus und darf sich nicht mit Gleich­alt­ri­gen tref­fen, die irgend­wie doch mehr auf ihrer Wel­len­länge sind und ähn­li­chere Inter­es­sen haben als wir beide. Ich habe nur ein Kind. Ich hätte gerne noch eins. Die Umstände sind nicht sehr ermutigend. 

Es ist für uns beide nicht ein­fach. Ande­rer­seits sind wir beide daran inter­es­siert, das beste draus zu machen und mög­lichst gut mit­ein­an­der klar­zu­kom­men in die­ser uns von der Corona-Krise bescher­ten aus­ge­dehn­ten Zeit zu zweit.

Ich muss irgend­wie wei­ter­hin die Küche auf­räu­men, das Klo put­zen und dafür sor­gen, dass wir sau­bere Wäsche haben und zu Hause den All­tag fris­ten kön­nen, ohne dass jeder Schritt Staub auf­wir­belt und wir auf dem Weg zum Klo über unab­ge­wa­schene Salat­schüs­seln und andere Bestand­teile unter­schied­li­cher Haupt­quar­tier­pro­jekte stol­pern. Milly muss sich irgend­wie wei­ter­hin auf ihr Schul­da­sein vor­be­rei­ten. Mit ihr Lesen und Rech­nen üben und ihr Arbeits­blät­ter ver­ab­rei­chen, das ist ver­nünf­tige, ziel­ge­rich­tete Arbeit. Das kann ich. Und für einen win­zi­gen Bruch­teil des Tages kön­nen wir uns damit beschäf­ti­gen. Aber Milly reagiert im All­ge­mei­nen nicht beson­ders posi­tiv auf Anwei­sun­gen, vor Allem nicht von mir. Meis­tens sagt sie nach zwei Sekun­den, in denen ich ansetze, ihr irgend­et­was zu erklä­ren: „Mama, jetzt bin ich die Lehrerin!“

Haupt­säch­lich muss sie also wei­ter­hin spie­len: der beste und natür­lichste Weg in ihrem Alter, zu ler­nen. Also ersetze ich auf die­sem Gebiet so gut ich kann ihre Alters­ge­nos­sen im Kin­der­gar­ten, die ihr jetzt feh­len. In vie­ler Hin­sicht arran­gie­ren wir uns. Sie hilft mir dabei, nach dem Früh­stück, die Küche zu fegen. Ich helfe ihr dabei, Scar­letts Lieb­lings­es­sen aus Split und Erde herzustellen. 

Wenn ich genug Zeit hätte, um jeden Tag eine Stunde Sport zu machen, drei bis fünf Stun­den an mei­nem Buch zu schrei­ben, das laut Ver­trag Ende Sep­tem­ber fer­tig sein muss, und jede Nacht acht Stun­den zu schla­fen, wäre das alles leicht und gut gelaunt zu schaf­fen. Eigent­lich hatte ich vor­ge­habt, mir durch ein paar effi­zi­ente Dol­metsch­jobs viel Schreib­zeit zu ver­die­nen. Jetzt habe ich weder Dol­metsch­jobs noch Schreib­zeit. Das ist frustrierend. 

Um auch nur eine halbe Stunde Sport und eine Stunde Schreib­zeit zu gewin­nen, muss ich um 6 Uhr auf­ste­hen. Meis­tens wird es halb sie­ben, weil ich ein­fach nicht aus dem Bett komme. Die halbe Stunde Sport­zeit hat sich bis­her häu­fig in eine drei­vier­tel Stunde ver­wan­delt – mor­gens bin ich ein­fach noch nicht so schnell – und der dann noch ver­blei­bende Teil der ursprüng­lich geplan­ten Stunde Schreib­zeit ist für ein paar kleine Fut­zel-Über­set­zun­gen und meine Umsatz­steu­er­vor­anmel­dung fürs erste Quar­tal drauf­ge­gan­gen. Die ein­zige ruhige Zeit zu zweit mit mei­nem Mann ist so spät am Abend, dass ich es kaum schaffe, vor Mit­ter­nacht zu schla­fen. Also klappt das mit den 8 Stun­den schla­fen auch nicht. Das führt dann in Ver­bin­dung mit dem schlech­ten Gewis­sen, dass ich immer noch nicht wei­ter­ge­schrie­ben habe und dem ganz­tä­gi­gen „Mami im Spiel…“ zu stre­cken­wei­ser emo­tio­na­ler Unaus­ge­gli­chen­heit, bis hin zu Erschöp­fungs­zu­stän­den, Fress­an­fäl­len und dadurch ins Uner­träg­li­che gestei­ger­ten Stim­mungs­tiefs. Sowie zu Tira­den wie der obi­gen. Kurz: Es macht mich wahn­sin­nig! Ich weiß, wenn ich Zugang zu mei­ner Ver­nunft gewinne: Ich klage auf hohem Niveau. Ich habe keine ech­ten Pro­bleme. Aber wenn einen etwas wahn­sin­nig macht, ist die­ser Zugang manch­mal gar nicht so leicht zu finden.

Trotz­dem: ich bemühe mich immer wie­der darum. Irgend­wann schaffe ich es wie­der. Ich arbeite hart an mei­ner Ein­stel­lung. Es ist eine Lebens­auf­gabe. Ich sehe es schon lange als Haupt­ver­ant­wor­tung des Men­schen, und man kann es eben nur wirk­lich erfolg­reich und nach­hal­tig bei sich sel­ber machen. Ich gebe nicht so leicht auf! Ein Fress­an­fall ist gefolgt von drei Tagen Scho­ko­la­den­pause und abends Low-Carb, von dop­pel­ter Sport­in­ten­si­tät. Das uner­träg­li­che schlechte Gewis­sen wird an der Wur­zel gepackt und gefolgt von Schrei­ben – komme was da wolle – in jeder freien Minute, die früh mor­gens, spät abends und am Wochen­ende durch Vater-Toch­ter-Unter­neh­mun­gen zu haben ist. Davon muss es die nächs­ten Wochen regel­mä­ßig mehr geben. Wir wer­den die Details noch bespre­chen. Aber im Moment geht es noch nicht, weil Papa noch ein Web­i­nar fürs nächste Wochen­ende vor­be­rei­ten muss. 

Und auf Stim­mungs­tief und Ver­zweif­lung folgt: Digi­ta­ler Aus­tausch mit Freun­den, Musik machen, und wenn es nur 5 Minu­ten sind, zwi­schen­durch mal wie­der die gelbe Melone (also den Hut, meine ich) in die Hand neh­men und tan­zen. Swing hören. Songs mit unglaub­lich coo­len Har­mo­nien und Har­mo­nie­wech­seln. Auf dem Kla­vier nach­spie­len und nach­spü­ren, vor Allem die Har­mo­nie­wech­sel. Das tut gut. Milly ruft schon wie­der: Mami! Maaaami! Mami, komm! Mami im Spiel. Aber Wenn man wahn­sin­nig wird, muss man wie­der zur Ver­nunft kom­men, so ein­fach ist das. Das Leben ist ein stän­di­ges Hin und Her zwi­schen die­sen bei­den Zuständen. 

Wenn man also dem Wahn­sinn nahe ist, weil man eini­ges, das einen nervt, nicht ändern kann, muss man die Ver­nunft dort suchen, wo man etwas ändern kann. Man muss das beste draus machen. Zum Glück sind Milly und ich beide der Typ, der sowieso immer das beste an der Situa­tion sieht und das beste dar­aus macht. Ich freue mich sehr über ihre gute Einstellung.

„Ich finds gar nicht schlimm dass ich nicht mehr in den Kin­der­gar­ten muss,“ sagt sie schul­ter­zu­ckend, als ich ihr die Nach­richt über­bringe. „So kann ich den gan­zen Tag mit dir so frei sein, nicht immer war­ten bis wir raus­gehn dür­fen und dann: wann is end­lich Rau­pen­fut­ter und Ooh…“ sie drückt ihr Genervt­sein von die­sen Stress­fak­to­ren in ihrem Kin­der­gar­ten­all­tag mit einer Gri­masse und einem lang­ge­zo­ge­nen Stöh­nen aus. Ich muss lachen.

Das ist ein Bonus an die­ser inten­si­ven Zeit zu zweit. Ich bin ja im Moment nicht nur ihre Mut­ter und ihre Leh­re­rin, son­dern (natür­lich nur ersatz­weise) auch ihre Freun­din.  So kriege ich viel mehr von dem mit, was sie denkt und bewegt, was sie spielt, und was in ihr vor­geht. Das ist oft ziem­lich lustig. 

Wir sit­zen immer noch am Tisch­chen und rüh­ren. Scar­lett (gespielt von Rody, dem dre­cki­gen gel­ben Hüpf­pferd, das seit eini­gen Jah­ren im Gar­ten wohnt) steht inzwi­schen mit am Tisch und war­tet auf ihr Essen. Milly nimmt ein stu­fi­ges Stück Holz und sagt: Das ist das Mikro­skop. Damit kann man sich dann das hier genau angu­cken. Sie schüt­tet Split­mi­schung dar­auf. Ich meine, in Scar­letts Gesichts­aus­druck eine Spur Empö­rung zu ent­de­cken. War das nicht ihr Essen? Woher kennst du denn ein Mikro­skop? frage ich Milly ver­dutzt. Ich kann mich nicht daran erin­nern, kürz­lich mit ihr dar­über gespro­chen zu haben. Von der Maus-App sagt sie. Ich freue mich. Dann darf ich viel­leicht doch laut sagen, dass ich ihr vor ein paar Tagen auf mei­nem Handy die Maus-App run­ter­ge­la­den habe, als sie eine Stunde mit­ten am Tag still alleine zubrin­gen musste, weil ich an einem Web­i­nar mei­nes Berufs­ver­bands zu Sofort­hil­fe­mass­nah­men für Selbst­stän­dige in der Corona- Krise teil­neh­men wollte. (Ich will mir nicht vor­stel­len, wie der Medi­en­kon­sum von Kita-Kin­dern in ande­ren Haus­hal­ten zur Zeit aus­sieht.) Milly holt den Frosch­kö­nig – eine Gar­ten­fi­gur – aus dem Beet und stellt ihn zu uns auf den Tisch. Hallo Frösch­chen, begrüßt sie ihn fröh­lich. Du bist jetzt unser neues Mikro­skop! Ich schließe mich an: Herz­li­chen Glück­wunsch, Frösch­chen, zu dei­ner neuen Arbeitsstelle! 

Am Wochen­ende beschlie­ßen wir alle drei, mal kurz keine tren­nende Schicht­ar­beit zu machen und ein paar Stun­den Qua­lity-Fami­li­en­zeit zusam­men im Gar­ten zu ver­brin­gen. Ich ver­ti­ku­tiere die gesamte Rasen­flä­che per Hand. Die Arbeit ist so schwer, dass ich immer nur Stück­chen für Stück­chen machen kann. Schön, dass Papa und Milly mal Zeit haben, was zusam­men zu machen, denke ich. Sie sind nir­gends zu sehen. Inli­ner fah­ren vielleicht. 

Das ver­ti­ku­tie­ren ist anstren­gend. Aber wäh­rend ich schwitze und sehe, wie ich dadurch Qua­drat­me­ter für Qua­drat­me­ter unse­res Rasens von Grütze befreie, ist die Arbeit auch befrie­di­gend. Auf dem Weg zum Schup­pen, wo ich den Ver­ti­ku­tie­rer gegen den Rechen aus­tau­schen will, sehe ich Milly alleine unterm Tram­po­lin sit­zen. Sie hat in der Zwi­schen­zeit aus­dau­ernd ihre gesamte neu gekaufte Kreide zu Pul­ver ver­mah­len und damit den Split für die Pflas­ter­stein­rit­zen gefärbt. Papa jätet Unkraut im Vor­gar­ten. Unsere Qua­lity-Fami­li­en­zeit im Gar­ten haben wir ent­spannt jeder für sich verbracht. 

Ich räche die her­aus­ge­zo­gene Grütze in kleine Häuf­chen. Milly sam­melt sie für Scar­lett ein. Gleich will sie aber wie­der Split und Erde mit mir ver­rüh­ren. Denn das ist immer noch Scar­letts Lieb­lings­es­sen. Und dies­mal wird es bunt, das wird beson­ders lecker.

Mit dem Spli­trüh­ren habe ich inzwi­schen Frie­den geschlos­sen. Vor eini­gen Tagen habe ich mich plötz­lich an einen Urlaub erin­nert, den wir als meine Schwes­ter und ich noch ziem­lich klein waren, mal mit einer ande­ren Fami­lie zusam­men in der Bre­ta­gne gemacht haben. Unsere Eltern hat­ten ein Feri­en­haus mit Gar­ten gemie­tet. In dem Gar­ten hat­ten wir Kin­der einen klei­nen Tisch mit Bän­ken. Unser Lieb­lings­spiel war es, „Lem­minge zu kne­ten.“ Von den Lem­min­gen hat­ten wir sicher­lich bei irgend­ei­nem Tisch­ge­spräch unse­rer intel­lek­tu­el­len Eltern gehört – ich kann mich nicht erin­nern, ob ich damals wusste, dass es sich dabei um kleine Pelz­tiere han­delt, die in man­chen Situa­tio­nen Mas­sen­selbst­mord durch Her­un­ter­stür­zen in tiefe Schluch­ten bege­hen. Jeden­falls kne­te­ten wir in Wirk­lich­keit Baguette­stück­chen, die unsere Eltern uns wahr­schein­lich als Snack hin­ge­stellt hat­ten. Jede freie Minute nutz­ten wir, um Lem­minge zu kne­ten. Wir emp­fan­den es als wich­tige Auf­gabe, die wir sehr ernst nah­men und waren hoch motiviert. 

Das Spli­trüh­ren hat genau den glei­chen Cha­rak­ter: Man tritt über die Bewe­gun­gen des Kör­pers in Kon­takt mit irgend­ei­ner Mate­rie und kne­tet, zer­pul­vert oder zer­stampft sie mit den eige­nen Hän­den. Dann gibt man ihr einen Namen. Es ist das Ur-Gefühl, etwas zu schaf­fen. Auch wenn es nicht mei­ner heu­ti­gen erwach­se­nen Vor­stel­lung von ziel­ge­rich­te­ter Arbeit ent­spricht, hat mir die Erin­ne­rung an das Lem­min­ge­kne­ten dabei gehol­fen, mich wie­der mit die­ser Art von Tätig­keit anzu­freun­den. Ich erin­nere mich deut­lich an die Ernst­haf­tig­keit, mit der wir unsere „Lem­minge kne­te­ten“, an die Aus­dauer und Sorg­falt, mit der wir die Baguette­stück­chen bear­bei­te­ten, bis sie in Form und Farbe gro­ßen, fes­ten Popeln gli­chen. Viel­leicht ist das die kind­li­che Urform der Erfah­rung, als Mensch die Ele­mente in sei­ner Umwelt irgend­wie for­men und benen­nen zu kön­nen. Im Grunde ist es wie die Schöp­fungs­ge­schichte. Gott machte mit sei­nem Stück Lehm ja genau das glei­che. Dann nannte er das Ergeb­nis Adam. Was ist daran vernünftig?

Die nächste Ein­sicht kam mir beim Ver­ti­ku­tie­ren. Frü­her kannte ich das Wort „Ver­ti­ku­tie­ren“ nicht. In unse­rer Fami­lie war Rasen­pflege nicht an der Tages­ord­nung. Meine Eltern zeich­ne­ten eher kunst­voll mit Kohle die inter­es­san­ten Moos- und Unkraut­for­ma­tio­nen in unse­rem Gar­ten, als auf die Idee zu kom­men, sie als Stör­fak­to­ren anzu­se­hen. Ich wuchs in einer fas­zi­nie­ren­den Welt vol­ler Kunst und ohne Rasen­pflege auf. Mein Mann hat die Rasen­pflege mit in die Ehe gebracht. Ich habe vor­her nie Wert auf schö­nen Rasen gelegt – ja, Leute, die mit der Nagel­schere ihre Rasen­kan­ten schnei­den sogar ten­den­zi­ell eher belä­chelt – aber heute gefällt mir unser wei­cher Rasen­tep­pich. Ich kann dar­auf wun­der­bar mit Milly her­um­rol­len, Hand­stand am Kirsch­baum üben und Acro-Yoga machen. Sogar das ältere Nach­bars­mäd­chen kam vor der Corona-Krise regel­mä­ßig zu uns rüber, um ihre Rad­schläge zu üben. 

Und die Auf­gabe des Hand-Ver­ti­ku­tie­rens liegt mir. Sie ist schweiß­trei­bend und medi­ta­tiv. Ich muss an meine geliebte Heu­schnei­de­szene in Anna Kare­nina den­ken. Und es ist ziel­ge­rich­tet: Ich tue es für unse­ren Rasen. Damit er nicht ver­kommt und schön wächst. Damit er uns erfreut, und die Nach­barn. Genau diese Arbeit muss ich eben auch bei mei­ner Toch­ter machen: ich muss sie hegen und pfle­gen, damit sie hübsch wächst und gedeiht und uns allen Freude macht. Und das braucht nicht ein paar Stun­den, son­dern viele Jahre. Da muss man eben immer wie­der mal Pause machen, sonst schafft man es nicht. Sonst wird man wahn­sin­nig. Aber man darf sich dem Wahn­sinn nicht erge­ben. Vor allem wenn er zu Tira­den wie die­ser und ner­vi­ger Mecke­rei führt. Das kann wirk­lich kei­ner gebrau­chen. Da wird es höchste Zeit, wie­der an der Ein­stel­lung zu arbeiten.

Wäh­rend Milly die Grüt­ze­hau­fen zu Scar­lett bringt und dabei einen Groß­teil davon wie­der über dem Rasen ver­teilt, gucke ich ihr mit schweiß­ver­kleb­ten Haa­ren hin­ter­her und spüre ein Lächeln in mein Gesicht stei­gen. Ich habe es mal wie­der geschafft zur Ver­nunft zu kom­men: Ich stelle fest, was für ein gro­ßes Glück ich habe, so ein fröh­li­ches, gesun­des, unend­lich nied­li­ches Kind zu haben, das uner­müd­lich auf neue Ideen kommt und den gan­zen Tag mit sei­ner süßen hel­len Stimme füllt, dass wir Zeit zusam­men haben, dass ich mit­kriege, was es so denkt und fühlt, wie es spielt, und was es moti­viert. Wer weiß? Viel­leicht bringt uns die Corona-Krise ja noch so ein Glücks­kind. Man ist ja jetzt viel zu Hause. Auch wenn die Umstände nicht gerade ermu­ti­gend sind – Kin­der sind eben nicht ver­nünf­tig. Sie sind Wahnsinn!

Cate­go­riesDeutsch­land
Anna Sanner

Anna Sanner, geb. 1980 in Hannover, studierte in Schottland, England und Japan Japanologie, Übersetzen und Dolmetschen. Nach langen Aufenthalten in Großbritannien, Spanien, Japan und Hawaii lebt sie seit 2012 als freie Dolmetscherin und Übersetzerin für Englisch und Japanisch in Hannover. Sie dichtet und erzählt seit Kindertagen leidenschaftlich in jeder Sprache, die sie kennt. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. 3. Platz beim Bonner Literaturpreis 2019.

    1. Antje says:

      Hi Anna. Hast Du schön beschrie­ben. Man könnte es auch nen­nen „die Reise in den Wahn­sinn und zurück- Ent­span­nung durch den Ver­ti­ku­tie­rer“ :-) Kin­der leben in einer ande­ren Welt. Für sie sollte es auch eine schöne Welt blei­ben. Halte wei­ter durch !

    2. Lisa says:

      Ich bin die Frau, mit der Katha damals Lem­minge gekne­tet hat, und sehe einen Hau­fen Zusam­men­hänge zum Thema Rei­sen. Die fin­den ja auch im Kopf statt, und der Aus­druck „Lebens­reise“ ist ja ver­mut­lich auch nicht so ganz aus Ver­se­hen ent­stan­den. Viel­leicht sind diese Rei­sen sogar die viel wich­ti­ge­ren; die Rei­sen, die man nicht phy­sisch, son­dern men­tal unter­nimmt. Und dass man als Kind men­tal wei­ter und gren­zen­lo­ser reist, als man das als Erwach­se­ner phy­sisch je wie­der hin­be­kommt, ist etwas ganz Gran­dio­ses und Wun­der­ba­res, das man sich bewah­ren sollte. Ist auch viel bes­ser für den CO2-Aus­stoß. Und dass Katha es hier hin­be­kom­men hat, die Gren­zen, die wir im Moment alle erfah­ren und aus­hal­ten müs­sen, mit der Mög­lich­keit, men­tal trotz­dem gren­zen­los unter­wegs sein zu kön­nen, auf­ein­an­der zu bekom­men, macht ihren Text zu einem ganz wich­ti­gen Bei­trag zum Thema „Rei­sen“, finde ich. Bin aber viel­leicht auch etwas vor­ein­ge­nom­men, weil die schöns­ten mei­ner men­ta­len Rei­sen nur dank Katha statt­ge­fun­den haben.Bis heute. Danke, Katha!

    3. Anna Sanner says:

      Liebe Lisa,

      Ich hab mich gerade so über Deine elo­quente, al dente (bissig->bissfest->al dente) Ver­tei­di­gung mei­nes Tex­tes und sei­nes Zusam­men­hangs mit dem Rei­sen gefreut, dass ich mich in einen Gas-Bal­lon-Smi­ley mit Herz­au­gen ver­wan­delt habe. Jetzt klebe ich in die­ser Form an der Decke und ver­fasse von hier aus diese Reaktion.

      Durch unsere prä­na­tale Ver­bin­dung rei­sen wir ja schon seit frühs­ter Kind­heit zusam­men sowohl phy­sisch als auch men­tal durch diese und andere Wel­ten. Ein sel­te­nes Glück! Da kommt viel­leicht nicht jeder mit.

      Namens­er­klä­rung für alle ande­ren: Katha, das bin übri­gens ich, Anna. Frü­her haben mich alle Katha­rina oder Katha genannt – mein zwei­ter Vor­name. Irgend­wann bin ich dann (phy­sisch, mit CO2-Abdruck) in Län­der gereist, wo die Leute „Katha­rina“ nicht aus­spre­chen konn­ten und bei „Kata“ an Schul­tern oder Kampf­kunst­cho­reo­gra­phien gedacht haben. Da hab ich dann der Ein­fach­heit hal­ber ange­fan­gen, mei­nen ers­ten Vor­na­men Anna zu benut­zen. Inzwi­schen ken­nen mich auch viele deut­sche Freund als Anna. Und weil der Name Anna so schön ein­fach ist und sich so schön-blöd auf mei­nen Nach­na­men San­ner reimt, benutze ich ihn auch für meine Veröffentlichungen.

      Micha, ich hab glaub ich Deine Erwar­tun­gen ent­täuscht. Sicher­lich kommst Du bei all den ande­ren schö­nen Arti­keln hier auf dem Rei­se­de­pe­schen-Blog auf Deine Kos­ten. Ansons­ten emp­fehle ich gerade wäh­rend der Corona-Krise: lie­ber nicht zu viel erwar­ten – beson­ders im Zusam­men­hang mit Reisen

      Danke liebe Antje für Deine net­ten und wah­ren Worte – genau! Machen wir uns die Welt wide­wi­de­wie sie uns gefällt!

      Rei­sen, Leute, lasst das Reisen
      uns den Weg zum Wei­sen weisen!

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