Was mache ich hier?

Nosta ist die Rückkehr.
Und Lei­den bedeu­tet Algos.

Und ja, so stimmt die Zeile Milan Kun­de­ras: Nost­al­gie ist das Lei­den einer unge­still­ten Sehn­sucht. Der Sehn­sucht zur Rück­kehr. Genauso fühlte ich mich, als end­lich die zit­tern­den Lich­ter Istan­buls sich unter mir reg­ten und ich merkte, was ich hatte. Wir trenn­ten uns im grau gefärb­ten Novem­ber. Ich ging, um Afrika zu bestau­nen. Ich ging fort und sie blieb. Nun kehrte ich an die Ufer des Bos­po­rus zurück. Eine wei­tere Woge Nost­al­gie brei­tete sich aus und nis­tete sich ein, zwi­schen mei­nem gewöhn­li­chen, pochen­den Afrika-Han­go­ver und einer Stelle irgendwo zwi­schen Brust und Magen. Und sie wühlte weiter.

 

 

Istan­bul – eine Visite im Salon der Nost­al­gie. In Bey­oğlu die Glut der letz­ten Koh­len. Die Nacht geht, die Hoff­nung auf eine Rück­kehr bleibt, weil man ja nie weiß, wie einen die Mor­gen­däm­me­rung wie­der aus­spu­cken wird. Sie bleibt, zusam­men mit dem Wil­len, der uns immer mit dem ers­ten Strahl des Mor­gen­lichts – halb in Träu­men – gefan­gen nimmt, unsere Wün­sche wahr zu machen. Die flam­mende Aurora weht über dem Bos­po­rus, als zum Güneş, dem Mor­gen­ge­bet, geru­fen wird. Und Istan­bul ver­sinkt wie­der unter die­sem sin­gen­den Schleier.

Früh am Mor­gen. Der erste Çay und hin­aus zur Andacht. Einem aus­geb­li­che­nen Leben auf­lau­ern. Mit­ten in Tar­la­başı treibt es sich rum. Ich betrete eine der Tee­bu­den die mir bekannt ist, in einer der lär­men­den, stei­len Stra­ßen in Tar­la­başı, die so holp­rig sind, stau­big und stin­kend. Der Alte mus­tert mich und lächelt, weil er meint, sich zu erin­nern wer ich beim letz­ten Mal war.

 

 

Ich sitze vor sei­ner Bude als hätte ich alle Zeit der Welt geerbt. Wim­pel wehen im Wind: Lila, Grün, Gelb, Rot. Sie ver­de­cken die aktu­el­len Blau­töne des Him­mels und hän­gen dort oben wie Dra­chen, die an einem Faden fest­ge­bun­den wur­den, aber weit weg wol­len, vom Wind getrie­ben. Als woll­ten sie einen anstif­ten, sie gerade heute – schau, oh schau, die­ser per­fekte Tag! – stei­gen zu las­sen. Nach­dem ich wie an jedem Mor­gen aus­gie­big in den Him­mel sehe, schaue ich der Katze nach, eine gold­ge­streifte, die am Bord­stein her­um­streicht, bis sie über­mü­tig ste­cken­bleibt, zwi­schen den Metall­stä­ben eines geöff­ne­ten Fens­ters. Wei­ter­zie­hen, blei­ben. Plötz­lich packt mich das Gefühl, auf mein eige­nes Leben zu blicken.

Vor einem ande­ren Tee­haus ver­schwen­den Män­ner ihre Zeit, als müss­ten sie dafür nichts bezah­len. Der Qualm ver­fängt sich in ihren dich­ten schwar­zen Bär­ten. Andere eilen den Hügel hin­auf oder hinab. Über­all ver­las­sene Häu­ser, Rui­nen. Tages­schim­mer bricht durch ihre Rit­zen. Auf einem Fens­ter­sims trot­zig zwei Kübel, die Blu­men darin blü­hen. Otto­ma­nen-Häu­ser mit Hol­zerker und ohne Glas in den Rah­men stem­men sich gegen den Rauch der Zeit. Krumme Kis­ten, Schul­ter an Schul­ter mit frisch gestri­che­nen Fas­sa­den, schmal, wie hoch­kant gestellte Schuhkartons.

Die Roma-Kin­der rut­schen gemein­sam mit den Syrern in Papp­kar­tons die gegen­über­lie­gende Gasse her­un­ter. Sie lachen so unbe­schwert, wie es nur Kin­der kön­nen. Als ein hupen­des Hoch­zeits­auto vor­bei­kommt, kral­len sich einige an den Tür­grif­fen fest, andere hän­gen über der Front­scheibe. Auf der Straße ein ver­lo­re­ner Schuh. Ein Mann der ihn auf­hebt. Müt­ter schie­ßen aus geöff­ne­ten Fens­tern mit Befeh­len. Kin­der im Schlaf­an­zug, der Stoff aus Nicki. Die Gesich­ter so schmut­zig wie ihre nack­ten Füße.

 

 

Der Schuh­put­zer war­tet auf Kund­schaft und poliert gerade zum drit­ten Mal seine blen­den­den Schuhe. Mecha­nisch ver­ge­wis­sert er sich der Voll­zäh­lig­keit der 33 Per­len an der Tas­bih. Der Bäcker legt den tau­fri­schen Brot­fla­den zusam­men wie ein wei­ßes T‑Shirt, das frisch aus der Wäsche kommt. Der Zitro­nen­ver­käu­fer ermit­telt die Qua­li­tät sei­ner Ware und streicht sich mit dem Hand­rü­cken über die Lip­pen, aus deren Ecke eine Ziga­rette her­un­ter­hängt. Das Bund Kori­an­der kos­tet eine tür­ki­sche Lira. Die Schaaf­herde. Um die Ecke soll es gestoh­lene Hunde geben. Mein Blick fällt auf Kana­ri­en­vö­gel in schma­len Käfigen.

In einem der Haus­ein­gänge drückt sich seit einer gerau­men Weile eine Gestalt rum. Der Blick ist schwer zu deu­ten. Die Geste nicht. Der Mann winkt mich die Trep­pen­stu­fen hin­un­ter, in sei­nen unter­ir­di­schen Unter­schlupf, wo er mir für wenige Lira noch weni­ger Gramm andre­hen will. Nebenan: Stra­ßen­ver­kauf. Aus dem Kof­fer­raum eines wei­ßen BMW wer­den Waren ver­kauft. Kaum hält der Wagen, steht ein Hau­fen jun­ger Män­ner in schwar­zen Leder­ja­cken davor. Die Män­ner flüs­tern wie auf einer Begräb­nis­feier. Im Boden ver­si­ckert Lin­sen­suppe, die Kat­zen fres­sen die Linsen.

 

 

An der blauen Bar vor­bei – vor der Nachts immer ein Mann in einem roten Abend­kleid prunkt und sich Griffe in den Aus­schnitt gefal­len lässt – schiebt ein alter Mann ver­träumt einen lee­ren Kar­ren auf drei Holz­rä­dern. Es scheint, als schöbe er eine Ladung ver­grif­fe­ner Sehn­sucht vor sich her. Als wolle er noch ein­mal mit sei­nem Mäd­chen tan­zen, bevor die Klänge der Nacht ver­eb­ben. Auf sei­nem Kopf eine Mütze, unter einer beige­far­be­nen Weste wölbt sich der Bauch. Nebenan, der Laden vor dem Por­zel­lan Wasch­be­cken und WC-Sitze auf dem Geh­steig auf­ge­reiht sind wie Gar­ten­zwerge, unschul­dig weiß. Der Tele­fon-Shop ist die Bleibe der ille­ga­len Afri­ka­ner, die ele­gant durch das Vier­tel streifen.

In Tar­la­başı spre­chen sie kaum Tür­kisch. Hier trei­ben die Gekreu­zig­ten. Die Gerich­te­ten und Gemie­de­nen. Hier schlu­cken die Sträf­linge Schreie und ersti­cken nicht an ihren Lüs­ten und Las­tern. Sie trin­ken Çay und erhit­zen ande­ren Stoff. Grie­chen, Arme­nier und Juden beleb­ten Tar­la­başi. Bis 1955 die Pro­grome kamen und alle gehen muss­ten, die einen Gott neben Allah besa­ßen. Die Menge plün­derte das Vier­tel. Häu­ser, Läden, Kir­chen. Nach dem Don­ner erwachte Tar­la­başi wie­der, als aus allen Ecken die ange­spült wur­den, die anderswo ohne Hei­mat waren: Kur­den, Roma und Afri­ka­ner zähl­ten dazu, spä­ter Män­ner in roten Kleidern.

 

 

In den Laut­spre­chern knis­tert es wie­der. Die Laute der Muez­zin hän­gen in der Luft und ich frage mich, wovon sie dies­mal erzäh­len. Wenn man eine Spra­che nicht spricht, wenn man fremd ist, dann wird man immer betro­gen. Und die Nost­al­gie wird dann auf dem Schwarz­markt gehan­delt wie Safran auf Istan­buls Mısır Çarşısı.

Und plötz­lich wurde mir klar, was ich zuvor nie gründ­lich genug begrif­fen hatte, dass ich oft nur eines sicher weiß: Dass ich fort will. Und ich erin­nerte, dass mal einer meinte: Ankom­men ist, wenn man nicht mehr fort will. Und dann dachte ich, dass die Sache mit der Nost­al­gie ja gut ist, weil dann ein Kom­pass mit im Ruck­sack ist, auf dem man able­sen kann, wo man hin will, man merkt was man hat, was man liebt.

 

 

Doch Ebbe und Flut unse­rer Angst blei­ben. Weil ja nichts wirk­lich wie­der­kehrt im Leben. Immer rüt­telt uns der Schmerz, nach­zu­se­hen, ob es wie­der so wird, wie wir es erin­nern wol­len. Ob wir die glei­che Erin­ne­rung tei­len, an das was war. Weil wir immer so has­tig unsi­cher wer­den, mit unse­ren Erin­ne­run­gen, als han­dele es sich bei der Unsi­cher­heit um Blitz­eis. Weil die Welt nie geräu­mig genug scheint für unsere Unzucht.

Wer Flücht­ling ist, weil jede Ver­traut­heit die Bequem­lich­keit anfeu­ert wie eine Koh­len­glut, wer an jedem Moment, am Leben rüt­teln, es bedrän­gen, es zwin­gen muss, um noch ein­mal die­ses berau­schende Gefühl zu spü­ren, leben­dig zu sein, wer unter Sehn­sucht nach Schön­heit lei­det, will sie berüh­ren um berührt zu wer­den, statt nutz­los die Zukunft auszugrübeln.

 

 

Viel­leicht ist es die Zeit, die uns so füh­len, die uns nost­al­gisch wer­den lässt. Viel­leicht die Angst. Unsere Igno­ranz. Viel­leicht aber auch eine Liebe, die mit bren­nen­der Geduld wartet.

Schön, dass du wie­der da bist.

Cate­go­riesTür­kei
Markus Steiner

Es war 2011, als Markus das letzte Mal das dumpfe Klacken der Bürotür hinter sich hörte. Und beschloss Neues zu entdecken. Seitdem ist er in der Welt zu Hause. Markus schrieb 393 Reisetage auf, was er erinnerte und wie, um vom Leben zu erzählen. In seinem Blog vereint er seitdem seine Leidenschaften: Reisen und Schreiben. Markus erzählt Geschichten von unterwegs. Von den Menschen, der Schönheit der Welt und wie es sich anfühlt, in ihr zu reisen und mit ihr zu leben. Schöne Welt.

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