Liebes_Indien

… wenn du diese Zei­len liest, habe ich dich bereits ver­las­sen. Wahr­schein­lich über­rascht dich das nicht! Unsere immer wie­der auf­tre­ten­den Dif­fe­ren­zen musst du gespürt haben. Aber keine Angst! Hier folgt keine finale Abrech­nung! Wir hat­ten unheim­lich schwie­rige Pha­sen mit­ein­an­der – doch natür­lich auch unglaub­lich schöne. Sonst wäre ich kaum ein Jahr bei dir geblie­ben! Es gibt aller­dings ein paar Dinge, die ich dir noch mit­ge­ben muss. Zual­ler­erst möchte ich dir sagen, dass ich dich mit einem Gefühl vol­ler Liebe, Respekt und Dank­bar­keit ver­lasse. Ich bereue kei­nen ein­zi­gen Tag unse­rer inten­si­ven Beziehung.

Ich weiß nicht mehr genau wann ich mich in dich ver­liebt habe, nur dass es schon einige Jahre zurück lie­gen muss. Und ja, wir hat­ten eine unver­gess­li­che Zeit mit­ein­an­der! Und obwohl wir uns unse­rer kul­tu­rel­len Unter­schiede von Anfang an bewusst waren und trotz aller War­nun­gen vie­ler Freunde, haben wir unse­rer Liebe und einer dau­er­haf­ten Bezie­hung eine Chance gege­ben! Den­noch habe ich mich nun end­lich dazu durch­ge­run­gen, mich von dir zu tren­nen. Ich muss gehen, so lange ich dich in guten Erin­ne­run­gen behal­ten kann und bevor wir begin­nen, uns gegen­sei­tig nicht mehr gut zu tun. Wir beide sind von Natur aus unglaub­lich ver­schie­den und ich respek­tiere dein Anders­sein völ­lig. Den­noch möchte ich dir mit die­sem Brief erklä­ren, warum ich auf Dauer nicht mit dir leben und dich nicht mehr unein­ge­schränkt lie­ben kann. Ich denke, das bin ich dir schuldig.

Indien, du hast atem­be­rau­bend schöne Züge, eine fas­zi­nie­rende, wenn auch manch­mal trau­rige Geschichte, viele dei­ner Men­schen sind ein­fach nur groß­ar­tig, hilfs­be­reit, fröh­lich, doch im All­tag mit dir auf der Straße wurde mir Vie­les deut­lich und bewusst:

Indien, du bist unglaub­lich laut! Und das ist kein Vor­wurf. Aber du müss­test mitt­ler­weile wis­sen, dass ich jemand bin, der immer wie­der Rück­zug und Ruhe braucht. Du aller­dings bist ein­fach immer zu laut. Du sprichst laut, du tele­fo­nierst laut, du isst laut, du siehst laut fern, du bewegst dich laut. Und dabei kommst du mir sehr nahe, lässt mir kei­nen Raum. Unent­wegt hängst du am Tele­fon und lässt mich unfrei­wil­lig daran teil­ha­ben. Du erdrückst mich rund um die Uhr, du nimmst keine Rück­sicht auf meine Pri­vat­sphäre. Du starrst mich an, pau­sen­los, ohne Rück­sicht auf mein Scham­ge­fühl. Deine laute und pene­trante Disco-Musik treibt mich in den Wahn­sinn. Dass sie mir nicht gefällt, steht auf einem ande­ren Blatt. Doch es steht mir nicht zu dich ändern zu wol­len. Und des­halb muss ich gehen. Indien, du bist schlud­rig! Das meiste was du anpackst – und das ist zuge­ge­be­ner­ma­ßen sehr viel – hält ein­fach nicht. Du repa­rierst und flickst und malst und tust. Doch wofür? Nach zwei Tagen ist alles wie­der kaputt. Selbst neue Dinge. Dein Anspruch ist „Haupt­sa­che, es funk­tio­niert! Irgend­wie!“ Mein Anspruch ist ein ande­rer. Ich wün­sche mir, dass Dinge eine gewisse Qua­li­tät haben, dass sie effi­zi­ent sind, nach­hal­tig … und manch­mal auch dass sie schön aus­se­hen. Jetzt lachst du mich wie­der aus für mein typisch deut­sches Geschwätz … und das darfst du auch. Ich bin eben anders. Doch es steht mir nicht zu dich ändern zu wol­len. Und des­halb muss ich gehen.

Du bist so eitel, lie­bes Indien! Du legst so viel Wert auf deine nichts­sa­gen­den Titel und auf Ehrun­gen und auf Hier­ar­chien und deine Kas­ten und all das. Doch Eigen­schaf­ten wie Erfah­rung oder Cha­rak­ter­stärke sind dir völ­lig gleich­gül­tig. Immer diese zwei Gesich­ter! Vie­les liegt im Argen und dann plötz­lich schießt du eine Rakete ins All – mit einem Satel­li­ten für den Mars? Du schaffst es immer noch, mich zu über­ra­schen! Aber was ist dir dabei wich­tig? Ist es der Ruhm, die Ehre, der Stolz? Nach außen hin müs­sen dich alle bewun­dern, doch hin­ter dei­ner Fas­sade liegt alles in Trüm­mern. Doch es steht mir nicht zu dich ändern zu wol­len. Und des­halb muss ich gehen.

Indien, du bist der mise­ra­belste Auto­fah­rer die­ser Welt! Ver­zeih meine Direkt­heit, aber du bist ein A****loch im Stra­ßen­ver­kehr. Dass du dich damit täg­lich in Lebens­ge­fahr bringst ist mir mitt­ler­weile egal. Mach doch was du willst! Doch wenn es um mein Leben geht, kann und will ich das nicht mehr akzep­tie­ren. Du kannst nicht fah­ren, du kannst nicht über­ho­len, du kennst dei­nen eige­nen Blin­ker nicht und nur weil alle ohne Licht fah­ren, heißt es nicht, dass es dich nicht heute Nacht erwischt! Warum lernst du nichts aus den unzäh­li­gen Toten jeden Tag! Dass du mich immer wie­der aus­lachst wenn ich mich anschnalle, dass du dich über mein Blin­ken, meine Rück­sicht, mein War­ten oder mei­nen manch­mal defen­si­ven Fahr­stil lus­tig machst, das ver­letzt mich. Doch ich will mich von dir nicht ändern las­sen. Und des­halb muss ich gehen.

Indien, manch­mal habe ich Angst vor dir! Ver­zeih, doch du bist ein Spie­ler, ein Betrü­ger … und manch­mal gar ein Ver­bre­cher. Oft befin­dest du dich an der Grenze zur Kri­mi­na­li­tät. Du bist kor­rupt und nimmst Geld das dir nicht gehört. Und damit nicht genug. Stän­dig ver­suchst du sogar mir das Geld aus der Tasche zu zie­hen. Einem Men­schen der dich liebt! Dass du dich dabei auf­grund dei­ner Bere­chen­bar­keit oft lächer­lich machst, das merkst du nicht ein­mal. Glaubst du denn, ich kann nicht rech­nen? Du willst groß in der Poli­tik mit­mi­schen und kapierst nicht ein­mal die ein­fachs­ten Regeln des gesell­schaft­li­chen Mit­ein­an­ders – Inte­gri­tät, Wahr­heit, Gerech­tig­keit. Du folgst kei­nen Regeln und schützt deine Ver­bre­chen – sogar die an Kin­dern und Frauen! Das macht dich gefähr­lich. Das ist auf Dauer nicht akzep­ta­bel für mich! Und des­halb muss ich gehen.

Indien, du bist pha­sen­weise ganz schön unge­pflegt! Nun, was ich zu Beginn unse­rer Bezie­hung für wild, authen­tisch und exo­tisch hielt, macht mich manch­mal ein­fach nur noch sprach­los. Ent­schul­dige, dass ich so deut­lich wer­den muss, doch du stinkst! Du bist dre­ckig, du bist unge­pflegt, du spuckst mir vor die Füße und dein Umgang mit Müll ist indis­ku­ta­bel. Alles wirfst du weg, ohne dir Gedan­ken über die Kon­se­quen­zen zu machen. Was glaubst du denn, was mit dem gan­zen Mist hin­ter dei­nem Küchen­fens­ter pas­siert? Ich bin es leid, dich dar­auf hin­zu­wei­sen, ich bin es leid von dir ver­spot­tet zu wer­den, wenn ich mei­nen Müll tage­lang spa­zie­ren fahre um ihn in einen arm­se­li­gen, unbe­nutz­ten Müll­ei­mer zu wer­fen. Und ich bin es leid, dass du einen Teu­fel tust, Müll zu ver­mei­den, zu tren­nen oder zu redu­zie­ren. Täg­lich frisst du die­sen Junk: Chips und Kekse! Nicht nur dass ich es extrem unsexy finde, dass du die­sen künst­li­chen Scheiß frisst, er ist unge­sund und du kannst mit den Ver­pa­ckun­gen ein­fach nicht umge­hen. Warum hast du nur ange­fan­gen mit die­sem Mist? Doch es steht mir nicht zu dich ändern zu wol­len. Und des­halb muss ich gehen.

Ach Indien, es ist mir ein drin­gen­des Bedürf­nis, all das ein­mal los­zu­wer­den … doch natür­lich hat­ten wir auch unheim­lich schöne, unver­gess­li­che Zei­ten mit­ein­an­der. Du bist das viel­leicht krea­tivste Land die­ser Welt. Ich bewun­dere dich. Es hat mich immer wie­der über­wäl­tigt, wie gut du impro­vi­sie­ren kannst. Ich beneide dich dafür. Mmmmh, und du kannst kochen! Gött­lich! So ein­fach, so güns­tig, pure Veg … ich liebe es! Ich erin­nere mich an jede unse­rer gemein­sa­men Mahl­zei­ten. Und du kannst tan­zen, fei­ern, gesel­lig sein wie kein Ande­rer, bist uner­müd­lich, fröh­lich, lachst immer und über­all. Das ist wun­der­bar! Und unsere Zeit am Meer, unsere vie­len Monate in dei­nen wun­der­schö­nen Ber­gen … da warst du ganz anders! Plötz­lich warst du freund­lich zu mir, höf­lich, hilfs­be­reit. Die Natur dort war so schön, dass du ganz still wur­dest. Du hast geschwie­gen, sanft gelä­chelt, mir ganz beson­dere Orte gezeigt. Du warst fried­lich, spi­ri­tu­ell, hast dich selbst nicht mehr so wich­tig genom­men, hast mir zuge­hört. Du hast sogar den Müll auf­ge­ho­ben, warst leise, hast medi­tiert, hast nicht mehr gehupt. Ich habe mich ganz neu in dich ver­liebt, habe an dich geglaubt, fand dich wie­der schön und sexy … und ich dachte wirk­lich, wir könn­ten eine gemein­same Zukunft mit­ein­an­der haben. Für mich waren das die schöns­ten Pha­sen unse­rer Bezie­hung. Und mit die­ser Erin­ne­rung habe ich nun beschlos­sen zu gehen. Denn sollte man nicht gehen, wenn es am Schöns­ten ist? Ich möchte dich als das far­ben­frohe, ener­gie­ge­la­dene und lie­bens­werte Wesen in Erin­ne­rung behal­ten, das du bist. Ich habe so viel von dir gelernt. Über dich und über mich. Und wenn ein wenig Zeit ver­gan­gen ist, kann ich mir vor­stel­len, dich vol­ler Freude wie­der zu sehen.

Doch im Moment brau­che ich etwas Abstand. Ich wün­sche dir alles Gute für deine Zukunft. Ich werde dich im Her­zen immer bei mir tra­gen und kann ande­ren unglaub­lich viel Schö­nes über dich erzäh­len. Ja, ich wün­sche mir, dass wir rich­tig gute Freunde blei­ben. Für mich beginnt nun ein neuer Lebens­ab­schnitt, doch ich bin unend­lich dank­bar für alles was ich mit dir tei­len und erle­ben durfte. Schau du ein­fach, dass du dich auf die Reihe kriegst. Ich wün­sche dir alle Kraft der Welt dafür.

Take good care!
Ein lei­ses und vor­erst letz­tes „Namaste!“

 

Ich

Cate­go­riesIndien
Jennifer und Peter Glas

Ihr erstes gemeinsames Zuhause ist ein Unimog-Van. Jen und Peter kennen sich erst vier Monate, als sie beschließen, zusammen die Welt zu befahren – ihre Hochzeitsreise wird ein epischer Roadtrip.
Die abenteuerliche Hochzeitsreise von München über den Balkan, Iran, Oman, Indien und Südostasien bis nach Wladiwostok verfolgen tausende Fans auf ihrem Blog Glaarkshouse.
Jetzt auch als wunderschöner Lese-Bildband erhältlich: ROADTRIP - Eine Liebesgeschichte von Jen und Peter Glas. Überall wo es Bücher gibt und in unserem Online-Shop.

  1. Mariam says:

    Eine wun­der­schöne Zusam­men­fas­sung eines Lan­des, das so viel­fäl­tig und auch viel­schich­tig ist wie Indien.. Ich kann dir/euch nur 100% zustim­men, und ich freue mich so, dass jemand in der Lage ist, das Gefühl, dass euch und mich und sicher­lich noch so viele andere Rei­sende mit Indien ver­bin­det, in Worte zu fassen!
    Vie­len Dank für die­sen wun­der­ba­ren Text, der mich wirk­lich berührt hat

    1. Jen & Peter says:

      Liebe Mariam.,
      danke für dein schö­nes Feedback.
      Wir haben sehr lange und immer wie­der an die­sem „Brief“ geschrie­ben. Vor allem viele Wochen immer wie­der nur in Gedan­ken. Irgend­wann musste das dann mal alles raus. Freut uns sehr, dass wir damit die Gefühle so vie­ler ande­rer Rei­sen­den getrof­fen haben.
      Schöne Rei­sen! Jen & Peter

  2. helge says:

    das ist die schönste und inter­es­san­teste Rei­se­be­schrei­bung Indiens!
    Wer mal in die­sem Land war, kann jedes Wort bestätigen …
    Danke!!

  3. Rolf says:

    Hallo Jen­ni­fer, hallo Peter

    Das ist wirk­lich kein „0815“ Rei­se­be­richt. Ehr­lich, anma­chend und zugleich abschre­ckend. Wir wol­len in den nächs­ten Jah­ren auch für 2 bis 3 Monate nach Indien. Ich glaube, dass wir vor­her noch etwas über euren Bericht diskutieren.

    Danke, das soll ja auch der Sinn eines Berich­tes sein.

    Liebe Grüsse aus CH

    1. Jen says:

      Danke Rolf, für deine Zei­len. Gerne betei­li­gen wir uns an einer Dis­kus­sion :) und wenn ihr noch Tipps oder Rat braucht … Jeder­zeit gerne!

  4. Daniel says:

    Hallo Jen­ni­fer + Peter,

    ich habe vor im nächs­ten Jahr nach Indien zu rei­sen und wollte mich daher von Rei­se­be­rich­ten inspi­rie­ren las­sen. Toll, dass ihr so offen und erhlich seid, eure Ein­drü­cke sowohl posi­ti­ver Natur als auch die nega­ti­ve­ren so schön bild­lich beschreibt. Das berei­tet mich dann doch etwas bes­ser auf die Reise vor als ein ein­fa­cher Pro­spekt im Rei­se­büro oder die Tou­ris­mus Web­sites. Wobei ich sowieso eher auf eigene Faust rei­sen möchte. Sind die Inder wirk­lich so schlechte Auto­fah­rer, ist das Ver­kehrs­chaos ver­gleich­bar mit den Gross­städ­ten Chinas?
    VG Daniel
    Danke für den schö­nen Artikel.

    1. Jen says:

      Lie­ber Daniel.
      Danke für dein Feed­back. Nun, der Ver­kehr ist in der Tat ein Alp­traum, doch zeit­gleich fas­zi­nie­rend … denn irgend­wie funk­tio­niert es ja. Meistens.
      Willst du auch selbst fah­ren? Jeden­falls wün­sche ich dir eine gross­ar­tige Reise!

  5. Guido says:

    Schöne und gut nach­voll­zieh­bare Zusam­men­fas­sung, der man anmerkt, dass Ihr eben nicht nur 10 Tage im Land gewe­sen seid. Danke.

    1. Danke, Guido!
      Vie­les was zu Beginn span­nend wirkt, macht spä­ter trau­rig. Aber auch Vie­les was einen zu Beginn erschlägt wird auf Dauer immer ent­spann­ter. In jedem Fall ist Indien immer ein Erleb­nis. Wir haben mit die bes­ten Zei­ten unse­rer län­ge­ren Reise in Indien erlebt, doch auch die erschüt­ternds­ten Momente.
      Son­nige Grüße, die Jen.

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