Die Bevölkerung in Iran ist im Verhältnis zu unseren westeuropäischen Gesellschaften sehr jung. Das Durchschnittsalter liegt sowohl bei Männern als auch bei Frauen unter 28 Jahre. Persien hingegen stellt die älteste Hochkultur da, die uns bis heute in Teilen erhalten bleibt. Von Shiraz aus begeben wir uns in einem lokalen Minibus nach Persepolis. Dort befindet sich eines der bedeutendsten und ältesten architektonischen Überbleibsel des alten Persischen Reiches.
Kyros II. gründete als Anführer der Achämeniden bereits um 520 v. Christus diese Stadt. Die Grabstätte von Kyros selbst befindet sich in einem Feld oberhalb der Gebäudekomplexe, die inzwischen als Ruinen aus der Ebene ragen. Dort liegt es also, das Grab, leer, mächtig und nicht zu umgehen, von Wind durchtost. Zur Rechten und im Hintergrund braune Hügel, die ganz in der Ferne verschwommen zu Bergen anwachsen. Um das Grab selbst grünes, hohes Gras. Das Grab ist hoch, mit fast halbmannshohen Stufen, nur ein Riese könnte sie normal betreten. Zweimal stand auch Alexander der Große hier vor dem Sarkophag, einmal auf dem Höhepunkt seiner Eroberungen, das zweite Mal sechs Jahre später, um jene Männer zu bestrafen, die das Grabmal ausgeraubt hatten. Es ist physisch spürbar, dass wir etwas Altes betreten und anfassen, es betrachten. Und doch kaum verstehen können. Das Merkwürdige an unserer heutigen Zeitrechnung ist, dass eine so hohe Kultur durch das Christentum ins Negative, in eine Vorzeit gepresst wird, eine Zeit im Bezug zu jemandem, der erst später folgte und nun seinen Schatten auch in die Vergangenheit wirft. 520 VOR Christus. Was soll das nun wieder bedeuten? Wir betrachten die Pferdeköpfe, die Details der Fragmente und der Tierfiguren und bis heute flößen sie uns nichts ein als Respekt. Weniger vor der Macht des Herrschers, der Respekt bezieht sich auf die Leistung der Baumeister und der Planer. In Persepolis über Zeit und unsere Rolle in ihr nachzudenken, ist etwas Gefährliches. Denn wir alle nehmen mit unseren im Schnitt 70 bis 90 Lebensjahren einen minimalen, kaum erkennbaren Platz im Zeitverlauf ein. Und dennoch sind Menschen, oder waren Menschen, die damals einen im Verhältnis zur “Unendlichkeit” noch viel kleineren Platz einnahmen, in der Lage, etwas zu errichten, dass nun Jahrtausende überdauert und uns alle überleben wird. Menschen nehmen dadurch einen viel größeren Platz in der Zeit ein, als ihnen von Natur aus zusteht. Vielleicht erklärt das, warum man an diesem Ort nicht zu viel über Zeit und unsere Rolle darin philosophieren sollte.
Unsere Tage in Shiraz streichen langsam vorbei. Wir besuchen nochmals den Basar und probieren lokale Köstlichkeiten. Wir sprechen über das in Persepolis Erlebte und spielen viel Schach. Dann brechen wir abermals auf, wieder im Bus. Dieses Mal aber etwas nach Norden, genauer gesagt Nordosten. Unser Ziel ist die alte Stadt Yazd. Seit ich in Teheran vor einer Woche den Flughafen verließ, lag über allem stets ein leichter Dunst, eine leichte Bedrohlichkeit. Nein, nicht Bedrohlichkeit, sondern eher ein Schleier in Form der gelebten Religiösität, die vom Staat und somit von Oben verordnet wird. Unterschwellig sichtbar, immer irgendwie auch mit dabei. Nun scheint es mir so, als hänge dieses Gefühl sehr stark von der Größe einer Stadt oder eines Ortes ab. In Teheran sahen wir viele Frauen, die unter bunten Kopftüchern auch Haare zeigten. In Esfahan ein wenig mehr Schwarz in den Menschenmengen, in Shiraz noch ein wenig mehr. Jetzt sind wir in Yazd, und alle Frauen ab dem späten Mädchenalter tragen den schwarzen Chador. Wirklich alle. Was weiterhin auffällt, als wir am Abend erstmals durch die Straßen der Altstadt schlendern: Alle Frauen gucken weg, wenn sie uns Ausländer sehen. Bislang war es eher so, dass Frauen gerade uns interessiert, teils leicht flirtend ansahen. Hier aber sehen sie bewusst zu Boden, an die Wand, an der sie soeben entlanggehen. Es kommt für mich überraschend und es löst, das lässt sich nicht leugnen, Unbehagen in mir aus. Ein wenig fühlt sich das an, als wenn man auf eine Party geht, von der man weiß, dass man gar nicht eingeladen, gar nicht erwünscht, sondern höchstens geduldet wird.
Das nächste Unbehagen folgt wenig später in einem kleinen Restaurant. Natürlich, so muss man für Yazd schon sagen, sind wir die einzigen westlichen Gäste. Als wir auf unser Essen warten fällt mein Blick auf den an der Wand eingeschalteten Fernseher. Eine Fanfare ertönt, die Abendnachrichten werden angekündigt. Was sehen wir? Ein iranischer Mann mit Bart, mittleren Alters, beugt sich zu seinem Sohn hinab und geht dazu auf ein Knie. Er breitet die Hände aus und ein imaginäres Bildermeer ersteht vor den Augen des Kindes. Marschierende Soldaten. Eine Friedenstaube vor azurblauem Himmel. Wogende Felder. Ein Wasserfall. Gräber von Märtyrern aus dem Iran-Irak-Krieg. Khomeini. Irgendwann blendet die Kamera zurück, der Sohn umarmt seinen Vater. Nun können die Nachrichten beginnen.
Yazd ist eindeutig die konservativste Stadt, die ich während meiner Reise besuche. Die Stadt besitzt noch eine Eigenart: Bis heute leben hier Zoroastrier, Feueranbeter. Vor der Stadt befinden sich die Türme des Schweigens, sogenannte Dachma. Bei Zoroastriern ist es heute noch üblich, Leichname in runde Türme zu legen, wo Fleisch und Weichteile von Vögeln gefressen werden. Unter Erde bestattet werden die Leichname nicht. Heute aber ist es den Feueranbetern in Yazd verboten, diese Art der Bestattung durchzuführen. Die Türme sind inzwischen oben zugeschüttet, und doch wandeln wir, als wir einen der beiden Hügel erklettern, auf einem Friedhof.
Wieder zurück in Yazd treffen wir abermals auf Frauen, die uns nicht einmal ansehen und beobachten den Eingang einer der zahlreichen Moscheen, durch den Männer und Frauen getrennt einströmen. Diese Trennung zwischen Mann und Frau ist im gesamten Islam üblich, in Moscheen habe ich das bereits in Istanbul oder auch in Ägypten beobachtet. Hier aber ist die Trennung nur ein kleiner Teil eines viel größeren Apparats, der das alltägliche Leben der Bürger bestimmt. Komplett vereinnahmt.
Was löst das in mir aus? Es ist keine Angst, die ich verspüre. Aber ein Unwohlsein, das allemal. Zumal ich in den vorherigen Tagen meistens in der Lage war, diese Begebenheiten als kulturelle Erfahrung zu verbuchen. Doch wenn ich mehr darüber nachdenke, ist es stellenweise sehr extrem. Zum Beispiel die öffentlichen Busse. Der hintere Teil im Bus ist für die Frauen reserviert, vorne stehen und sitzen die Männer. Dazwischen eine Trennlinie, eine Art Schranke aus Kunststoff. Diese gesetzlich verordnete Trennung löst böse Assoziationen in mir wach, Apartheid in den USA und Südafrika machen den Anfang, es endet in der NS-Zeit und der Rassentrennung. Ich habe es vorher gewusst, ich war mir im Klaren über die strikte Geschlechtertrennung in diesem Land. Das aber ist etwas anderes, als es nun direkt, mittendrin, zu erleben und ebenfalls befolgen zu müssen. Mein ganzes Leben widerspricht dieser Trennung, die ich hier im Alltag überall erkenne, und trotz aller Versuche, es zu akzeptieren, fällt es mir doch äußerst schwer. Was auch daran liegt, als mir durch Gespräche mit jungen Iranern schnell klar wird, dass diese Menschen nichts sehnlicher wünschen, als mehr Freiheit. Mehr Chancen, sich ausleben zu dürfen und keine Angst vor der religiösen und gleichzeitig politischen Führung dieses Landes zu haben. Von Yazd gelangen wir im Flugzeug zurück in die Hauptstadt Teheran. Neben mir am Fenster sitzt ein 31jähriger Student. Er fragt, wie es mir in Iran gefällt, und ich antworte vorsichtig “gut”. “Ja, gut?”, fragt er grinsend. Schließlich sprechen wir über das System, über die Vorgaben der Regierung. Überraschend offen spricht er über seine Einstellung, oftmals fällt gar der Satz “fuck the leader”. Bei den Demonstrationen von 2011, die lange Zeit auch in den westlichen Medien höchst aufmerksam verfolgt wurden, bekam mein Sitznachbar die Macht des Staates am eigenen Leib zu spüren, als er von einem Bürgersteig aus Fotos der Proteste schoss. Kurz darauf spürte er einen groben Griff an seinen Handgelenken, zwei Polizisten nahmen ihn mit auf das nächste Revier. Dort wurde ihm vorgeworfen, für CNN, BBC, in jedem Fall aber für ein westliches “Propagandainstrument” zu arbeiten. Er stellte klar, dass dies nicht der Fall sei. Er löschte seine Fotos. Zeigte den Polizisten die leere Speicherkarte. Sie konfrontierten ihn weiter mit den Anschuldigungen, die er weiterhin verneinte. Daraufhin saß er zwei Monate im Gefängnis, mitten in Teheran.
Warum also bin ich dennoch nach meinen knapp zwei Wochen in Iran begeistert und positiv nach Deutschland zurückgeflogen? Weil es für jeden einzelnen Moment, in dem ich mich unwohl oder verunsichert fühlte, einen Moment gab, in dem mir die Offenheit und Warmherzigkeit der Menschen das genaue Gegenteil von Bevormundung oder Kontrolle vor Augen führte. Der Student aus dem Flugzeug, der uns gemeinsam mit seiner Freundin bis ins Wohnheim in Teheran brachte und dafür einen Umweg von über einer Stunde (Teherans Verkehrschaos sei Dank) in Kauf nahm. Der Taxifahrer, der uns von Persepolis die gut fünfzig Kilometer zurück nach Shiraz nahezu umsonst mitnahm, einfach, da er nicht glauben konnte, dass mein Freund farsi mit ihm sprach und überhaupt selten Ausländer als Fahrgast zu Gesicht bekommt. Der Besitzer des Hostels in Shiraz, der uns trotz Müdigkeit und Feierabend durch endlose Gassen bis vor den “besten Addassi-Stand” der Stadt führte und dann noch sicher ging, dass wir die Linsensuppe zum lokalen Preis erhalten und nicht abgezockt werden. Die Händler im Basar von Esfahan, die uns in Ruhe schauen ließen und uns höflich und mit Respekt nur dann ansprachen, wenn wir wirklich Interesse zeigten. Uns nicht wie einen Geldautomaten auf zwei Beinen behandelten. Und natürlich die beiden Männer, die mir gleich zu Beginn, noch im Flugzeug in Istanbul, die Frage stellten: “Besuchen Sie zum ersten Mal unser Land? Aaaah. Sie werden begeistert sein.”
Trotz aller Widersprüche sollten sie Recht behalten. Die Menschen in Iran sind es, die für das Land stehen. Nicht die religiöse und politische Führung. Und seitdem ich das erkennen durfte, möchte ich definitiv eines Tages zurück. Denn Iran ist eines der spannendsten und schönsten Länder der Welt.
Lieber Marius,
ein sehr schöner und ehrlicher Bericht :)
Ein Gedanke dazu: Die Trennung von Mann und Frau ist zwar für uns vollkommen ungewohnt, bietet allerdings auch große Vorteile für die Frauen. Die U‑Bahn in Teheran ist bsw. nicht zwangsläufig Geschlechter getrennt (es gibt Männer‑, Frauen- und gemischte Abteile), wird aber dennoch meistens so genutzt. Wieso? Weil der extreme Körperkontakt den meisten Frauen tierisch unangenehm ist. Ich habe es vor Ort selbst erlebt, wie befreiend so ein Frauenabteil sein kann: Niemand grabscht oder gafft einen an, man hat einfach seine Ruhe. Es gibt also 2 Seiten dieser Medaille :)
Dennoch hast Du Recht, der Ruf nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung wird nicht so schnell verstummen.
Liebe Grüße
Esther