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Jenseits der Zeit – Kapverden Trilogie Teil 3

Schon um kurz vor sechs geht es von Praia nach Maio, einer der klei­ne­ren und vor allem am schlech­tes­ten erreich­ba­ren Inseln unter dem Wind – genau des­we­gen will ich dort­hin. Je her­aus­for­dern­der der Weg ist, desto schö­ner muss das Ziel doch sein. Wie im Leben halt.

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Ganze acht Minu­ten dau­ert der Flug mit der natio­na­len Air­line TACV. Als Ers­tes fal­len mir im Lan­de­an­flug eine Reihe in weiße Kut­ten geklei­dete Men­schen mit him­mel­blauen Ruck­sä­cken auf, die uns wie wild ent­ge­gen­win­ken. Wie ich bald lerne, han­delt es sich bei den engels­glei­chen Gestal­ten um ita­lie­ni­sche Aus­wan­de­rer, die auf Maio ein abge­schie­de­nes und natur­ver­bun­de­nes Leben begon­nen haben. Die Gerüch­te­kü­che über sie bro­delt – manch einer stem­pelt sie als Sekte ab, manch ande­rer schwärmt von dem Ser­vice, den sie anbie­ten: alles von Com­pu­ter­repa­ra­tu­ren bis Massagen.

Vor dem Flug­ha­fen, der in etwa so groß ist wie der Markt­platz in einem 100-See­len­dorf, war­tet Pom­peio auf mich. Er und seine Frau Nanda sind vor drei Jah­ren von Süd­ita­lien nach Maio aus­ge­wan­dert und ver­die­nen sich nun als Ver­wal­ter eini­ger Tou­ris­ten­apart­ments ihren Lebens­un­ter­halt. Bei dem Apart­ment, das ich vorab gebucht habe, begrüßt mich Nanda mit einer stür­mi­schen Umar­mung und schafft dann mit ihren Geschich­ten etwas, das mir sel­ten pas­siert: Dass ich einen Ort schon lieb­ge­winne, bevor ich über­haupt etwas davon gese­hen habe. Bei einem ordent­li­chen Espresso eilen ihre leuch­ten­den Augen ihren Wor­ten vor­aus. „Ich kann mir nicht mehr vor­stel­len, woan­ders zu leben – hier haben wir alles: Ruhe, das Meer und fried­li­che Men­schen. Und die Kap­ver­den sind das ein­zige afri­ka­ni­sche Land, wo die Frauen die Hosen anha­ben und auch gesetz­lich unter­stützt wer­den.“ Sie berich­tet mir von einem Ita­lie­ner, der sechs Monate lang mit einer Kap­ver­dia­ne­rin zusam­men gewe­sen sei und sie dann raus­ge­wor­fen habe. Dar­auf­hin habe die Frau die Matratze und den Kühl­schrank mit­ge­nom­men. „Der Ita­lie­ner ist zur Poli­zei und hat gesagt, sie hätte ihn beklaut. Aber das Gericht hat ihr Recht gege­ben – nach sechs Mona­ten Bezie­hung hat eine Frau hier gewisse Rechte und Anspruch auf eine Abfin­dung.“ Wei­ter erzählt sie, dass gerade auf Maio viele Ver­wandte unter­ein­an­der hei­ra­te­ten und es trotz­dem nicht viele Behin­de­run­gen gäbe. „Aber selbst wenn jemand behin­dert ist, ist er des­we­gen nicht min­der­wer­tig. Ich kenne eine kör­per­be­hin­derte Frau, die von den Män­nern umschwärmt wird.“ Über­haupt sei das Aus­se­hen von ganz ande­rem Stel­len­wert. „Ich habe hier auf Maio ver­stan­den, dass wir es sind, die Aus­se­hen defi­nie­ren. Wir schrän­ken uns so sehr ein, hier sind die Men­schen frei.“ Auf ihrem Blog über das Leben auf den Kap­ver­den hält sie ihre Geschich­ten und Gedan­ken fest.

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Wie ich bald erfahre, haben auch andere Euro­päer ein neues Leben auf dem win­zi­gen Maio begon­nen. Einer ist der Fran­zose Domi­ni­que, der seit 14 Jah­ren auf Maio lebt. Er lebt von Immo­bi­li­en­ge­schäf­ten und dem Ver­leih von Fahr­rä­dern und Quads. Ich reser­viere gleich ein Quad für die nächs­ten drei Tage, denn öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel exis­tie­ren auf der Insel prak­tisch nicht. Aus man­chen Dör­fern fährt ein Aluguer pro Tag in die Haupt­stadt Vila do Maio und am Nach­mit­tag wie­der zurück. Domi­ni­que will stolze 140 Euro für drei Tage Quad sowie gut 270 Euro Kau­tion. Wohin ich mit dem Knat­ter­teil von der Insel flie­hen sollte, weiß nicht ein­mal Domi­ni­que selbst, aber ich bin gezwun­gen, erneut mit dem Geld­au­to­ma­ten um die Escu­dos zu kämp­fen. Da ich das Quad erst am nächs­ten Tag bekomme, schlen­dere ich zu dem nahe­ge­le­ge­nen Strand Ponta Preta. Alle Ein­hei­mi­schen, die mir begeg­nen, sehen auf den ers­ten Blick etwas sau­er­tö­pisch aus, doch sobald ich ihnen ein lächeln­des ‚Bom dia‘ oder ‚Tudo dretto‘ – Alles klar auf Kreol – schenke, leuch­ten ihre Mie­nen auf und sie grü­ßen zurück.

Der zehn Kilo­me­ter lange Strand mit sei­nem wei­ßen Sand und tür­kis­far­be­nen Meer sieht aus wie eine Post­karte, nach­dem sie mehr­mals mit Pho­to­shop über­ar­bei­tet wurde. Und das Beste: Ich habe ihn ganz für mich allein. Zum ers­ten Mal seit sehr, sehr lan­ger Zeit mache ich Freu­den­sprünge und jauchze vor Glück wie ein Klein­kind an Weih­nach­ten, wäh­rend ich wei­ter und wei­ter laufe und mich schließ­lich in den Sand werfe. Lange liege ich im Wind auf dem hei­ßen Sand, der genauso schnell mei­nen Notiz­block füllt wie die Gedan­ken, die mir durch den Kopf flie­gen. Es ist so still, dass ich die Krebse, die neu­gie­rig aus ihren Löchern schauen, mit ihren win­zi­gen Füß­chen lau­fen höre. Ich über­lege, ob ich zuvor schon ein­mal Krebse lau­fen gehört habe. Ich glaube nicht.

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Auf einem chi­ne­si­schen Quad über eine afri­ka­ni­sche Insel

Am nächs­ten Mor­gen will ich mir erst­mal fri­sche Bröt­chen gön­nen. Im Mini­mer­cado weist mir die Ver­käu­fe­rin den Weg zu einer Bäcke­rei gegen­über. Statt einer Bäcke­rei mit Vitrine und Aus­lage stehe ich vor einer offe­nen Tür mit einem Mücken­netz davor. Soll das die Bäcke­rei sein? Ich folge einer Frau ins Innere. Tat­säch­lich! Hin­ter einem hohen Tre­sen steht ein Junge, der aus einem Sack auf der Erde helle Bröt­chen klaubt – und mir auf die Hand gibt. Eine Tüte habe er nicht. Ich auch nicht. Mit den Bröt­chen unterm Arm gehe ich zurück und bin wenig spä­ter gestärkt für mei­nen ers­ten Tag mit dem Quad. „Nimm mich doch mit“, bit­tet mich ein Mann mitt­le­ren Alters, dem ich unter­wegs einen „Bom dia“ wün­sche. Felipe. Weil ich ihn nicht dabei haben will, lädt er mich für 19 Uhr auf einen Drink an die Strand­bar Tro­pi­cana ein.

Es ist ein paar Jahre her, dass ich das letzte Mal Quad gefah­ren bin, und Domi­ni­que erklärt mir noch mal die wich­tigs­ten Funk­tio­nen. Vor­wärts­gang, Neu­tral, Rück­wärts­gang. Brem­sen. Kein Thema. Mit einem brei­ten Grin­sen auf dem Gesicht schieße ich los in Rich­tung West­küste, wo ich erst ein­mal die Sali­nas, den Salz­see, besuche.

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Kaum kra­xele ich wie­der auf dem Gestrüpp her­vor, kommt ein jun­ger Mann auf mich zu. „Fährst du nach Morro?“ Ich nicke, habe gese­hen, dass das Dorf auf dem Weg nach Nor­den liegt. „Kannst du mich mit­neh­men?“ Er schnallt sich mei­nen Ruck­sack auf den Rücken, schwingt sich hin­ter mich, und schon wer­den mein Quad und ich zum Taxi. Ich lasse den Jun­gen an sei­nem Haus an der Haupt­straße raus und höre noch ein „Obri­gado“, danke, wäh­rend ich davon­brause. Zumin­dest habe ich jetzt eine Mög­lich­keit, mir etwas Geld zu ver­die­nen, falls der Bank­au­to­mat wie­der strei­ken sollte.

Das Quad schenkt mir die Frei­heit, die gesamte Insel in mei­nem eige­nen Rhyth­mus zu erkun­den. Manch­mal fahre ich quer­feld­ein, denn Wege sind abseits der Haupt­straße eine Sel­ten­heit. Im Gegen­satz zu Santo Antão ist die Land­schaft hier voll­kom­men aus­ge­dörrt. Irgendwo im Zen­trum heben sich ein paar Hügel vom Hori­zont ab, sonst fahre ich durch ein gro­ßes Nichts, unter­bro­chen von Lebe­we­sen, die sich als magere Zie­gen oder Kühe ent­pup­pen. Und doch erfüllt mich die­ses Nichts mit unge­wohn­tem Frie­den. Ähn­lich dem Gefühl, dass ich jedes Mal ver­spüre, wenn ich meine Woh­nung aus­ge­rüm­pelt und mein Leben mal wie­der auf das Wesent­li­che redu­ziert habe.

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Dass das nächste Dorf erreicht ist weiß ich, als die fette Auf­schrift ‚Cal­heta‘ auf einer Mauer prunkt.  Es besteht aus Bun­ga­lows in allen Far­ben und ein paar frei lau­fen­den Hüh­nern und Hun­den. Eine Frau kehrt die blitz­saubere Dorf­straße, sonst nimmt kaum einer Notiz von mei­ner knat­tern­den Ankunft.

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Wenn doch, dann win­ken mir Erwach­sene und Kin­der lachend zu. Wei­ter geht es nach Morr­inho, von wo ich über Schot­ter­wege und durch Gestrüpp in Rich­tung Dünen rase. Bald geht es nur noch zu Fuß wei­ter. Sta­chel­ar­ti­ges Grün­zeug wächst aus dem Boden und sticht mir in die Füße, ein paar Zie­gen gucken mich an, als hät­ten sie schon lange kei­nen Men­schen mehr gese­hen. Den nächs­ten wei­ßen Traum­strand, den ich errei­che, muss ich mir nur mit ein paar toten Qual­len tei­len. Ich werfe sämt­li­che Kla­mot­ten ab und laufe den Strand hin­un­ter, als wäre ich der erste Mensch auf der Welt. Nach nur einem Tag ver­stehe ich, warum Nanda hier nicht mehr weg will. Lange habe ich mich nicht mehr so frei und sicher gefühlt – sämt­li­che Sor­gen schei­nen Kon­ti­nente ent­fernt. Und im Grunde sind sie das ja auch.

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Mein End­ziel für die­sen Tag ist Ponta Cais, der nörd­lichste Zip­fel der Insel. Der Weg wird immer unzu­gäng­li­cher, bald brause ich nur noch über Geröll. Wenn bloß mein Quad jetzt nicht ver­reckt! Stra­ßen­schil­der wur­den hier noch nicht erfun­den, und so hoffe ich, auf dem rich­ti­gen Weg zu sein. Die klei­nen Strände oben im Nor­den sind oft nur noch schroffe Fels­land­schaf­ten, die von wüten­den Wel­len über­rollt wer­den. Zu impo­sant ist das Natur­schau­spiel an die­ser wil­den Küste, als dass ich mich so schnell wie­der davon tren­nen könnte.

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Viel zu spät erin­nere ich mich an mein Drink-Date um 19 Uhr mit Felipe. Ich bin neu­gie­rig, mit Ein­hei­mi­schen zu spre­chen und lächle in mich hin­ein, als ich ihn auf einem Plas­tik­stuhl an der Bar dösen sehe. „Du bist zu spät, und ich dachte immer, Tou­ris­ten wären pünkt­lich“, mault er. Ich sehe es als Kom­pli­ment, von einem Kap­ver­dia­ner als unpünkt­lich beschimpft zu wer­den und erlaube ihm, mir ein Bier zu kau­fen. Er sei LKW-Fah­rer, habe aber der­zeit keine Arbeit, erzählt er mir. Ich habe noch kei­nen LKW auf Maio gese­hen. Am nächs­ten Tag will er nach Sant­iago fah­ren – mit der Fähre, die es erst seit weni­gen Mona­ten regel­mä­ßig gibt und die nun mon­tags, mitt­wochs und frei­tags zwi­schen den bei­den Inseln ver­kehrt. Ob ich denn kei­nen kap­ver­dia­ni­schen Ehe­mann wolle, forscht er wei­ter, und ich lehne dan­kend ab. Dar­auf­hin sinkt Felipes Inter­esse an mir bei­nahe auf Null. Aber nicht ganz, denn er hat immer­hin auch noch ein Haus zu ver­kau­fen, das er mir andre­hen möchte. Seine Kin­der seien über 20 und aus dem Haus, für ihn seien vier Zim­mer viel zu groß. Als ich nach der Hei­rat und dem Haus auch noch ein zwei­tes Bier ablehne – nur ein Bier trin­ken sei, wie auf einem Bein zu lau­fen, heißt laut Felipe ein kap­ver­dia­ni­sches Sprich­wort – ist unsere Freund­schaft beendet.

Mit dem Schre­cken davongekommen

Ab jetzt gehe ich mit Tüte zum Bäcker, damit ich mir die Bröt­chen nicht wie­der unter den Arm klem­men muss. Für die­sen Tag habe ich mir viel vor­ge­nom­men: Ich möchte die Süd- und dann die Ost­küste erkun­den. Statt der Haupt­straße land­ein­wärts ent­scheide ich mich für den Schlamm­weg in Küs­ten­nähe, der bis ins Dorf Bar­reiro füh­ren soll. Im Ver­gleich zu die­sem Weg waren die Stra­ßen am Vor­tag Luxus. Ich ziehe mehr als ein­mal Kopf und Beine ein, um nicht von Büschen und Ästen zer­kratzt zu wer­den, dann geht es steil bergab und genauso steil wie­der berg­auf. Mit Schweiß­per­len auf der Stirn frage ich mich, ob dies eine gute Idee war und beschwöre das Quad, jetzt bloß nicht schlapp­zu­ma­chen. Als ich merke, dass ich meine Was­ser­fla­schen im Apart­ment ver­ges­sen habe, wird mir ganz anders. Domi­ni­que hat mich gewarnt, dass es außer­halb von Vila do Maio schwer sei, Essen und Trin­ken zu fin­den. Ich sehe mich in der Wild­nis ver­durs­ten und drü­cke den Gas­schal­ter bis zum Anschlag durch – wenn ich es zumin­dest bis nach Bar­reiro schaffe, viel­leicht gibt es ja dort doch einen Minimarkt.

Als ich eine Reihe Häu­ser am Hori­zont erspähe, keimt meine Hoff­nung auf, doch zu früh gefreut – es sind ledig­lich Roh­bau­ten. Zehn bange Minu­ten spä­ter glaube ich, ein Dorf aus­zu­ma­chen. Ich bete, dass es Bar­reiro sein möge. Mit Voll­gas schieße ich auf die erste asphal­tierte Straße seit Lan­gem, frage einen alten Mann nach einem Mini­mer­cado. Er deu­tet nach links. Ich fahre gera­de­wegs auf den Markt zu. Die davor chil­len­den Män­ner sehen mich an, als wäre ich auf einem Ufo gelan­det. „Woher kommst du?“, will einer neu­gie­rig wis­sen. Der Mini­mer­cado besteht aus wenig mehr als einer Kühl­truhe – aus der der Ver­käu­fer zwei gekühlte Fla­schen her­vor­zieht. Ich lasse stolze zwei Euro da, aber mein Tag ist geret­tet. Denke ich. Die Män­ner raten mir ab, wei­ter durch die Wild­nis ins öst­lich gele­gene Ribeira Dom João zu fah­ren, der Weg werde immer schlech­ter und der Umweg über die Haupt­straße sei sehr zu emp­feh­len. Ich glaube ihnen – zu mei­nem Glück.

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Irgendwo auf der Straße hin­ter Figueira Seca halte ich an, um ein Foto von der Land­schaft zu schie­ßen, die aus­sieht, als wäre hier am Vor­tag ein Vul­kan hoch­ge­gan­gen und hätte alles in Asche gelegt. Kaum ist die Kamera wie­der ver­staut, drü­cke ich den Start­knopf des Quads. Es stot­tert, dann höre ich nur noch die Brise, die mir um die Nase weht. Das darf doch nicht wahr sein! Ich pro­biere es noch ein­mal, ein zwei­tes und drit­tes Mal – nichts. Das Teil röchelt nicht mal mehr. Kur­zer­hand halte ich einen LKW an, aus dem ein älte­rer Mann steigt. Auch er schüt­telt rat­los den Kopf, zieht bald von dan­nen. Ich stehe in der Mitte von Nir­gendwo ohne fahr­ba­ren Unter­satz – aber zumin­dest habe ich zwei volle Fla­schen Was­ser. Plötz­lich kommt mir eine Idee: Domi­ni­que hatte mir doch eine Mappe mit den Quad-Papie­ren gege­ben, viel­leicht fin­det sich dort eine Anlei­tung. Ich wühle in mei­nem Ruck­sack. Eine Anlei­tung finde ich nicht, dafür aber Domi­ni­ques Tele­fon­num­mer. Ich rufe an und atme erleich­tert auf, als er sofort abhebt – und ver­spricht, in zehn Minu­ten bei mir zu sein. Als wäre es das Nor­malste auf der Welt, lehne ich mit­ten auf der Straße an mei­nem Quad und grüße einen Bau­ern, der eine stark meckernde Ziege wie einen Schal um den Hals trägt. Er will wis­sen, ob ich Hilfe brau­che. Ich? Aber nein, alles unter Kontrolle.

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Domi­ni­que hält sein Ver­spre­chen. Er schal­tet kurz an den Gän­gen, schiebt das Quad und: Es springt an. Mit hoch­ro­tem Kopf fahre ich wei­ter. Ribeira Dom João ist das nächste Dorf wie aus einem Geschichts­film über Europa vor 100 Jah­ren: Ein paar Esel tra­ben auf der Straße, Hüh­ner lau­fen vom Quad auf­ge­scheucht davon, an einer Ecke steht eine Ziege. Leute hocken vor ihren Häu­sern, lächeln mich an, win­ken. Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass sie für ‚Stress‘ und ‚Eile‘ über­haupt Wör­ter haben.

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Über die Fel­sen laufe ich bis zu einem klei­nen Strand, wo ein Fischer sei­nen Fang aus­wei­det. Ich nehme ein Bad, dann schaue ich ihm zu, bis er mit sei­nem Mit­tag­essen zurück zum Dorf läuft. Außer einem Boot mit halb zer­fetz­tem Segel und einem neu­gie­ren Lang­schna­bel­vo­gel sehe ich dann stun­den­lang nichts und nie­man­den mehr. Wie gut, dass ich mich eigent­lich ganz gut mit mir selbst verstehe.

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Als auch ich zu mei­nem Quad zurück­kehre, sitzt eine Frau mit bau­meln­den Bei­nen auf der Mauer davor. Sie grinst mich an, stellt sich als Joana vor und will wis­sen, woher ich komme. Ich sage ihr, wie schön ihr Dorf sei, und sie lacht laut auf. „Ich finde es hier total häss­lich. Hier auf Maio gibt es keine Arbeit, abso­lut nichts. Aber ich glaube, woan­ders ist’s immer schö­ner, stimmt?“ Wir lachen zusam­men, dann will sie unbe­dingt meine Tele­fon­num­mer haben. Sie hetzt in ihr Haus, kommt mit einem Stück Papier und einem Stift zurück und ich notiere meine Num­mer. Wir küs­sen uns zum Abschied und sie ver­spricht, mich am Sonn­tag­mit­tag, wenn ich zurück in Deutsch­land bin, anzu­ru­fen. Ich bin sicher, nie wie­der von der Frau zu hören, und doch erfüllt mich jedes Gespräch mit den Ein­hei­mi­schen, für die die Bezeich­nung ‚ent­spannt‘ noch eine Unter­trei­bung scheint.

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Die Land­schaft ent­lang der Ost­küste wird immer dür­rer, wirkt oft wie ver­brannt, noch dazu hän­gen dicke schwarze Wol­ken am Him­mel. Der Song­ti­tel ‚High­way to hell‘ bekommt auf ein­mal eine kon­krete Bedeu­tung. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, nur man­che Kuh, Ziege oder ein Schwein.

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Nach Pedro Vaz führt ein Schot­ter­weg zu einem Strand, den mir Pom­peio als beson­ders schön beschrie­ben hat, Praia Gon­çalo, wo die Fischer Kau­ri­mu­scheln fischen und die Scha­len ein­fach wegwerfen.

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Dort treffe ich auf eine Gruppe Fran­zo­sen – und bin scho­ckiert: Mitt­ler­weile kommt mir jeder Strand, an dem außer mir noch jemand ist, über­füllt vor. Als die Fran­zo­sen end­lich in ihrem Mini­bus ver­schwin­den, nähert sich ein jun­ger Mann. Höf­lich fragt er mich, ob er sich zu mir set­zen dürfe, denn er sei gerade fer­tig mit Fischen und habe jetzt nichts mehr zu tun. Er sei 20 Jahre alt und wie die meis­ten auf Maio arbeits­los. „Warum öff­nest du nicht mit ein paar Kum­pels eine Bar hier am Strand für die Besu­cher?“, schlage ich vor, und sehe, wie seine Augen auf­blit­zen. Daran habe er noch nie gedacht. Er würde am liebs­ten stu­die­ren. Auf meine Frage, was genau, ant­wor­tet er „Tou­ris­ten füh­ren“. „Ich würde so gerne nach Deutsch­land rei­sen, aber für die Men­schen hier ist es selbst teuer, ins Nach­bar­dorf oder nach Vila zu fah­ren.“ Dabei sei Vila so ‚fixe‘, cool. „Ich hatte Glück“, erzählt Jali­son wei­ter. „Mein Vater hat mich immer­hin auf eine wei­ter­füh­rende Schule geschickt, das ist sehr teuer. Ich war mit 19 fer­tig.“ Als ich kurz schwim­men gehe, folgt mir Jali­son in Unter­hose. Beim Abschied schaut er mich glück­lich an. „Du bist die erste Deut­sche, mit der ich jemals gespro­chen habe. Die meis­ten Tou­ris­ten kom­men an den Strand, bräu­nen sich und gehen. Sie haben kein Inter­esse, mit uns zu spre­chen, dabei möch­ten wir so gern mehr über sie und ihre Län­der wissen.“

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Ich fahre noch ein Stück wei­ter bis zum letz­ten Dorf Santo Anto­nio, das am Ende der Insel vor einem Berg liegt, inmit­ten von schwar­zer Erde und Staub. Im Sla­lom fahre ich um Hüh­ner, muss immer auf­pas­sen, dass ich nicht die Lebens­grund­lage eines Bau­ern unter die Räder mei­nes Quads bekomme. Hier, weit oben im Nord­os­ten von Maio, ist nichts mehr zu spü­ren von dem schi­cken Flair, das etli­che ita­lie­ni­sche und fran­zö­si­sche Ein­wan­de­rer oder Haus­be­sit­zer nach Vila do Maio gebracht haben. Hier gibt es nur simple, bunte Bun­ga­lows, in denen Fischer und Land­wirte woh­nen – deren Augen sehn­süch­tig auf­leuch­ten, wenn ich die Haupt­stadt erwähne. Was für mich ein ent­spann­ter Tages­aus­flug ist, ist für sie ein Traum – einige Male pro Jahr nach Vila fahren.

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Party mit Heiligen

Meine Zeit auf Maio klingt mit einem Dorf­fest aus, auf das ich durch Zufall gerate: Ich esse zu Abend in dem klei­nen Restau­rant der bra­si­lia­ni­schen Ein­wan­de­rin Mir­tes, die ein spe­zi­el­les Gericht aus Fisch und Kokos­nuss­milch nach­kocht. „Die Leute hier essen das nur am Mitt­woch nach Kar­ne­val“, erklärt sie mir und lädt mich im glei­chen Atem­zug für den nächs­ten Abend ein. Da orga­ni­siere sie einen Mini­bus nach Cal­heta, das Dorf an der West­küste, wo am Wochen­ende das Fest zu Ehren des hei­li­gen José statt­finde. „Mor­gen, am Don­ners­tag, geht es los, und die Leute fei­ern bis Sonn­tag durch.“ Da will ich natür­lich dabei sein.

Als wäre eine Ein­la­dung nicht genug, treffe ich nur wenige Minu­ten spä­ter auf eine Gruppe Ein­hei­mi­scher, von denen einer auf mich zuspringt. Ob ich Deut­sche sei, will er wis­sen, ich sähe Deutsch aus. Er habe näm­lich eine Musik­gruppe mit ein paar Deut­schen gegrün­det und sei öfter mal in Deutsch­land auf Tour­nee. Ob ich etwa noch nie von ihm gehört habe, Tibau Tava­res? Ich muss pas­sen. Genau wie Mir­tes lädt er mich für den Fol­ge­abend nach Cal­heta ein, wo er mit sei­ner Band spiele.

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Am nächs­ten Abend mache ich mich um kurz vor 20 Uhr auf zu Mir­tes‘ Restau­rant, um zum Fest nach Cal­heta zu fah­ren. Aus 20 Uhr, die wir eigent­lich abfah­ren soll­ten, wird 20.40 Uhr. Ein älte­rer Schwei­zer und ein fran­zö­si­sches Paar sind auch mit von der Par­tie, und bei auf­ge­dreh­ter Mucke geht es im Mini­van in Rich­tung Cal­heta, das jetzt drei Tage im Ram­pen­licht steht. Men­schen­trau­ben säu­men die mit Lich­ter­gir­lan­den geschmück­ten Stra­ßen, aus Gar­kü­chen und Grills brut­zelt und raucht es. Ich gönne mir ein Stück sehr grä­ti­gen Fisches, als lang­sam Leben auf die aus Pareos und viel zu grel­len Lich­tern impro­vi­sierte Bühne kommt. Zwei Sän­ge­rin­nen prä­sen­tie­ren ihre Songs zum Sound der Gitar­ren und eines Schlag­zeugs, und immer wie­der fällt der Name Tibau Tava­res. „Die­ser Abend ist eine Hom­mage an ihn“, raunt mir Mir­tes zu. „Er ist der bekann­teste Sän­ger der Kap­ver­den und so beschei­den und nett, ein­mal hat er sogar in mei­nem Restau­rant gesun­gen“. Wie anschei­nend viele der schick geklei­de­ten Frauen fie­bert sie dem Auf­tritt des gro­ßen Künst­lers entgegen.

Wenig spä­ter steht Tibau cool mit einer Bas­ken­mütze auf der Bühne und raunt mit tie­fer Stimme ins Mikro­fon, dass Seuf­zer durch die Frau­en­rei­hen gehen. Fast alle Songs sind lang­sam, erst zum Schluss reißt ein pep­pi­ger Hit das Publi­kum von den Stüh­len. Jugend­li­che tan­zen umschlun­gen vor der Bühne auf und ab – dann ist Schluss. Tibau ver­schwin­det hin­ter der Bühne, wäh­rend einige Frauen Essen auf weiß gedeck­ten Tischen ser­vie­ren, im VIP-Bereich für Sän­ger und Mit­wir­kende. Tibau kommt auf mich zu,  will mich sogar mit sich in den VIP-Bereich zie­hen – sehr zum Neid vie­ler Frauen und zur Über­ra­schung der bei­den Fran­zo­sen. „Wie hast du es geschafft, hier schon so bekannt zu werden?“

Mir­tes schwankt neben mir, eine Fla­sche selbst mit­ge­brach­ten Wein unterm Arm. „Maio ist die katho­lischste Insel über­haupt“, plau­dert sie, „des­we­gen ist dau­ernd in irgend­ei­nem Dorf ein Fest zu Ehren eines Hei­li­gen.“ Danach ver­schwin­det sie in einer Bar, wo sie ihren eige­nen Wein auf­macht und eine Runde für den hei­li­gen José aus­gibt. Eigent­lich hat­ten wir um 23 Uhr zurück­fah­ren sol­len, aber es wird wie­der mal ein klein wenig später.

Auf dem Rück­flug ist mein Herz gefüllt mit der Schön­heit der Natur der Kap­ver­den und der Herz­lich­keit ihrer Men­schen. Ich denke an Day, der in sei­nem Bus Tou­ris­ten um Santo Antão fährt. An Selena, die sicher gerade über ihren Notiz­bü­chern sitzt. An Jali­son am Strand in Maio. An Joanita in Min­delo, die eine zweite Chance bekom­men hat. An Nanda und ihre Liebe zu Maio. An Bobinha, mei­nen Hund für wenige Stun­den, der nun andere Wan­de­rer die Traum­küste bei Ponta do Sol ent­lang beglei­ten wird. Als ich lande, klin­gelt mein Handy. „Oi, hier ist Joana aus Ribeira Dom João. Ver­giss die Kap­ver­den nicht.“ Ich ver­spre­che ihr, dass ich das nicht tun werde. Niemals.

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Cate­go­riesKap Verde
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Astrid Hamm says:

    Liebe Ber­na­dette,
    danke für deine schöne Erzäh­lung von den Kap­ver­den. Ich möchte defi­ni­tiv dort­hin, und am liebs­ten alleine, spre­che aber nur Eng­lisch und Fran­zö­sisch. Kann man sich irgend­wie durch­schla­gen, ohne viel Por­tu­gie­sisch zu sprechen?

    1. Bernadette says:

      Liebe Astrid,

      danke, ich freue mich, dass dir meine Kap­ver­den-Geschichte gefällt. Ja, du wirst auch mit Eng­lisch und Fran­zö­sisch irgend­wie klar­kom­men – es gibt sehr viele fran­zö­si­sche Rei­sende auf den Kap­ver­den und man­che Ein­hei­mi­sche kön­nen mitt­ler­weile auch ein paar Bro­cken, Eng­lisch z.T. auch. Ganz viel Spaß, wenn du die Reise unternimmst :)

  2. Daidi says:

    Hey,

    bin gerade auf der Suche nach nicht so oft besuch­ten Orten auf der Welt und bin auf dei­nen Blog gestoßen :)
    Kap­ver­den klingt echt super und die Bil­dern sind echt ein Traum. Die Trai­nings­ge­räte erin­nern mich an Viet­nam, da sehen die genau so aus :)

    So eine Tour mit dem Quad würde mich auch total Spaß machen. Hab mal eine Tour mit dem Rol­ler über aus­ge­trock­nete Seen gemacht, das war in Tune­sien, das war auch eine Menge Spaß.

    Mal schauen ob ich die­ses Jahr mal nach Afrika komme. Danke für den schö­nen Bericht!

    Liebe Grüße Daidi

    1. Bernadette says:

      Hi Daidi,
      freut mich, dass dir der Arti­kel gefal­len hat. Die Kap­ver­den sind auf jeden Fall eine Reise wert. Ich wün­sche dir ganz viel Spaß dort, falls du hinfährst :)
      LG
      Bernadette

  3. Wie unter­schied­lich doch die Wel­ten sein kön­nen, die Men­schen und ihre Leben von­ein­an­der tren­nen… Was für uns wun­der­schön und ent­spannt zu sein ver­mag nach dem stress­er­füll­ten, euro­päi­schen All­tag, ist für die Ein­woh­ner oft trist und ohne Per­spek­ti­ven… Ja, das Gras ist woan­ders immer grü­ner, das liegt wohl in der mensch­li­chen Natur… :-)

    1. Bernadette says:

      Da hast du recht, liebe Kasia. Wo man auch lebt, irgend­was passt immer nicht. Zu wenig Arbeit ist natür­lich für die Men­schen trist, zu viel kann es ebenso sein. Den Ort, wo wirk­lich alles mehr oder weni­ger passt, muss ich wohl noch finden :)

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