1. Kapitel
Von der Piratenparty in die Karibik
Vor meinen Augen flimmert es. Bei 35 Grad Celsius und 80 Prozent Luftfeuchtigkeit fällt das Atmen schwer.
Hinter mir eine Holzhütte, selbst gezimmert. Stromanschluss gibt es keinen. Wasser muss täglich von einem Wasserhahn geholt werden. Müllabfuhr – Fehlanzeige. Der Abfall ist organisch. Bananenblätter werden als Einweggeschirr verwendet und nach Gebrauch hinter die Hütte auf den Kompost geworfen. Auf seltene Essensabfälle stürzen sich die allgegenwärtigen Hunde und Hühner. Fliegen brumseln im Zeitlupentempo und landen auf meiner verschwitzten Haut. Ich liege auf einer ausgefransten Schaustoffmatratze. Bill und Angela betrachten mich sorgenvoll. Die beiden haben mich in ihrer armseligen Behausung aufgenommen und flößen mir bitteren Tee ein. Naturmedizin, sagen sie. Tasse gibt es keine, ich trinke aus einer ramponierten Kondensmilchdose.
Ich bin unfähig, zu stehen oder zu sitzen, geschweige denn, mich fortzubewegen. Meine Gastgeber erscheinen mir dafür so leichtfüßig wie die mageren Hunde, die überall herumwuseln und schnüffelnd nach Essbarem suchen. Bill und Angela sind barfuß – drinnen wie draußen. Ihre „reichen“ Nachbarn tragen Flipflops. Die „Armen“ haben eine zentimeterdicke Hornhaut. In Bills und Angelas Dorf gibt es keine befestigten Straßen. Alle Wege führen über Sand, Steine, Wurzeln; nur manchmal über raue Holzplanken, um nicht vollständig im Matsch zu versinken. Nachts wird der Himmel einzig durch Sterne und Mond erleuchtet. Straßenlaternen sind unbekannt. Dafür brennt fast immer irgendwo ein Feuer.
Vor vier Tagen bin ich noch knietief im Münchner Schnee versunken. Nach Duhaney Pen, an die Südostküste Jamaikas, bin ich katapultiert worden. Ich kann selbst kaum glauben, wie schnell alles ging: Wir schreiben das Jahr 1986. Im jamaikanischen Südosten gibt es weder Touristen noch Ärzte. Ich fühle mich krank. Sehr krank. Und allein. Torkle fiebrig herum. Verzweifelt frage ich mich, ob ich gerade mitten im größten Fehler meines Lebens stecke. Hier sterbenselend herumzuhängen ist nicht nur eine unerträgliche Qual, ich riskiere womöglich auch das Leben meines sieben Monate alten Sohnes. Wo ist er überhaupt? Ich habe ihn seit Stunden nicht gesehen. Und verfluche das Faschingsfest, wo alles begann.
Auf einer „Herr der sieben Meere“-Party habe ich einen Piraten kennengelernt. Mit olivfarbener Haut und Rastalocken. Ich war als Seejungfrau verkleidet. Wir ankerten. Der Seeräuber stellte sich als Ken vor und schwärmte von seiner Heimat: Vom Meer, den Mangos und Bob Marley. „No Woman No Cry. In a Government Yard in Trench Town“ singt er – und lädt mich ein, mitzukommen. Seine Dreadlocks wippen verheißungsvoll. Ich nehme Peilung auf wie ein Schmetterling auf die Lockstoffe einer Venusfliegenfalle.
Zwei Wochen später sitzen wir im Flugzeug von München nach Kingston, Jamaikas Hauptstadt. Allerdings nicht nebeneinander, sondern so weit voneinander entfernt, wie es beim Einchecken möglich war. Ich hatte meinen sieben Monate alten Sohn Gideon mitgebracht. Pirat Ken war not amused. Dabei hatte ich ihm auf dem Faschingsfest klipp und klar gesagt, dass ich eine „Single Mom“ sei. Er hatte nur „Single“ verstanden – bei einer Seejungfrau hatte er nicht mit Anhang gerechnet. Gideon schreit wie am Spieß.
Bei unserer Ankunft in Kingston sieht sich Ken unentwegt um. Mir ist unbehaglich zumute. Bei der Ausweiskontrolle wird er vom Fleck weg fest genommen – wegen einer Vaterschaftsklage und Heiratsschwindels. Ein Tumult wie in einem Krimi. Ken steckt mir einen eilig gekritzelten Zettel zu – mit einem Ortsnamen: „Nur mit einem offiziellen Airport Taxi dort hinfahren!“ Die anderen Gauner, die ihre Dienste anböten, würden mich sonst entführen, ausrauben, vergewaltigen und ermorden. In seinem Heimatdorf soll ich zu Bill gehen. Damit der ihm aus der Patsche helfe. Wie heißt Bill denn mit Nachnamen? Ken kann nicht mehr antworten. Die Handschellen klicken, er wird abgeführt. Mein Herz droht stillzustehen. Dann pumpt es wieder, im Stakkato. Ich höre nur noch seine wütenden Verwünschungen, die allmählich leiser werden. Fühle mich so alleine, wie ein Mensch nur sein kann. Mit einem Baby auf dem Arm und einem verknitterten Zettel in der Hand, der sich in meinem Schweiß aufzulösen droht. „Duhaney Pen“ steht drauf.

2. Kapitel
Gestrandet
Ich will nicht nach Duhaney Pen. Zu einem Bill ohne Nachnamen. Wahrscheinlich genauso ein Filou wie Ken. Ich möchte mit dem nächsten Flieger zurück.
Aber ich habe kein Geld, um mir ein neues Ticket zu kaufen. Ächzend hieve ich den Rucksack vom Rücken und binde mir mein Baby vom Bauch, um mich hinzusetzen, gleich hier. In Staub und Dreck. Ich beginne, hemmungslos zu schluchzen. Wo soll ich hin? Zur deutschen Botschaft vermutlich. Eine Frau kommt auf mich zu und berührt mich an der Schulter. Sie hat Lockenwickler im Haar und steckt in einem türkisfarbenem Männerhemd. Obwohl im Rentenalter, ist sie von katzenhafter Eleganz und Erotik. Über ihrer Brust spannt sich der Schriftzug „One love“. Sie studiert meinen Zettel und nickt. Ich deute ihren karibischen Singsang als gutes Omen und steige in den klapprigen Wagen, ohne nach ihrer Taxilizenz zu fragen. Ein Fehler?
Kindersitz gibt es keinen. Die Beifahrertür klemmt. Lieber Gott, bitte lass sie keine Mörderin sein. Die Lockenwicklerfrau lächelt mich von der Seite an. Ihre tiefe Stimme klingt nach Karamell und Schokolade: „Gott wird alles richten, Sweetheart.“ Kann sie Gedanken lesen? „Ich heiße Maxine“ stellt sie sich vor. Wir passieren ein Durcheinander aus winzigen Verkaufsständen und baufälligen Gebäuden am Straßenrand. Wellblechhütten, vor denen Hunde in der Abendhitze dösen und bunt gekleidete Frauen Früchte anbieten. Maxine nimmt mich kurz entschlossen mit – zu sich nach Hause. Ich schrecke zurück, sehe schon die Schlagzeile in der Bild-Zeitung. „Junge Mutter im Urlaub spurlos verschwunden.“ Sie verkündet, ohne Widerspruch zu dulden: „Morgen fahre ich euch nach Duhaney Pen. Ya man. Jetzt müsst ihr erst mal essen und schlafen.“
Wir laufen durch knöcheltiefen Dreck einen dicht besiedelten Hügel hoch. Ich folge ihr wie ein braves Haustier. Vor den Hütten brennen Feuer, Kinder spielen barfuß Fangen. Immer wieder kommen magere Hunde und schnüffeln an mir. Nicht jedoch an Maxine, die die Vierbeiner sofort wie lästige Insekten verscheucht. Sie trägt meinen Rucksack mit ihren muskulösen Armen, ich trage nur mein Baby. Trotzdem schwitze ich wie in der Sauna und komme kaum hinterher. Ich sehe Männer mit zotteligen Rastalocken und Buschmessern an der Hose. Die jamaikanischen Nationalfarben Gelb, Grün und Schwarz wehen an vielen improvisierten Fahnenmasten. Alle begrüßen Maxine mit „Wha gwaan?“. Fragen schelmisch, wo sie mich aufgegabelt hätte. Meine Beschützerin antwortet stoisch: „Notten. Mind ya on bussness. Ya man!“. Übersetzt etwa: „Geht dich nix an!“ Ich verstehe alles. Englisch ist Amtssprache auf Jamaika. Auf der gesamten Insel wird Patois gesprochen – eine Mischung aus einfachem Englisch und Worten aus anderen karibischen Sprachen. Patois ist mir durch Reggae-Musik vertraut. Ich lerne: Kein jamaikanischer Smalltalk ohne die Floskel „Ya man“. Auch mich direkt fragen feixende Männer, allerdings immer das Selbe – in Varianten: „Hast du schon mal mit einem Schwarzen / Jamaikaner / Afrikaner Sex gehabt?“ Yes, lüge ich nach dem fünften Mal, und unterstreiche resolut mit „Ya man!“ Dann ist Ruhe.
Es riecht nach Marihuana. „A lickle weed?“ Der Rausch- und Rauchnachschub wird ständig flüsternd angeboten. Selbst mir, der weißhäutigen Unbekannten mit Säugling im Arm. In ihren Bauchläden haben die Händler getrocknetes „Ganja“ in winzigen Papiertütchen. Zigarettenpapier, Filterzigaretten und Filter verkaufen sie einzeln.
An jeder Ecke dreht irgendwer ein Radio laut, um mitzusingen. Bob Marley ist auch nach seinem Tod allgegenwärtig. Ich sehe ihn oft als Graffiti. Der Songtitel „Africa unite“ prangt auf den T‑Shirt eines Mannes, der gestikuliert wie ein Boxer in Zeitlupe. Er rüttelt mit Dosen einen Rhythmus. Eine hohe Frauenstimme singt dazu. Die ganze Nachbarschaft fällt feierlich mit ein. Schmetternd erledigen die Frauen nebenbei die Hausarbeit. Sie füllen Wasser aus einem windschiefen Hahn in Kanister, kochen oder seifen ihre Babys ein.
Meine Gastgeberin wohnt in einem Wirrwarr aus zusammengehämmerten Holzlatten und Autowrackteilen. Auf dem Weg dorthin erbittet Maxine von Nachbarinnen Gemüse. Über ein paar schwelenden Holzscheiten setzt sie vor ihrer Hütte einen Wasserkessel auf. Ohne Hast schneidet sie Kochbananen, Süßkartoffeln und Kürbis, raspelt das Fleisch einer Kokosnuss, mörsert Kardamom und Pimentblätter – und wirft alles zusammen in einen verbeulten Topf. Bald duftet es verführerisch. Sie gießt uns Tee aus frischen Minzblättern auf und schüttet mehrere Löffel Zucker in die Kanne. Dann reicht sie mir den Tee in einem Schraubglas. Tassen hat sie keine. Den Nescafe-Schriftzug darauf kann ich noch lesen. Das Gekochte drapiert sie auf Bananenblätter. Arme-Leute-Essen, entschuldigt sie sich. Für mich schmeckt es besser als im Gourmetlokal.
Maxine nimmt ein Brett und legt es über ein paar Ziegelsteine, die als Füße diesen. Löchriger Schaumstoff fungiert als Matratze. Ich begreife: Es ist ihre Bettstatt. Sie holt zwei Leintücher aus einer Obstkiste, eins als Unterlage, eins zum Zudecken. Beide Laken riechen frisch wie aus der Waschmittelwerbung. Mein Brett-Bett ist zu schmal, als dass mein Baby neben mir liegen könnte. Ich balanciere Gideon auf dem Bauch, wickle meine Arme und das Laken um ihn, damit er im Schlaf nicht herunterfällt. Um uns herum Dreck, Schlamm und Schmutz – aber Gideon und ich liegen wie Königskinder in einem blütenreinen Schlafgemach.
Mein Schutzengel legt sich auf den blanken Boden, faltet ihre Hände und murmelt Gebete. God bless you, Darling, flüstert Maxine mit ihrer Schokoladenstimme. Ich weine zum zweiten Mal an diesem Tag. Diesmal vor Erleichterung.

3. Kapitel
Duhaney Pen
Am nächsten Morgen liegt ein silbriger Film aus schmutziger Luft über dem Himmel – von den Feuern, die bereits in aller Frühe brennen. Ich wache von Bob Marleys „Could you be Loved“ auf.
Maxine serviert zur Musikuntermalung jamaikanisches Frühstück: Ackee, deren gelbes Fruchtfleisch sie mit Saltfish, Tomaten und Zwiebeln schmort. Dazu reicht sie gebratene Kochbananen. Der exotische Geschmack legt sich wohlig auf meine Zunge. Hm, schwärme ich. Und summe mit.
Maxine freut sich über meinen Appetit. Dann erzählt sie von sich. Dass sie viele Jahre in den Vereinigten Staaten als Putzfrau gearbeitet hat. Schließlich musste sie – ohne wie erhofft reich geworden zu sein – zurückkehren, um ihre alte Mutter zu pflegen. Sie schnieft: Die Mutter ist vor zwei Jahren gestorben. Maxine konnte die Hütte übernehmen, obwohl die Familie eigentlich vom anderen Ende der Insel kommt, aus Negril. Meine Gastgeberin hat vier erwachsene Kinder von vier verschiedenen Vätern. Ihre fünf Geschwister sind, genau wie ihre eigenen Kinder und Enkel, auf drei Kontinente verteilt, arbeiten als Möbelpacker, Nanny oder Putzfrau. Sie zeigt mir Fotos, deutet auf ihre herausgeputzten Kinder mit ihren üppigen Koteletten, Soul-Frisuren, Perlenzöpfchen. Im Hintergrund erkenne ich die Tower Bridge, das Empire State Building und die Oper von Sydney. Maxine ist als einzige wieder in die Heimat zurückgekehrt. Trotzdem ist sie die Rebellin der Sippe: Sie hat als weibliches Familienmitglied einen Führerschein! Als ich ihr erzähle, dass ich vier Mal durch die Fahrprüfung gefallen bin, schüttelt sie ungläubig den Kopf. Manchmal hilft es nicht, wenn du weiß bist, konstatiert sie schmunzelnd. Und klatscht mich ab.
Nach dem Frühstück fährt sie mich, wie versprochen, nach Duhaney Pen. Ob wir vorher nach Trenchtown könnten, frage ich. Maxine zieht eine Augenbraue hoch: „Warum?“ Es ist einer der wenigen Orte, dessen Namen ich kenne. „Du wirst enttäuscht sein. Ya man“, warnt sie mich. Trenchtown, durch Reggae Hits weltweit bekannt, ähnelt im Jahre 1986 einer Kriegszone. Zwei abgebrannte Straßenzüge teilen das Viertel wie eine hässliche Narbe. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, als Bewaffnete um die Straßenhoheit kämpften, waren der Grund, warum Bob Marley Trenchtown verlassen musste, sagt Maxine. Er und seine Frau wurden angeschossen. Wir verlassen den trostlosen Stadtteil über die „Orange Lane“, wo die Straßenverkäufer Jackfrüchte, Ananas und frittierte Bananen anbieten und Kingston afrikanisches Flair verströmt. Maxine spendiert uns einen frisch gepressten Zuckerrohrsaft. Ich vergesse alle Warnungen („Nie von der Straße essen!“). Der süße Saft ist erfrischend wie ein Lebenselixier.
In ihrem klapprigen Gefährt fahren wir die Küste entlang; vorbei an hohen Palmen, dichten Mangroven und feinsandigen Stränden. Ich sehe Bananen‑, Avocado- und Mangobäume. Hinter üppiger Tropenvegetation liegen geduckte Häuser und kleine Shops. Gehsteige sehe ich nirgendwo.
Nach zwei Stunden sind wir in Duhaney Pen, ein Straßendorf, direkt am Meer, das mich an Maxines Slum erinnert, nur, dass die Hütten viel weiter auseinander stehen. Hängematten schwingen unter Palmen, Lachen liegt in der Luft. Kinder kommen zu mir gelaufen. Sie reiben vorsichtig meine Haut, um zu sehen, ob nicht doch schwarz darunter durchschimmert. „Die haben noch nie eine Weiße gesehen“, sagt Maxine amüsiert. Nach zehn Minuten Herumfragen proklamiert sie: „Ich habe ihn gefunden! Ya man!“ Als weibliche Taxifahrerin unter lauter großmäuligen Kollegen kann sie Alphamännchen gleich erkennen. Der hochgewachsene Mann mit dem Weltfriedens-Lächeln stellt sich mir als Bill vor. Kens Cousin.
Bill nimmt mich und Gideon von Maxine wie ein Geschenk entgegen. Seine Haarpracht hält er unter einer Wollmütze in den panafrikanischen Farben versteckt. Grün, gelb und rot. Bill ist Rasta. Er wäscht seine Haare täglich, schneidet sie aber nie. Er kämmt sie auch nicht. So entstehen die langen, wilden Zöpfe seiner Mähne. Bevor ich ihm von Kens Verhaftung am Flughafen erzählen kann, bringt Bills Frau Angela süßen Minztee. Auch Maxine bleibt, um sich zu vergewissern, dass Gideon und ich in guten Händen sind. Wir setzen uns auf Kisten, Stühle gibt es nicht. Schnell wird klar: Alle wissen schon von Kens Drama am Flughafen. Ich hatte Maxine nichts erzählt. Sie wusste es trotzdem: „Jamaika ist ein Dorf! Ya man!“ Deswegen habe sie sich um uns gekümmert. Die kinderlose Angela knuddelt den vergnügten Gideon und Bill gibt mir Geschichtsunterricht.

4. Kapitel
Friede und Liebe, Dreadlocks und Ganja
International bekannt wurden Rastafaris seit den 70er Jahren durch die Reggae-Musik von Bob Marley. Millionen Menschen verehren ihn noch heute. Als spirituelle Naturgewalt, als Botschafter des Friedens. Als erster Superstar der Dritten Welt.
Der jamaikanische Sänger und Gitarrist gab der schwarzen Ghettojugend der Karibik und der USA Selbstbewusstsein. Er war erst 36 Jahre alt, als er 1981 an Krebs starb – als Vater von elf Kindern mit sieben verschiedenen Frauen. Marleys Songs mit ihren politischen und religiösen Inhalten wie „Get Up, Stand Up“ oder „One Love“ packen Menschen weiterhin. Nicht nur in Jamaika, doziert Bill stolz: „Sondern von den Metropolen Europas bis zu kleinen Dörfern Asiens!“
„Weißt du, was Rastafari bedeutet?“ fragt Bill verschwörerisch, lüpft seine bunte Wollmütze und wirft die Dreadlocks nach hinten. Er dreht sich einen Joint und senkt seine Stimme: „Hast Du schon mal mit einem Jamaikaner Sex gehabt?“ In diesem Moment kommt Gattin Angela, die Antwort bleibt mir erspart. „Wenn du Bobs Songs hörst, dann dynamisiert dich der Beat und entspannt dich gleichzeitig. Rastaman Vibration! Du kannst tanzen und du kannst Liebe machen. Am I right, Maxine?“ Meine Flughafenbeschützerin klatscht ihn ab. „Wir Rastas ernähren uns, ohne zu töten“ erklärt Angela und gießt Minztee nach. Rastafaris sind nicht nur als Reggae-Musiker bekannt, sondern auch als Vegetarier und Gesundheitsapostel. „Ital“ heißt ihr Zauberwort. „Gesundheit für Körper und Seele“, übersetzt das Bill. „Rastas haben schon bio gekocht, bevor es Mode wurde“.
In ihrer Religion berufen sich die Rastas auf die Bibel, nach der die Schwarzen außerhalb Afrikas in der Verbannung leben wie einst die Israeliten in der Babylonischen Gefangenschaft. „Babylon“ steht für Sklaverei und Unterdrückung. Gerahmte Bibelsprüche bezeugen Gottes Worte. In Bills und Angelas Hütte hängen so viele hängen an der Wand, dass ich das Holz dahinter kaum noch sehe.
Bei der Kreuzigung trug Jesus einen Pferdeschwanz – Bill klopft auf den Bibelvers dazu – und das ist für einen Schwarzen nur mit Dreadlocks möglich: Deshalb die verfilzten Schwänzchen. Nicht die einzige religiöse Dimension: Viele Rastas identifizieren sich mit der biblischen Figur des Samson, der seine Kraft in den Haaren trug. Nachzulesen im 4. Buch Mose: „Kein Schermesser soll sein Haupt berühren, bis die Zeit abgelaufen ist, für die er sich dem Herrn (…) geweiht hat. Er ist heilig, er muss sein Haar ganz frei wachsen lassen.“ Ich nicke verwundert.
Ich hatte keine Ahnung, dass die Bewegung schon zu Beginn der 30er Jahre in den Armenvierteln von Kingston entstand. Der schwarze Aktivist Marcus Garvey – heute ein jamaikanischer Nationalheld – prophezeite, „die schwarze Rasse werde ihre Unterdrückung überwinden“ und nach Afrika zurückkehren. Ebenso, dass in Afrika ein schwarzer König gekrönt werde: „König der Könige!“ Die Majestät, von der Bill spricht, ist Haile Selassie, der ursprünglich „Ras Tefari“ hieß. Als er 1930 zum Kaiser von Äthiopien gekrönt wurde, gab er sich den Titel „Haile Selassie“, zu Deutsch: „Macht der Dreifaltigkeit“. Bill deutet auf den passenden Bibelspruch: „Aus Ägypten werden Prinzen hervorgehen und Äthiopien wird bald seine Hände nach Gott ausstrecken.“
Angela erklärt, dass Haile Selassie aus mehreren Gründen zum Messias erkoren wurde. Äthiopien war der bis dahin einzige afrikanische Staat, der sich erfolgreich den Kolonialmächten widersetzt hatte: „Der Kaiser katapultierte Äthiopien aus dem Mittelalter ins 20. Jahrhundert und war das erste afrikanische Staatsoberhaupt, das ins Ausland reiste. Auch nach Jamaika.“ Zudem wohnten Selassies Krönung viele europäische Staatsoberhäupter bei, was den Messias-Status aus dem Blickwinkel seiner Anhänger untermauerte. Seine größte Leistung war jedoch unzweifelhaft, dass Muslime und Christen in Äthiopien friedlich nebeneinander lebten.
Bob Marley beschwor Haile Selassie vor jedem seiner Konzerte. 1978 kam er selbst nach Afrika und war ernüchtert. Dort sah er die gleichen Slums und hungrigen Gesichter, die er aus seiner Heimat kannte. Der Sänger ermunterte daraufhin seine Glaubensbrüder: „Euer gelobtes Land könnt ihr hier und jetzt verwirklichen. Wartet nicht auf das Schiff zurück.“. Diesen Spruch trägt Bill auf seinem T‑Shirt. Er zieht an seinem Joint, ein leuchtend roter Kreis umkränzt die Spitze des „Spliffs“. Er breitet seine Arme aus, als ob er uns segnen wolle: „Wir rauchen Ganja“, erklärt Bill, „um Geist und Seele zu öffnen.“ Er leckt am Zigarettenpapier und klebt den nächsten Joint zu.
Maxine muss los. Mein Angebot, ihre Fahrdienste zu bezahlen, lehnt sie ab. In ihrer Stimme schwingt eine Mischung aus Empörung und mütterlicher Sorge. Kaum ist sie weg, beginnt mein körperlicher Zusammenbruch. Mir wird speiübel, ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Ob ich statt Minztee womöglich Marihuana-Tee bekommen habe? Bill und Angela verneinen. Sie nehmen mir Gideon aus den Armen, damit ich mich hinlegen kann. War es der Zuckerrohrsaft vom Straßenhändler? In der Zwischenzeit kommt das ganze Dorf zusammen gelaufen. Gesund oder krank: Wir sind eine Attraktion, die sich keiner entgehen lassen will.

5. Kapitel
Gideon! Gideon!
Alle Kinder wollen Gideon wie ein Püppchen herumtragen. „Gideon, Gideon“ stimmen sie an, sobald sie ihn sehen. Mal als Ruf, mal als Singsang. Ich hingegen sinke zu Boden.
Zwei Tage lang geht es mir miserabel. In den 48 Stunden meines Deliriums sehe ich meinen Sohn nur kurz, wenn Angela ihn mir bringt, damit ich ihn stillen kann. Falls ich dazu nicht in der Lage wäre, wäre es auch kein Problem: Alle stillenden Mamas im Dorf bieten an, ihm die Brust zu geben. Nach zwei Tagen verschwindet meine Krankheit so plötzlich, wie sie gekommen ist. Gideon wird in der Zwischenzeit bereits wie ein kleiner Prinz herumgereicht; geherzt, geschaukelt, gestreichelt und gefüttert. Immer sind Menschen da, die ihn mir abnehmen wollen. Er strahlt unentwegt. Ich helfe jetzt oft in Angelas Garten beim ernten, und wenn ich Gideon in der Zwischenzeit auf den Boden legen will, wie es andere Mütter machen, kommt sofort ein Kind und nimmt Gideon in die Arme, um mit ihm durchs Dorf zu stolzieren. Hütet ihn wie eine Monstranz, dahinter laufen die anderen Dorfkinder wie bei einer Prozession. Vorsichtig wird er weiter gereicht und geküsst. Wenn ich ihn hole, gluckst Gideon vergnügt.
Einmal am Tag, meistens mittags, regnet es heftig. Nach jedem Guss dampft Duhaney Pen wie eine sinnliche Verheißung. Jamaika gleicht einem Gewächshaus: fruchtbare Erde, Wärme und Feuchtigkeit – alles gedeiht im Überfluss. Das machten sich die Kolonialherren zunutze, erzählt mir Angela beim Kochen. Sie holten Pflanzen aus der ganzen Welt hierher. „Die Spanier brachten Bananen und Zuckerrohr, die Engländer die Kokospalme aus Polynesien“. „Die Ackee-Frucht kam im 18. Jahrhundert aus Westafrika und war billige Nahrung für die Plantagen-Sklaven.“ Wurzeln, Ranken, kleine Stämme, bunte Blüten: Alles verwendet Angela für ihren Speisezettel. Vor meinen Augen schwenkt sie eine Yams-Wurzel wie eine Zauberkünstlerin, die gerade ein Kaninchen aus dem Zylinder holt. Magisch ist ihr Garten allemal: Kochbananen, Brotfrucht und Süßkartoffeln erntet sie mit leichter Hand, pflückt Ananas, Bananen und Früchte, die ich nie zuvor gesehen habe. Sie deutet auf eine zwei Meter hohe schilfartige Pflanze hinter sich und testet mein Wissen. Ich erkenne Ingwer. Sie lobt mich; stolz wie eine Schuldirektorin auf ihre Musterschülerin.
Immer nach dem Regen kommt Nachbar Stanley und melkt Penny, die Kuh von Bill und Angela. Als Lohn bekommt er die Hälfte der Milch, drei Liter werden es sein. Stanley ist einen Kopf kleiner als ich und sehr schüchtern. Nach zwei Wochen fasst er sich ein Herz und will wissen, ob ich schon einmal mit einem schwarzen Mann geschlafen hätte. Er ist (gefühlt) der vorletzte männliche Dorfbewohner, der mich noch nicht gefragt hat. Mittlerweile bin ich routiniert darin, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Ich komme aus einer bayerischen Bauernsippe, sage ich, bei uns werden die Kühe morgens in aller Herrgottsfrühe und abends zur Dämmerung gemolken. Sie geben zweimal am Tag ein Vielfaches an Milch, Kuh Penny nur einmal einen knappen Eimer. Ist das immer so, Stanley? Stanley stottert und ist sichtlich verwirrt. Er ist wieder so schüchtern wie eh und je, als er mit seinem Milcheimer wegtrabt – ohne eine Antwort auf seine eigentliche Frage bekommen zu haben.
Ich schaue auf Pennys schlabbriges Euter. In Deutschland wäre sie längst geschlachtet worden. Für Bill und Angela ist Penny hingegen wie ein Familienmitglied, sie wird mit Namen angeredet und gestreichelt. Auch ihre drei Hühner Wendy, Gaya und Mimi gehören zu Bill und Angela wie neugierige Kinder. Wenn sie sich vor der Hitze schützen und in der Wohnhütte niederlassen, werden sie nur zur Schlafenszeit rausgescheucht.
Während Angela Pfannkuchen aus Pennys Milch, frischen Eiern und Maismehl wendet, höre ich die Freudenschreie plantschender Kinderhorden vom Meer. Aus der Ferne klingt die Reggae Ballade „Redemption Song“. Wie üblich singt das halbe Dorf mit. Eine sanfte Brise raschelt durch die Palmen, treibt den Rauch aus Angelas Küche bis aufs Meer hinaus. Küche ist ein Euphemismus. Es gibt weder Stühle noch einen Herd, nur eine Feuerstelle. Auf dem krumm aus dem Sand ragenden Stümpfen liegt ein Brett: der Tisch, darauf eine Kürbis-Kokos-Suppe. Die Pfannkuchen serviert meine Gastgeberin mit einer Kurkuma-Ingwer-Sauce und einem Berg Reis und Bohnen auf Bananenblättern. Es ist ihr Abschiedsessen für mich.
Ich schließe meine Augen und lehne mich an den kühlen Stamm einer Palme. Lausche der Brise in den Wipfeln. Oder ist es das Meer? Die Grillen zirpen, die Fächerpalmen flüstern, die Bananenblätter wiegen sich im Wind. Ich kann kaum glauben, dass wir am nächsten Tag abreisen müssen. Einen Monat lang war ich nur barfuß unterwegs, habe kein einziges mal geduscht, mich nur mit den Frauen und Kindern mit Kernseife im Fluß gewaschen. Habe mir das Fahrrad des Bürgermeisters ausgeliehen und bin nachmittags die Küste entlang geradelt. „Whitey! Whitey!“ rufen die Leute dann, ich antworte: „Blacky! Blacky!“ Darauf kommt verlässlich Gelächter und Applaus. Ich habe oft den Eindruck, dass manche Ortschaften schon auf mein Vorbeikommen warten. In der ganzen Region werde ich bekannt, als ich in der nächstgrößeren Stadt Morant Bay nach Sonnenmilch frage. Davon hat noch nie jemand etwas gehört. Ah, damit reiben sich Weiße ein, um…? Niemand weiß die Antwort, es hört sich so unvorstellbar an, so sinnlos. Mittlerweile lauschen nicht nur die Shop-Inhaber mit offenem Mund, sondern auch deren Verwandte und Menschen, die zufällig gerade auf der Straße sind. Da drängt sich eine Frau vor, hebt theatralisch die Hände und sagt wie eine Rednerin auf einer Bühne: Ja, Whitey hat recht. Bei den Weißen sei die Haut merkwürdig. Man kann an ihr sogar sehen, ob sie Liebe gemacht hätten – an den „Love Bites“ (Knutschflecken). Aber Sonnenmilch gäbe es in Jamaika trotzdem nur an den wenigen Stellen, dort, wo Touristen sind. Hier nicht.
Am letzten Abend richtet das Dorf ein Fest für Gideon und mich aus. Die Lehrerin bietet mir einen Job in ihrer Schule an, falls ich bleiben oder wiederkommen möchte. Ebenso der Bürgermeister. Ich könnte seine Sekretärin sein. Ich denke darüber nach, sage ich seufzend. Er war nicht nur der Einzige mit Rad, sondern auch einer, der mich nicht nach Geschlechtsverkehr mit Landsleuten befragt hat. Hätte das Dorf ein Goldenes Buch gehabt, ich hätte mich darin verewigen müssen. Das Fest geht bis zum Morgengrauen. Die Kinder bleiben lange auf, die Frauen brutzeln unentwegt, die Männer kiffen. Alle singen und tanzen. Alle haben sich herausgeputzt. Wer eins hat, trägt zur Feier des Tages ein T‑Shirt mit Botschaft.
Angela und Bill bringen Gideon und mich nach wenigen Stunden Schlaf in öffentlichen Bussen und mit viel Umsteigen zum Flughafen. Ich bekomme immer sofort einen Platz angeboten, es ist schöner als ein Maybach-Shuttle. Klar, dass in den Kleinbussen wieder mitgeschmettert wird, was der Busfahrer einlegt. Auch ich singe mittlerweile lauthals mit. Am Flughafen wartet Maxine und umarmt mich. Sie schenkt mir ein T‑Shirt „Jamaika – clostest Place to Heaven“ steht darauf. Am Flughafen-Counter lehnt Ken, der ein großes Gewese um seinen vergangenen Monat macht. Ich hatte ihn fast vergessen. Angela zwinkert mir zu: Er sei am Ende doch nicht im Gefängnis, sondern bei einer seiner vielen Frauen gewesen. Ich solle ihn bloß nicht bemitleiden. Ken erkennt mich kaum wieder. Die Frauen haben mir lange Perlenzöpfe aus Kunsthaar geflochten, die mir klimpernd bis zum Hintern reichen. Gideon scheint um Monate gereift. Als wir im Flieger sitzen – diesmal nebeneinander – stellt mir Ken die Frage: „Hast du mit jemand aus Duhaney Pen Sex gehabt?“ Ich antworte: „Notten. Mind ya on bussness. Ya man!“ Und bestelle bei der Stewardess noch ein Gläschen für den glücklich glucksenden Gideon.

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