Die Wüste Gobi

Juli­en und Sal­ly, das sind ER und SIE. Hand in Hand ent­de­cken sie die Welt.
Heu­te: Für Sal­ly ist die Wüs­te Gobi »see­lisch ver­wert­bar«. 

 

Viel­leicht ist es kein Zufall, dass ich aus­ge­rech­net auf Welt­rei­se den Bio­gra­fie-Wäl­zer von Mar­cel Reich-Rani­cki lese. Oder war es ein Zufall, dass SEIN Vater sich die­ses E‑Buch gela­den hat und ich mich als Mit­le­ser ein­fach bedie­ne?

Zumin­dest habe ich mich für die­se Rück­schau auf das eige­ne Leben ent­schie­den. Mich umtreibt die Fra­ge, wann war­um und wie der Lite­rat zu dem gewor­den ist, was er war. An wel­chen Kreu­zun­gen im Leben hat er sich wie ent­schie­den und an wel­chen hat­te er kei­ne Wahl und hat trotz­dem sei­nen Weg dar­aus gemacht.

Unter den vie­len lie­ben Brie­fen, die wir zum Abschied bekom­men haben, war ein Zitat, das mich sofort berührt hat, mich beglei­tet und mir Mut macht. Mein Kopf kramt es immer dann her­aus, wenn die Zwei­fel kom­men: »War das die rich­ti­ge Ent­schei­dung? So lan­ge weg von Fami­lie und Freun­den, so lan­ge raus aus dem Job, wo der Ein­stieg gera­de geschafft war?«
Gegen sol­che Gedan­ken hilft Kier­ke­gaard: »Man kann das Leben nur rück­wärts ver­ste­hen, aber leben muss man es vor­wärts.«

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Für Reich-Rani­cki war der rote Faden sei­nes Lebens die Lite­ra­tur. Der gefürch­te­te Kri­ti­ker beschreibt fast schüch­tern, war­um für ihn aus­ge­rech­net der oft unter­schätz­te Erich Käst­ner so ein gro­ßer Erzäh­ler war. Wie neben­bei erwähnt er ein Zitat von ihm, das mich nicht mehr los­lässt: »See­lisch ver­wert­bar«. Ich lese die­se schö­ne Über­schrift für ein Gedicht, wäh­rend unser Dri­ver Baa­gie mit uns durch die mon­go­li­sche Step­pe bret­tert. Kein Zwei­fel, die­se zwei Wor­te sind die Über­schrift für unse­re Neun-Tage-Tour durch die Wüs­te Gobi.

Die­se Land­schaft, die­ses end­lo­se Nichts, die­se Far­ben. Die Staub­wol­ke, die uns ver­folgt, wenn wir über die Sand­stra­ße rasen. All das beein­druckt mich und ist doch nur der Vor­ge­schmack.
Ob wir auf ein tra­di­tio­nel­les Fest wol­len, fragt uns ein Jun­ge am ers­ten Mini-Markt in einer stau­bi­gen Wüs­ten­stadt. Neben ihm steht unser Fah­rer Baa­gie. Sei­ne Eng­lisch beschränkt sich auf: »Thank you, good night, stop, nono­no­no­no.« Weil der Trip teu­rer gewor­den wäre, teu­rer als 110 Euro pro Per­son, haben wir auf einen Über­set­zer und Gui­de ver­zich­tet, aber Bag­gie fin­det immer jeman­den. So wie jetzt vor dem Mini-Markt. »Klar«, sagen wir (eine Tai­wa­ne­sin, ein Fin­ne, zwei Deut­sche, ER und ich). Wir hal­ten vor einem klei­nen Haus umringt von Jur­ten mit­ten im Nichts.

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Das ist kein klei­nes öffent­li­ches Fest. Jemand schiebt uns in einen Raum vol­ler Men­schen. Wir sind die Ehren­gäs­te auf einer Hoch­zeits­fei­er!

Das Braut­paar sitzt auf zwei Stüh­len, die Gäs­te drän­gen sich kniend auf dem Boden, der Raum ist prop­pe­voll mit Augen, die an uns kle­ben. Vor dem Braut­paar thront ein gekoch­tes Schaf mit Kopf, dane­ben eine Tor­te aus getrock­ne­tem Schafs­kä­se. Wir bekom­men gro­ße Schüs­seln voll ver­go­re­ner Stu­ten­milch und nur ER schafft es, sie ganz zu lee­ren. Nächs­te Run­de: War­mer Wod­ka aus rand­vol­len Kera­mik­schüs­seln. Ich bin die Ers­te. Ich sehe die­se unzäh­li­gen Augen zwi­schen Fest­tags­ge­wän­dern, die zu einem bun­ten Far­ben­meer ver­schwim­men. Dann stel­len mei­ne Augen scharf auf die kla­re Flüs­sig­keit vor mei­nen Lip­pen.

Ich trin­ke einen ordent­li­chen Schluck und will höf­lich mit der rech­ten Hand die Schüs­sel zurück­ge­ben, da winkt der Jun­ge mit der Fla­sche ab. Ein Rau­nen, die Gäs­te machen mir Hand­zei­chen, ich müss­te exen. »Drink, drink, drink.« Kein Lächeln, kei­ne Regung, es ist Ihnen ernst. Ich set­ze wie­der an und ver­su­che es mit gro­ßen Schlu­cken. Kei­ne Chan­ce, ich muss wie­der abset­zen. Wenn ich das rich­tig ver­ste­he, trin­ke ich gera­de auf das Ehe­glück des Paa­res. Als ich die Schüs­sel end­lich leer zurück­ge­be, trä­nen mir die Augen. Klat­schen. ER flüs­tert neben mir : »Oh Gott, ich dach­te, du kotzt gleich.« Hat auch nicht viel gefehlt, flüs­te­re ich und fra­ge mich: Was ich wohl den­ken wür­de, wenn ein Frem­der, den ich spon­tan auf mei­ne Hoch­zeit ein­ge­la­den hät­te, ein Glas Cham­pa­gner nur mühe­voll her­un­ter­wür­gen könn­te.

Die Gesell­schaft fei­ert schon seit zwei Tagen, an Tag Drei sind Geschen­ke ange­sagt. Wir ste­hen dane­ben, als die Gäs­te nach­ein­an­der leben­di­ge Scha­fe am Braut­paar vor­bei­tra­gen, danach vie­le gekoch­te mit Kopf, eine Wasch­ma­schi­ne und aller­lei Pake­te.

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Dann geht es raus, die Stu­ten müs­sen alle zwei Stun­den gemol­ken wer­den. Also Her­de zusam­men­trei­ben und in die Staub­wol­ke ein­tau­chen. Mehr zur Belus­ti­gung der Gäs­te wer­den wir dann noch kurz auf Pfer­de gesetzt. Spä­ter sit­zen wir in einer Jur­te, wäh­rend Schafs­stück­chen im Was­ser kochen. Ich kann mei­ne Augen nicht von den Män­nern wen­den, die sich mit einem gro­ßen Mes­ser von Schafs­kno­chen ein­fach alles abschnei­den. Wie sie auf dicken Knor­pel­fett­stü­cken ewig her­um­kau­en und dann ein­fach schlu­cken.

Ich schlu­cke auch. Mein mit ver­go­re­ner Stu­ten­milch, Wod­ka und sonst nichts gefüll­ter Magen grum­melt.

Einer der Gäs­te spricht etwas Eng­lisch und erzählt, dass die Gast­freund­schaft der Mon­go­len so weit reicht, dass sie sogar Obdach­lo­sen Essen geben, und zeigt auf eine Frau mit wir­rem Blick, die gera­de gie­rig die Schafs­sup­pe löf­felt. Hin­ter jeder Jur­ten­tür war­tet neben gro­ßen Por­tio­nen Stu­ten­milch auch gro­ße Gast­freund­schaft – das wer­den wir auf unse­rer Tour durch die Wüs­te immer wie­der erle­ben.
In der ers­ten Nacht zel­ten wir mit­ten zwi­schen gro­ßen Stein­for­ma­tio­nen. Nach fleisch­lo­ser Pas­ta (die zwei Deut­schen sind Vege­ta­ri­er) – zum Glück hat Bag­gie vom Hoch­zeits­paar noch Schaf mit­be­kom­men – wol­len wir alle nur noch eins: ab ins Zelt. So vie­le Ein­drü­cke machen müde.

Mor­gens geht es wei­ter durch den Natio­nal­park, der mich mit sei­nen irren Stein­ber­gen an die wun­der­schö­nen For­ma­tio­nen im indi­schen Ham­pi erin­nert.

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Schon mit­tags errei­chen wir wie­der eine Jur­te – zu mei­ner Erleich­te­rung gibt es sal­zi­gen Tee. Baa­gie drückt die Fin­ger­kup­pen bei­der Hän­de zu einem Dach zusam­men, hier zel­ten wir also. ER und ich suchen nach einer Stel­le, an der es nur Kie­sel und kei­ne Stei­ne am Boden gibt und bau­en auf. Wüs­te total, der Wind peitscht, die Son­ne brennt. Das Schöns­te an die­sem ele­men­ta­ren Ort ist für mich aber das Pin­keln. Ein­fach zwan­zig Meter in irgend­ei­ne Rich­tung gehen, hin­ho­cken und den Aus­blick genie­ßen. Die­se unend­li­che Wei­te, die nächs­te Jur­te ist nur ein wei­ßer Fleck in der grau­grü­nen Land­schaft. Abends sit­zen wir wie­der bei unse­rer pam­pi­gen Pas­ta, die mir übri­gens immer gran­di­os schmeckt, sehen der Son­ne beim Unter­ge­hen zu und danach den Ster­nen beim Leuch­ten. Der Fin­ne (Heik­ki, 32) sagt: »It’s so silent that I can hear my tin­i­tus.«

Ein Satz, der bleibt. See­lisch ver­wert­bar, weil er mich an einen kras­sen Lach­an­fall erin­nert.

Mor­gens immer das glei­che Ritu­al: Auf dem Cam­ping-Kocher Was­ser auf­ko­chen für den Kaf­fee, früh­stü­cken und dann im Auto alles gut durch­schüt­teln las­sen. Am Fens­ter zieht die Land­schaft vor­bei, ver­än­dert sich. Weni­ger Staub, mehr Grün. Wir wan­dern durch die Eis­val­ley Yolyn Am, eine wun­der­schö­ne Gebirgs­ket­te, die bis Juli mit Eis über­deckt ist. Über­all Mur­mel­tie­re, saf­tig grü­ne Wie­sen, dazwi­schen ein Bach. Bag­gie manö­vriert uns durch Schluch­ten, durch die ich mich zu Fuß kaum trau­en wür­de.

Wäh­rend ich die­se Zei­len schrei­be, ist es Vier­tel vor drei Uhr Nachts. ER schläft neben mir und die Zelt­wand flat­tert im Wind. Wir cam­pen mit­ten in der Step­pe, direkt am Abhang zur Eis­val­ley. In drei Stun­den geht die Son­ne auf, der Wecker wird klin­geln.

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Durch das Mos­ki­to­netz-Fens­ter gucke ich Ster­ne. Die Milch­stra­ße sehen zu kön­nen, ist hier so nor­mal wie Con­tai­ner­rie­sen im Ham­bur­ger Hafen.
See­lisch – sehr gut. Eins plus. Gute Nacht!

Der Son­nen­auf­gang war schön, aber kalt und kein Ver­gleich zu dem Son­nen­un­ter­gang, den wir am sel­ben Abend erle­ben wer­den.
Über Stun­den fah­ren wir ent­lang des gel­ben Rie­sens, den wir spä­ter bezwin­gen wol­len. Die Khon­go­ryn Els sind 300 Meter hoch, 12 Kilo­me­ter breit und 100 Kilo­em­ter lang. Sie wer­den auch die sin­gen­den Dünen genannt wegen des Geräuschs des abstür­zen­den San­des.

An schö­ne Lie­der den­ke ich nicht, als ich mich durch­ge­schwitzt, auf allen Vie­ren nach oben gra­be. Die­ses dump­fe Knir­schen, die­se andau­ern­de Vibra­ti­on unter mir, lässt mich eher an eine Lawi­ne den­ken. Auf jeden Schritt nach oben folgt ein Rut­schen um einen Meter nach unten. So stel­le ich mir Schwim­men im Treib­sand vor. Hoff­nungs­los, aber die Aus­sicht auf den Aus­blick treibt mich an. Als hät­te die Son­ne auf uns gewar­tet, färbt sie den Sand­grat auf der Spit­ze der Düne gera­de gold­gelb, als wir ihn end­lich errei­chen.

Der Aus­blick raubt mir nicht den Atem, das hat die Düne schon geschafft. Ich sit­ze ein­fach da, keu­chend. Kann mich nicht bewe­gen, nicht satt sehen an der mon­go­li­schen Wei­te rechts mit Seen, Jur­ten, grü­nem Land und den unend­li­chen klei­nen Sand­dü­nen links. Hier wird die Wüs­te zur gol­de­nen Gobi. Es ist ein Licht, das kein Insta­gram-Fil­ter schö­ner machen könn­te. Ein Licht, das man nicht nur sehen, son­dern auch füh­len kann. Wie­der so ein See­lisch-Ver­wert­bar-Moment, der noch andau­ert, als Bag­gie uns zurück zum Zelt fährt. Der Motor zieht schon die Luft der küh­len Wüs­ten­nacht, als im Rück­spie­gel noch die Son­ne unter­geht – hin­ter den Sand­dü­nen, in allen Rot­tö­nen.

SEIN schöns­ter Moment des Tages liegt aber noch vor uns. Baa­gie setzt zur Über­hol­fahrt quer­feld­ein an. Das ist kein Auto­fah­ren mehr, das ist abhe­ben und wie­der lan­den.

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Am nächs­ten Tag schüt­telt uns ein Kamel durch. Die gigan­ti­schen Tie­re stin­ken, haben schlech­te Zäh­ne und gucken etwas unwirsch. Oben ange­lehnt an den Hin­ter-Höcker ist es aber über­ra­schend bequem. Über­ra­schend ist für mich auch, dass in den Höckern doch kein Was­ser ist und so ein Tier in der Mon­go­lei laut unse­rem Kamel­trei­ber nur 75 Euro kos­ten soll.

Abends wol­len wir es noch­mal mit der Sand­dü­ne auf­neh­men – die­ses Mal den Son­nen­un­ter­gang oben erle­ben. Als wir aber unten ankom­men, ist es aber schon halb acht. Ges­tern haben wir knapp 60 Minu­ten hoch gebraucht. Die Son­ne geht um kurz nach acht unter. Ich gucke den stei­len Sand­berg empor und schüt­tel den Kopf. Das sieht ER aber nicht. Auch mein Mus­kel­ka­ter-Schmerz­ver­zehr­tes-Gesicht nicht, als ich die ers­ten Schrit­te him­mel­wärts im Sand mache. Denn ER ist schon rund zehn Meter über mir.

Die­se Sand­dü­ne wird eine neue 365/​7/​24 zu zweit Erin­ne­rung, denn ohne sei­nen Enthu­si­as­mus wäre die­ses Bild nie ent­stan­den. Oben ist die Son­ne zwar schon unten, aber wir haben den Auf­stieg dies­mal in 25 Minu­ten geschafft!

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Das Schö­ne am zu zweit rei­sen: Wir tei­len nicht nur die Erin­ne­run­gen, son­dern auch die Moti­va­ti­on. Jeder ist mal dran, dem ande­ren Mut zu machen oder ihn mit­zu­zie­hen.
Zum ERSIE zu Zweit rei­sen gehört aber auch das mit IHM freu­en, obwohl IHR eher nach stopp ist.

So sehr ER die Fahrt auch genießt, so sehr nervt mich das durch­ge­schüt­tet wer­den lang­sam. Ich habe genug. Mir reich­tˋs und trotz­dem ver­lan­ge ich nicht nach lang­sa­mer.
Nach einer Nacht bei den wun­der­schö­nen Fla­ming Cliffs, wo im Jah­re 1922 Kno­chen und Eier von Dino­sau­ri­ern gefun­den wur­den, sind es heu­te 400 Kilo­me­ter durch­ge­rüt­telt wer­den, von rechts nach links, von vor­ne nach hin­ten. Stun­den­lang im Shaker.

Ich lese wie­der Reich-Rani­cki und ich wei­ne. Als er beschreibt, wie er sei­ne Mut­ter zum letz­ten Mal sieht, bevor sie in Treb­linka ver­gast wird. Als er beschreibt, dass er nie auf­hö­ren konn­te sich täg­lich zwei­mal zu rasie­ren, weil das im War­schau­er Ghet­to gehol­fen hat, nicht aus­sor­tiert zu wer­den.

Viel­leicht liegt es an mei­ner Stim­mung, aber als Baa­gie uns an dem zer­stör­ten Klos­ter Ongi­in Khi­id aus­stei­gen lässt, sehe ich in jeder Rui­ne eine stei­ni­ge Zeit­zeu­gin. Ankla­gend ragen sie ins him­mel­blau.
1939 zer­stör­ten Sta­lins Män­ner die Anla­ge und ermor­de­ten über 200 Lamas.

Damals war es eines der größ­ten bud­dhis­ti­schen Klos­ter in der Mon­go­lei. Sakral liegt der Ort da, ein­ge­bet­tet zwi­schen zwei Ber­gen an einem Fluss. Er muss wun­der­schön gewe­sen sein. Beklem­mend ist der Besuch heu­te. Kein Mensch, kein Mönch, nur Rui­nen. An der Stra­ße ste­hen knor­ri­ge Bäu­me. Sie sehen alt aus. So alt, dass sie das grau­sa­me Ermor­den der Mön­che mit­an­se­hen muss­ten. Was wie wohl erzäh­len wür­den, wenn ich sie ver­ste­hen könn­te.

Zurück im Auto lege ich mich auf die Sitz­bank, zie­he mei­ne Knie an, damit der Fin­ne noch neben mir sit­zen kann.

Mit geschlos­se­nen Augen döse ich so vor mich hin. Baa­gie bret­tert. Wir hüp­fen. Plötz­lich wabert der Geruch von Son­nen­creme durch den Mini­bus. Wer sich gera­de ein­cremt, ist mir egal.

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Ich hal­te die Augen geschlos­sen, ich genie­ße die Bil­der. Denn vor mei­nem inne­ren Auge sehe ich mei­ne Ma und mei­ne gro­ße Schwes­ter. Den Strand am Mit­tel­meer und die Pipi­wel­len – mit die­sem Begriff hat mein Papa mir immer die Angst vor den gro­ßen Wel­len neh­men wol­len. Kind­heit. War­um ich aus­ge­rech­net jetzt so viel an mei­ne den­ken muss, weiß ich nicht. Viel­leicht weil ich in der Wüs­te wie­der das Stau­nen gelernt habe. Viel­leicht weil ich hier wie­der Kind bin, ange­wie­sen auf Zei­chen­spra­che und ange­wie­sen auf Hil­fe.

Mon­go­len konn­ten die har­ten Win­ter frü­her nur über­ste­hen, indem sie ein­an­der aus­hal­fen. Die Gast­freund­schaft ist geblie­ben. Baa­gie parkt mit­tags ein­fach vor einer Jur­te und geht rein. Kur­zes Gespräch, dann holt die Frau Tee und ver­schwin­det, um für uns zu kochen. Ihre klei­ne Toch­ter nimmt mich an die Hand und führt mich in die Koch-Jur­te. Aus einem gro­ßen Sack ragen Schaf­skeu­len her­aus. Ich darf das Fleisch schnei­den. Wäh­rend ich mich eher durch­drü­cke als schnei­de, stopft sich die Klei­ne gera­de ein Stück vom gekoch­ten Schafs­kopf in den Mund, der in der Mit­te der Jur­te auf einem Tablett liegt. Sie lutscht genüss­lich und spuckt die Kno­chen­tei­le ein­fach auf den Boden. Die Mut­ter kocht Reis mit Zucker für die bei­den Vege­ta­ri­er, für uns die Fleisch­stück­chen in einer Sup­pe. Sie roll­te Fla­den aus Mehl und Was­ser aus und legt sie drau­ßen auf das Jur­ten­dach zum Trock­nen in die Son­ne. Danach schnei­det sie den Teig in Strei­fen, es wer­den die Nudeln in unse­rer Fleisch­sup­pe. Sie schmeckt her­vor­ra­gend und die dicks­ten Fett­stü­cke darf ich IHM geben, wie so oft. Ein gro­ßes Dan­ke an die­ser Stel­le.

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Wie­der so einen Kind­heits­mo­ment erle­be ich am Abend. Baa­gie macht das Zelt-Zei­chen und wir sind auf einer Pfer­de­farm gelan­det. Hun­der­te Tie­re in allen Braun­tö­nen ste­hen in der hüge­li­gen Land­schaft, dar­un­ter viel Foh­len. Män­ner in tra­di­tio­nel­len Män­teln kom­men aus einer Jur­te und stei­gen auf ihre Motor­rä­der. Bewaff­net mit Las­so und Hupe trei­ben sie die Her­de zusam­men. Post­kar­ten­mo­ti­ve. Ich knie mich hin und foto­gra­fie­re. Plötz­lich bin ich mit­ten­drin, an mir lau­fen die getrie­be­nen Pfer­de vor­bei. Dann zwei Män­ner auf einem Motor­rad. Ich strah­le sie an und mir fällt nur ein bana­les »beau­tiful« ein. Ob ich mit will fra­gen sie per Kopf­ni­cken, ich stei­ge auf, zu dritt bret­tern wir zu einer ein­ge­zäun­ten Wei­de. Vie­le der Tie­re, die scheu wie Wild­pfer­de sind, ste­hen dort schon eng gedrängt zusam­men.

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Nur der Bret­ter­zaun trennt mich von ihnen. Mei­ne All­er­gie ist mir egal, ich ste­he da im Staub, foto­gra­fie­re und den­ke an ein Kin­der­buch.

Ein Jun­ge zieht ein Wild­pferd groß und trifft es dann in frei­er Wild­bahn wie­der. Der schö­ne Hengst löst sich aus der Her­de und begrüßt den Jun­gen. Das hat mich damals so fas­zi­niert.
Die Situa­ti­on ist eine ganz ande­re und trotz­dem kommt mir die­ses Bild in den Kopf. Viel­leicht auch des­halb, weil ich zum ers­ten Mal in mei­nem Leben unge­zähm­ten Pfer­den so nahe kom­me. Die Mon­go­lei und die Pfer­de, eine jahr­tau­sen­de alte Tra­di­ti­on. Wie pas­send, dass unse­re Wüs­ten­tour damit zuen­de geht.

Als wir uns am Abend wie­der unse­re Pas­ta machen, kom­men die Män­ner dazu. Wir laden sie ein mit­zu­es­sen, ER holt den Wod­ka raus und schon sin­gen die Mon­go­len, wie sie es anstel­le von Toast­sprü­chen machen. Wir sol­len auch und ent­schei­den uns wie­der für: »Wie schön, dass du gebo­ren bist.« Wir haben sie ein­ge­la­den, jetzt laden sie uns ein. Als es dun­kel wird und der Wod­ka alle ist, gehen wir rüber in ihre Jur­te. Es gibt natür­lich ver­go­re­ne Stu­ten­milch. Wir spre­chen kein Mon­go­lisch, sie kein Eng­lisch. Um das Schwei­gen zu bre­chen spie­len wir. Und zwar Schnick­schnack­schnuck auf Mon­go­lisch. Der Dau­men schlägt den Zei­ge­fin­ger, der Zei­ge­fin­ger den Mit­tel­fin­ger und so wei­ter. Die eine Jur­ten­sei­te gegen die ande­re.

Das es eine erns­te Ange­le­gen­heit wird, mer­ken wir, als sich unse­re Geg­ner lan­ge bera­ten. Sie spie­len rich­tig mit Stra­te­gie. Es geht reih­um, solan­ge bis man ver­liert, dann ist der nächs­te Spie­ler aus der Grup­pe dran. Wir schla­gen uns gar nicht schlecht. Mei­ne Stra­te­gie ist der Mit­tel­fin­ger. Als wir uns ver­ab­schie­den wol­len, kommt dann doch noch das obli­ga­to­ri­sche »drink drink drink«. Jeder bekommt eine gro­ße Schüs­sel ver­go­re­ne Stu­ten­milch und es gibt kein Par­don. Als ich dran bin, schlie­ße ich die Augen, atme tief ein und trin­ke in gro­ßen Schlü­cken ohne abset­zen, ohne inne­zu­hal­ten. Aner­ken­nen­des Klat­schen.
Ich gehe mit einem woh­li­gen Gefühl durch die Dun­kel­heit ins Zelt. So vie­le »see­lisch wertvoll«-Momente, so vie­le Mon­go­lei-Momen­te, die es sich in mei­nen Erin­ne­run­gen gemüt­lich machen wer­den. Wahr­schein­lich gera­de weil sie mir so gro­ßes Unbe­ha­gen berei­tet, weil sie mich so gro­ße Über­win­dung gekos­tet haben.

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Antworten

  1. Avatar von Manuel

    Ein tol­ler Bei­trag! Und schein­bar haben Wüs­ten so etwas an sich, dass direkt an der See­le krat­zen. Viel­leicht ist es die­se simp­le Schön­heit, die nicht viel brauch und doch so viel bewirkt. Die­se Lee­re, die Platz lässt, für die eig­nen Gedan­ken. Alain de Bot­ton schrieb ja schon »…Gro­ße Gedan­ken erfor­dern zuteil eine wei­te Aus­sicht…«.

    Mich wür­de noch inter­es­sie­ren von wo Ihr auf­ge­bro­chen seit, bzw. wie ihr an den Gui­de gekom­men seit? Denn auch ich zie­he bald mit mei­ner Part­ne­rin los, und auch bei uns steht die Mon­go­lei, und natür­lich die Wüs­te Gobi auf dem Rei­se­plan.

    Einen Lie­ben Gruß und nur das bes­te für euren Weg

    Manu­el

    1. Avatar von Julien & Sally

      Lie­ber Manu­el! Was für ein wun­der­schö­nes Zitat, Dan­ke! Ja, Wüs­ten sind Still­le­ben, die sich in der See­le spie­geln oder anders­rum. Gene­rell ist eine Rei­se wie ein Brenn­glas fürs eige­ne Leben. Was ist wirk­lich wich­tig? Wo will ich hin? So geht mir das jeden­falls. Zur Wüs­ten­tour: abso­lut aus­rei­chend ist eine Tour ohne Gui­de. Unser Fah­rer war super. Konn­te kein Eng­lisch, hat uns aber alles mit Hän­den und Füßen erklärt. Kos­ten: 240€ für zwei Per­so­nen. Gol­den Gobi heißt das Hos­tel, in dem wir das gebucht haben. Ihr könnt euch ein Zelt mie­ten oder in Ulan-Bator eins kau­fen und nach der Tour wie­der ver­kau­fen. Wenn Du auf unse­rem Blog nach »Gobi, das Geils­te ist das Fah­ren« und nach »miss Gol­den Gobi« sucht gibt’s noch mehr Details – auch aus männ­li­cher Sicht:) alles Lie­be und eine wun­der­schö­ne Rei­se Euch! Sal­ly

  2. Avatar von Amelie

    Ich den­ke immer, nichts geschieht ohne einen Grund im Leben, also wenn du jetzt da bist, wird das auch einen Grund haben, den man viel­leicht jetzt noch nicht erkennt, aber irgend­wann. Ich fin­de es sehr schön, was ihr macht und wün­sche euch für eure wei­te­re Rei­se noch viel Spaß und Kraft 🙂 Schö­ne Grü­ße aus Mar­ling Süd­ti­rol

    1. Avatar von Julien & Sally

      Lie­be Ame­lie!
      Vie­len Dank Dir, wir sind gera­de in Nica­ra­gua, sind abends am Strand lang und plötz­lich lie­fen über­all Baby­schild­krö­ten ins Was­ser. So ein irrer Moment, der mal wie­der zeigt: Alles rich­tig gemacht! Die Welt belohnt Dich, wenn Du Dich auf­machst, um sie zu ent­de­cken. Herz­li­che Grü­ße nach Mar­ling Süd­ti­rol:)

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