Kola, die letzte Wildnis Europas

Zur gleichen Zeit stöhnen unsere Freunde und Verwandten in der Heimat, 3.500 Kilometer weiter südlich, unter Temperaturen von 30 bis 40 Grad. Doch für uns erscheint Hitze stellenweise wie eine ferne, blasse Erinnerung.

Vor wenigen Tagen haben wir den Polarkreis auf der M18 von Süden kommend überquert. Der Punkt, an dem man den 66. Breitengrad passiert, ist mit einem schlichten Monument neben der Straße gekennzeichnet. In den Bäumen und Sträuchern rings um das Denkmal befinden sich allerlei Gegenstände, die Reisende hier zurückgelassen haben. Neben Aufklebern von diversen Offroadgruppen und Reiseveranstaltern hängen auch Schuhe, Socken und Unmengen an Stofffetzen in den Ästen. Feine Bändchen mit Rüschen wurden um Äste gebunden und flattern leise im Wind. Unter den Bäumen haben Besucher ein wahres Heer an Steinmanderln erschaffen. […]

Die Halbinsel Kola ragt wie eine riesige Nase in Richtung Osten und trennt das Weiße Meer von der Barentssee. […] Zunächst fahren wir am südlichen Rand am Weißen Meer entlang, den sogenannten Terskij-Küstenweg. Die gut ausgebaute Straße zieht sich anfangs wie ein Strich bis zum Horizont. Russland präsentiert sich hier als ein Stück unberührte Natur. Es gibt nur wenige Straßen und Pisten in dieser Gegend, und viele Orte, vor allem im Norden und Osten der Halbinsel, sind nur mit dem Boot zu erreichen. Die Sumpflandschaft ist stets im festen Griff der Stechmücken, die rund um die Uhr sehr saugfreudig sind und überaus zahlreich auftreten. So mancher Aufenthalt im Freien wird zu einer echten Herausforderung. Jenseits der Wege erstrecken sich die für die südliche Halbinsel typischen Fichten- und Kiefernwälder. Endlos scheinen sie sich nach Norden hin fortzusetzen, bis sie irgendwann in Waldtundra übergehen, auf die vielleicht noch kein Mensch zuvor einen Fuß gesetzt hat. Kein Wunder also, dass viele die Halbinsel Kola die letzte wahre Wildnis Europas nennen. Alsbald lässt die Qualität der Straße rapide nach, und bis Umba führt nur ein asphaltierter Schlaglochteppich; danach lassen wir uns auf einer Wellblechpiste aus rotem Lehm weiter bis nach Warsuga durchschütteln. Wege abseits der Hauptstraße sind häufig nicht viel mehr als zwei Fahrrinnen, die direkt in die Sumpflandschaft führen. Beim Wandern wird jeder Schritt von einem lauten Schmatzen begleitet und rasch versinkt man bis zu den Knöcheln in den feuchten Wiesen. Unweit der Straße stoßen wir auf einen steinernen Fluss, ein Überbleibsel aus der Eiszeit. Die riesigen Felsbrocken reihen sich über ein großes Gebiet eng aneinander, überwachsen mit den überall anzutreffenden Flechten, die Rentiere mit Vorliebe verspeisen. […]

Unser Weg führt uns weiter in den Norden. Die Landschaft ist mehr und mehr vom Raubbau gezeichnet, der hier vielerorts an der Natur betrieben wird. Der Reichtum an Bodenschätzen hat auf der Halbinsel Kola dazu geführt, dass die Umweltverschmutzung teils dramatische Züge annimmt. Mancherorts türmen sich die schwermetallbelasteten Abraumhalden haushoch auf. Die Erze werden direkt vor Ort in Kombinaten verhüttet, was zu einer gravierenden Belastung der Luft führt. […]

Als wir in Kirowsk einfahren, hängt der triste, graue Himmel so tief, dass er beginnt, eine Einheit mit dem Rauch zu bilden, der hier und dort aus den Schloten aufsteigt. Unzählige Wohnblocks aus der Sowjetzeit stehen eng aneinandergereiht inmitten der bewaldeten Hänge. Die orthodoxe Kirche am Ortseingang wirkt mit ihren leuchtend roten Mauern und den goldenen Kuppeln auf ihren Türmen wie ein verirrter Lichtfleck inmitten all der Farblosigkeit. Der Regen der letzten Tage hat sich zu riesigen Pfützen in den vielen Schlaglöchern gesammelt. Die teils perfekten Spiegelungen wirken fast wie Pforten zu einer anderen Welt. […]

Aber vermutlich hätten wir auf unserer Reise keinen Abstecher an diesen Ort gemacht, wenn er nicht den Ausgangspunkt für einen Ausflug in die Chibinen darstellen würde. Nach einigem Suchen und mehrmaligem Wenden vor den geschlossenen Schranken der weitläufigen Industriegebiete, finden wir schließlich die richtige Strecke, die uns zunächst nordwärts durch das Kunijok-Tal führt. Und schon nach wenigen hundert Metern scheinen die rauchenden rot-weißen Schornsteine und die Fabrikgebäude vergessen zu sein. Wir befinden uns wieder inmitten einer einsamen Landschaft. Selten liegen unberührte Wildnis und deren Zerstörung so dicht beisammen wie hier im Hohen Norden.

Die Chibinen sind ein fast kreisrundes Gebirge, das von oben betrachtet an den Abdruck eines Pferdehufs erinnert. […] Innerhalb des Gebietes gibt es mit Ausnahme einer kleinen Bergwachthütte keine menschliche Siedlung, und die Gipfel der Berge hören allesamt auf Namen, die der Sprache der Sami entnommen sind. Mit dem Judytschwumtschorr, der 1201 Meter in die Höhe ragt, stellen die Chibinen den höchsten Gipfel der Halbinsel Kola. Der Winter dauert hier gut sieben Monate und auch im kurzen Sommer steigen die Temperaturen selten über 8°C und Frost ist keine Seltenheit.

Zu Beginn führt ein Schotterweg zwischen den Hügeln hindurch, und nach einiger Zeit geht es weiter über das Geröll eines nahezu trockenen Flussbetts. Je weiter wir dem Tal folgen, desto mehr entwickelt sich die Piste zu einer sehr abwechslungsreichen Strecke, stets gesäumt von kleineren Seen und Hügelketten. Und so kommen wir und unser treuer, vierrädriger Begleiter einmal mehr in den Genuss, eine längere Strecke in der Untersetzung zurücklegen zu dürfen und uns durch das matschige Gelände behutsam fortzubewegen.

Da es jenseits des Polarkreises im Juli nicht wirklich dunkel wird, werden wir spätestens von unseren knurrenden Mägen daran erinnert, dass es langsam Zeit wird, einen geeigneten Platz zum Kochen und Übernachten zu suchen. Wobei hier die Kunst eher darin besteht, sich unter all den schönen Orten, die sich rund um das Auto förmlich anbieten, für einen entscheiden zu können. Kurze Zeit später sitzen wir neben einem kleinen Feuer, das unter starkem Rauchen versucht, sich gegen das feuchte Holz zu behaupten. Während unser Atem zarte Dunstschleier vor unseren Gesichtern bildet und unter unseren Nasen das Essen im Topf langsam zu kochen beginnt, lassen wir den Blick über die Hügel schweifen. Es herrscht völlige Stille, und stellenweise zieht das Wetter so zu, dass man die Spitzen der Erhebungen nur noch erahnen kann. Wir würden uns natürlich wünschen, dass ab und zu die Sonne durchbricht und die Umgebung in wärmeres Licht taucht, aber gleichzeitig wollen wir die besondere Stimmung und Atmosphäre nicht missen, die gerade durch den bedeckten Himmel entsteht. […]

Knapp dreißig Kilometer östlich liegt Lowosero, die Hauptstadt der Samen in Russland. Die Samen sind die Ureinwohner des nördlichen Skandinaviens und bezeichnen sich selbst auch als Volk der Sami. Ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet erstreckte sich von Norwegen über Schweden und Finnland bis hier nach Russland, auf die Halbinsel Kola. Die Vorfahren der Samen bevölkerten die kalten Regionen Nordeuropas schon vor über 10.000 Jahren. Waren die Samen früher Nomaden und Rentierzüchter, so wurden sie zu Zeiten der Sowjetunion gezwungen, sesshaft zu werden. Das ist ihnen nicht gut bekommen, wie vielen anderen Volksgruppen auf der Welt, denen eine Lebensweise aufgezwungen wurde, die nicht ihrer Tradition entspricht. […]

Lowosero präsentiert sich in einem traurigen Zustand. Ganze Plattenbauten stehen leer und sind vom Verfall gezeichnet. Zersplitterte Scheiben, zugenagelte Türen und verwaiste Spielplätze sind allerorten anzutreffen. Und an keinem anderen Ort in Russland begegneten uns so viele dem Alkohol verfallene Menschen wie hier. Die Arbeitslosigkeit unter den Sami wird auf 50 Prozent geschätzt, und die Lebenserwartung unter den Männern liegt dank des Alkoholkonsums derzeit bei 44 Jahren. Die Perspektivlosigkeit, die dieses Städtchen ausstrahlt, ist körperlich zu spüren. Heute leben nur noch ungefähr 2000 Samen in Russland und nur wenige von ihnen können wieder ihren Lebensunterhalt mit Rentierherden bestreiten. Es gibt einige, die sich aktiv gegen das Vergessen ihrer Kultur stemmen, und so findet sich ein Kulturzentrum in Form eines Tschum, des klassischen Samen-Zeltes, in ihrer Hauptstadt. Außerdem bringt ein kleines, wunderbar hergerichtetes Museum, betreut von drei netten alten Damen, dem Besucher die Kultur und Geschichte der Sami näher und lässt erahnen, welchem Wandel diese Volksgruppe unterworfen war. Wir wundern uns nicht, dass wir die einzigen Besucher sind. […]

Die Halbinsel Kola ist vielerlei: für die einen unberührte Natur, die zum Wandern einlädt und das Herz eines jeden Freiluftfanatikers höher schlagen lässt; für die anderen, dank der großen Ressourcen an Bodenschätzen, eine wahre Schatzkammer; und wieder andere finden hier heilige Orte und mystische Stätten. Bleibt zu hoffen, dass die Halbinsel auch in Zukunft Heimat der Sami bleibt und ihnen das Leben ermöglicht wird, das sie für sich auswählen.

Die ganze Story in unserem Buch lesen:

Erschienen am



Antwort

  1. Avatar von Baidolu

    Hey ihr habt ver­ges­sen in Teri­ber­ka vor­bei zu schau­en 😉

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