Kairo: Tahrirplatz

Nun ist es also doch pas­siert. Wir sind am Tah­r­ir-Platz aus­ge­stie­gen und haben die Metro ver­las­sen. Und alles nur, weil die Bahn still­steht. Hun­der­te Demons­tran­ten blo­ckie­ren das U‑Bahngleis. Eine bren­nen­de Lun­te wird auf die Glei­se gewor­fen. Des­we­gen brems­te unser Zug so abrupt ab und des­we­gen kann er nicht kom­plett in die Sta­ti­on gelan­gen. Wir haben noch Glück. Unser Wagen steht bereits im Bahn­hof, wir stei­gen aus.

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Von einer Sekun­de auf die ande­re brennt es in den Augen, ein wider­li­cher, schar­fer und bei­ßen­der Gestank zieht in den Mund und in die Nase. Wir legen unse­re Arme oder unse­re Kapu­zen vor Mund und Nase und ver­las­sen so zügig, wie es geht, die Sta­ti­on nach oben. Um uns her­um hun­der­te Ägyp­ter, die das Glei­che tun. Wohl­ge­merkt: fast alle von ihnen sind nor­ma­le, durch­schnitt­li­che Bür­ger. Kei­ne wut­ent­brann­ten, gewalt­be­rei­ten Demons­tran­ten, kei­ne Schlä­ger, kei­ne sonst­wie ori­en­tier­te Extre­mis­ten. Ein­fach nur Män­ner und Frau­en, die gern nach ihrem Arbeits­tag nach Hau­se wol­len. Vie­le tra­gen klei­ne Kin­der auf den Armen, eini­ge Män­ner ver­kau­fen Mund­schutz­mas­ken, wie wir sie aus Kran­ken­häu­sern ken­nen, an die vor­bei­strö­men­den Pas­san­ten und machen noch ein Geschäft.

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Was ist pas­siert? Nichts sehr Kon­kre­tes, nichts Unge­wöhn­li­ches. Die Men­gen an Trä­nen­gas, die von der Über­gangs­re­gie­rung gegen die eige­nen Bür­ger auf dem Tah­r­ir-Platz ein­ge­setzt wer­den, lagern sich dank der brei­ten Ein- und Aus­gän­ge der Metro­sta­ti­on in die­se ab. Es ist bar­ba­risch. Die Men­schen auf dem Platz for­dern end­lich freie Wah­len, end­lich tat­säch­li­ches Mit­spra­che­recht, end­lich einen Hauch von Demo­kra­tie in die­sem Land, das bis vor knapp einem Jahr von einem Des­po­ten namens Muba­rak regiert wur­de. Die Freu­den­schüs­se aus dem Febru­ar 2011 wan­del­ten sich rasch in Schüs­se auf die Demons­tran­ten, die den wich­tigs­ten Platz der Stadt (an dem sich u.a. das welt­be­rühm­te Bri­ti­sche Muse­um befin­det) seit­her unun­ter­bro­chen unter Beschlag nah­men. Nur so hören die Macht­ha­ber zu. Nur so schaut die Welt wei­ter­hin nach Ägyp­ten und fragt sich, ob der „Ara­bi­sche Früh­ling“ nicht doch bloß aus zwei son­ni­gen Tagen bestand. Wan­del in eine demo­kra­ti­sche Zukunft? Nir­gends zu sehen.

Wir sind inzwi­schen die letz­ten Stu­fen hoch­ge­lau­fen und ste­hen nun auf dem Platz. In der Mit­te das Camp der Dau­er­pro­tes­te, wir hören das Abschie­ßen von Feu­er­werk und sehen in vie­len der stern­ar­tig zulau­fen­den Stra­ßen, dass die­se durch Stra­ßen­bar­rie­ren zuge­mau­ert wor­den sind. Vor­sich­tig tas­ten wir uns am Ran­de des Plat­zes ent­lang und gehen schließ­lich durch eine offe­ne Stra­ße in eine ruhi­ge­re Gegend. Wir essen bei einem Jeme­ni­ten und beru­hi­gen uns, ich bege­he den Faux­pas, einer eben­falls zu unse­rer Grup­pe gehö­ren­den ägyp­ti­schen jun­gen Frau die Hand geben zu wol­len. Sie lächelt und sieht dann auf den Boden. Ich ste­he zwei Sekun­den schwei­gend an Ort und Stel­le, nie­mand klärt mich auf. Dann begrei­fe ich mei­ne sozia­le Unkennt­nis und len­ke mit einer Anek­do­te von unse­rer Fahrt zu den Pyra­mi­den ab.

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Es ist unwirk­lich und beängs­ti­gend. Weni­ge Kilo­me­ter ent­fernt eska­liert an die­sem Abend aber­mals die Gewalt, das Mili­tär setzt schar­fe Waf­fen gegen aggres­si­ve Demons­tran­ten ein. Wir bekom­men davon in der Wohn­ge­mein­schaft mei­nes Freun­des wenig mit. Das Inter­net berich­tet. Auf deut­schen Nach­rich­ten­sei­ten lese ich Titel wie „Ganz Ägyp­ten ver­sinkt im Cha­os“. Da ist das Unwirk­li­che: Wir sit­zen mit­ten in Kai­ro, mit­ten in Ägyp­ten, wir sind gesund und sicher, uns geht es gut. Und den­noch haben die Medi­en nicht völ­lig Unrecht. An die­sem Abend gibt es Tote, zwei in Kai­ro, über zehn Men­schen ster­ben in der Hafen­stadt Port Said. Getö­tet von Lands­leu­ten, die auf Befehl han­deln. Getö­tet, weil sie zu viel wol­len. Ein Stück Frei­heit für sich und ihre Fami­li­en.

Hier­bei ler­ne ich aber erst in Kai­ro, vor Ort, dass unse­re Bericht­erstat­tung, bes­ser gesagt, das, was wir zu lesen und zu Glau­ben bekom­men, nicht der Rea­li­tät ent­spricht. Es wäre naiv zu behaup­ten, dass alle Ägyp­ter Demo­kra­tie wol­len. Die spä­te­ren Wah­len bestä­ti­gen die radi­ka­le Mus­lim­bru­der­schaft, die Wah­len schei­nen kor­rekt ver­lau­fen zu sein. Eine Mehr­heit der Ägyp­ter, in gro­ßen Tei­len die Land­be­völ­ke­rung der soge­nann­ten bil­dungs­fer­nen und sozi­al­schwa­chen Schich­ten, wünscht sich eine tra­di­tio­nel­le, auf Reli­gi­on mün­zen­de Füh­rung ihres Lan­des. Wir, die wir mit die­ser Frei­heit auf­ge­wach­sen sind und die für vie­le von uns so selbst­ver­ständ­lich wur­de, dass sich vie­le nicht ein­mal mehr dazu beru­fen füh­len, an Wah­len teil­zu­neh­men und Demo­kra­tie aus­zu­le­ben, mögen das für nicht nach­voll­zieh­bar hal­ten. Genau­so wenig kann ich an die­sem Abend in Kai­ro nach­voll­zie­hen, war­um die­ses Land trotz­dem irgend­wie funk­tio­niert. Am Cha­os wan­delnd, die Tou­ris­ten­zah­len im Sturz­flug, die Wäh­rung auf dem Weg in die Infla­ti­on, die Gefahr einer inter­na­tio­na­len Iso­la­ti­on durch das Auf­tre­ten des Über­gangs­prä­si­den­ten Moham­med Mur­si – es gibt viel, das ich nicht nach­voll­zie­he. Aber das gibt mir oder irgend jeman­dem, der das Land besucht, sicher­lich nicht das Recht, zu ermes­sen, was die­ses Land braucht. Demo­kra­tie klingt nach dem ein­zig rich­ti­gen Weg. Aber wie soll man eine Demo­kra­tie ein­füh­ren, wenn die Men­schen des Lan­des nie­mals Demo­kra­tie erlebt haben? Die Regeln nicht ken­nen? Nicht wis­sen, wie sie das Sys­tem mit ihren tra­di­tio­nel­len Wer­ten und ihrem All­tag ver­ein­ba­ren sol­len?

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Wir sit­zen betrübt im Wohn­zim­mer, fünf Män­ner, die aus ganz unter­schied­li­chen Grün­den hier sit­zen. Vier von uns rei­sen frü­her oder spä­ter wie­der ab. Nur einer wird blei­ben. Hamid, der ägyp­ti­sche Mit­be­woh­ner, der vor kur­zem erfuhr, dass er Vater wird (sie­he Kai­ro Teil I). Er sitzt dort, zieht an der Was­ser­pfei­fe und sagt schließ­lich: „You know, when my father was young it was cri­ti­cal. The army took over the coun­try and for US it took fif­ty years to get rid of it. Now it is cri­ti­cal again. For us, the only thing we can do is try to live our life and wait what will hap­pen. And hope to get out of it ali­ve.“

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Antworten

  1. Avatar von Zypresse

    Ein sehr span­nen­der, sehr rich­ti­ger und sehr wich­ti­ger Bericht. Ja, wir hier im Wes­ten mei­nen immer, wir brin­gen der Welt das Heil. Dabei über­se­hen wir nur, das woan­ders auf der Welt man­che Wer­te anders sind, man­che Tra­di­tio­nen ande­re Wer­te hoch gewich­ten. Es ist so wich­tig, uns dar­an zu erin­nern, wenn wir den Stab über das bre­chen, was anders­wo pas­siert, was ande­re Men­schen in fer­nen Län­dern bewegt.

    Dan­ke, Mari­us.

    1. Avatar von Marius

      Vie­len Dank für den Kom­men­tar.

      Ja, mir wird oft erst vor Ort bewusst, dass man Lebens­wei­sen nicht auf­zwin­gen kann, ja nicht ein­mal emp­feh­len. Ganz so gleich sind wir dann doch nicht alle.

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