Geschichten vom Straßenrand

Unser Road­trip star­tet in Mada­gas­kars Haupt­stadt Antana­na­ri­vo, 1500 m über dem Mee­res­spie­gel, und führt uns ans Meer, wo die Stra­ße zwangs­läu­fig endet, im 920 km ent­fern­ten Tulear. Dazwi­schen durch­zieht die Rou­te Natio­na­le 7 (kurz RN 7) die Insel wie eine Lebens­ader. Ich set­ze mich in den Starex Klein­bus, der mir bald so ver­traut sein wird, wie mein Stamm­platz auf unse­rer hei­mi­schen Couch. In mir: Neu­gier­de auf die­ses rie­si­ge Land, des­sen Name nur vage Erwar­tun­gen weckt.

Zu einem Road­trip gehört eine Play­list, und unse­re wird von Fanah, der beson­ders ger­ne sei­ne rote Cap­py trägt und oft Wow sagt, vor­ge­ge­ben. Schließ­lich sitzt er die kom­men­den drei Wochen hin­term Steu­er und wird uns sei­ne Hei­mat zei­gen.

Er mag die 80er und so ist unser Sound­track eine Mischung aus A‑Ha, Toto, Madon­na und For­eig­ner. Manch­mal, wenn ihm ein Lied beson­ders gut gefällt, singt er eine Ton­la­ge zu hoch mit.

Mada­gas­kar ist 1,5 Mal so groß wie Deutsch­land. Wir wer­den in den kom­men­den drei Wochen 2410 km zurück­le­gen. Eine Stre­cke, so weit wie von Bre­men nach Lis­sa­bon.

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Tag 3 | Hochland | kurz vor Antsirabe

Wir befin­den uns auf dem Weg von Anda­si­be nach Ant­si­ra­be, der zweit­größ­ten Stadt von Mada­gas­kar. Die RN 7 schlän­gelt sich hin­ter Antana­na­ri­vo die Berg­ket­ten ent­lang, in den Tälern lie­gen Reis­fel­der und ver­ein­zel­te Dör­fer. Die rote Erde über­sät Häu­ser, Pal­men, die Stra­ße: Mada­gas­kars Hoch­land scheint im ewi­gen Son­nen­un­ter­gangs­licht zu lie­gen.

Das zen­tra­le Hoch­land ist die Hei­mat der Meri­na, einem der 18 Volks­stäm­me Mada­gas­kars. Ihre cha­rak­te­ris­ti­schen zwei bis drei­stö­cki­gen Häu­ser bau­en die Meri­na aus selbst­ge­brann­ten Back­stei­nen, die sie aus der schlam­mi­gen Erde nach der Reis­ern­te bren­nen.

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Wir hal­ten zu mei­ner Über­ra­schung an einem Dorf an, bin­nen von Sekun­den ren­nen Kin­der auf uns zu. Schüch­tern tre­te ich her­vor, so recht weiß ich nicht, wie ich mich nun ver­hal­ten soll. Gera­de war ich noch am Tag­träu­men, blick­te aus dem Fens­ter, das Drau­ßen wirk­te auf mich wie ein ein­zi­ges, flie­ßen­des Gemäl­de, ein leben­di­ges Still­le­ben. Ich war noch nicht bereit für eine ech­te Inter­ak­ti­on.

Fanah sagt, was er auf die­ser Rei­se nach „Wow“ am häu­figs­ten sagen wird: „no pro­blem“. Wir lau­fen am Reis­feld vor­bei, die Zebus (Buckel­rin­der) sind von unse­rem Auf­tritt unbe­ein­druckt. Eine älte­re Frau mit einem Säug­ling auf dem Arm begrüßt uns, sie zeigt uns einen klei­nen Stall, in dem ein Baby­ze­bu lebt. Dar­über raucht es aus dem Fens­ter, wir wer­den her­ein­ge­be­ten. Das Inne­re des Hau­ses ist erstaun­lich kühl und dun­kel, das Ober­ge­schoss besteht aus zwei klei­nen Räu­men, in jedem steht ein Dop­pel­bett. Ein Kalen­der der Bank of Afri­ca von 2014 hängt an der Wand, im Monat Mai auf­ge­schla­gen. Ich läch­le, immer noch unsi­cher, was ich hier gera­de eigent­lich mache.

Der klei­ne Raum, aus des­sen Fens­ter es dampft, ist die Küche: auf dem Feu­er köchelt Kaf­fee im gro­ßen Alu­mi­ni­um­topf, getrock­ne­te Mais­kol­ben hän­gen an der Wand. Ich muss hus­ten, mei­ne Augen bren­nen, und ich fra­ge mich, wie man bei dem Qualm ein gan­zes Mahl kochen kann.

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Drau­ßen über­setzt Fanah für uns: Die Dör­fer der Meri­na bestehen aus nur einer Fami­lie, die Men­schen leben vom Reis­an­bau und dem Ver­kauf von Sisal­pro­duk­ten. Wenn jemand hei­ra­tet, baut man ein neu­es Haus, bestellt gemein­sam die Fel­der, zieht die Kin­der zusam­men groß. Und Kin­der hat man vie­le: Die Fer­ti­li­täts­ra­te liegt bei 4,35 Kin­dern pro Frau (vgl.: Deutsch­land 1,5). Die Zebus sind das Wert­volls­te, was die Men­schen auf dem Land besit­zen: Ein Zebu kos­tet immer­hin zwi­schen 120 und 300 Euro.

„The Zebu is the bank of the vil­la­ge peo­p­le.“

Ent­spre­chend lukra­tiv ist der Raub von Zebus. Spä­ter wird mir auf­fal­len, dass eini­ge Zebu­be­sit­zer Waf­fen tra­gen („For secu­ri­ty- the­re are many Zebu gangs­ter“).

Ein paar Kin­der begut­ach­ten neu­gie­rig mei­ne Kame­ra und begin­nen, zu posie­ren. Ich bin unsi­cher. Jetzt kein Foto zu machen fühlt sich spiel­ver­der­be­risch an. Ich mache ein Bild und rufe die Kin­der zu mir. Sie gluck­sen laut­hals los, als sie ihr Abbild auf dem Screen sehen. Drei Wochen spä­ter wer­de ich das Foto Fanah sen­den, damit er einen Abzug der Fami­lie über­gibt. Viel­leicht hängt es dann an der Wand neben dem Kalen­der. Der Gedan­ke rührt mich.

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Bevor wir uns ver­ab­schie­den, fragt eine Frau nach etwas Geld. Für Schul­ma­te­ri­al der Kin­der. Ich bin dar­über nicht über­rascht, eini­ge Minu­ten vor­her flüs­ter­te ich bereits Ste­fan zu: „Meinst Du, wir soll­ten der Fami­lie etwas Geld geben? Ist das unhöf­lich oder soll­te man das machen?“

Wir geben der Frau etwas Geld, schließ­lich ließ man uns in das eige­ne Haus, wir erfuh­ren vom All­tag auf dem Land. Trotz­dem lässt mich die Situa­ti­on auch Tage spä­ter nicht los. Wie ste­he ich zu die­ser Art des Aus­tauschs und der Begeg­nung? War es falsch, der Fami­lie Geld zu geben? Ist das ver­werf­li­cher Armuts­tou­ris­mus?

Armut und Tourismus

Spä­ter fra­gen wir einen loka­len Rei­se­agen­tur­be­sit­zer, der sich auch mit nach­hal­ti­gem Tou­ris­mus befasst, zu unse­rem Stopp im Meri­na-Dorf. Ich berich­te von mei­nem Unbe­ha­gen, mei­nen Sor­gen. Er fasst es so zusam­men:

„I sup­port entre­pre­neur­ship. The­re are fami­lies who are not open or too shy to inter­act with for­eig­ners. This fami­ly for exam­p­le has the skill to do so and they earn a litt­le money through hos­ting tou­rists. It is a way to earn a litt­le extra money. And if they don’t like doing it, they don’t have to.“

Betrach­tet man es von der markt­wirt­schaft­li­chen Sei­te liegt die Situa­ti­on recht klar auf der Hand: Da ist die Nach­fra­ge nach einem Dorf­be­such und die­se Fami­lie bie­tet eben das „Pro­dukt“ an.

Mein Unbe­ha­gen resul­tiert aus dem glo­ba­len Kon­text her­aus: Ich bin weiß, mein Pass ermög­licht es mir, in bei­na­he jedes Land die­ser Welt zu rei­sen. Oft den­ke ich auf Rei­sen: Man, hat­te ich Glück! Glück, in Deutsch­land gebo­ren zu sein: Kos­ten­lo­se Bil­dung, ein staat­li­ches, funk­tio­nie­ren­des Gesund­heits­sys­tem, auf­wach­sen in Frie­den. (Soll nicht hei­ßen, hier­zu­lan­de ist alles tut­ti- die sozia­le Mobi­li­tät in Deutsch­land ist grot­tig, die hohe Kin­der­ar­mut skan­da­lös, aber es wird alles rela­tiv, wenn man unse­ren Lebens­stan­dard glo­bal ver­gleicht). Es gibt nicht vie­le Orte auf die­ser Welt, wo ein mit­tel­lo­ses Arbei­ter­kind wie ich einen Uni­ver­si­täts­ab­schluss schaf­fen kann. Wäre das hier auf Mada­gas­kar mög­lich? Wahr­schein­lich nicht.

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Rasant springt mich die Armut auf Mada­gas­kar an: In der Haupt­stadt Antana­na­ri­vo und auch sonst wer­den wir schnell von Kin­dern, die teil­wei­se sel­ber Babys tra­gen, beglei­tet. Man­che fra­gen direkt nach Money, ande­re ver­kau­fen Klei­nig­kei­ten. Die Kri­mi­na­li­tät in der Haupt­stadt ist hoch, nach Ein­bruch der Dun­kel­heit fährt auch Fanah ungern durch die Stadt. Zu groß ist die Gefahr, Opfer eines Über­falls zu wer­den. Nach dem Mili­tär­putsch 2009 brach mit der Regie­rung die Wirt­schaft ein, inter­na­tio­na­le Finanz­mit­tel wur­den abge­zo­gen: Heu­te leben über 90% der Bevöl­ke­rung von unter 2 USD pro Tag. Mada­gas­kar gehört zu einem der sie­ben hung­rigs­ten Län­dern welt­weit. Die Alpha­be­ti­sie­rungs­ra­te liegt bei nur 65%, Zugang zu sau­be­rem Was­ser haben nur weni­ge Mada­gas­sen. Wäh­rend wir auf Mada­gas­kar unter­wegs sind, bricht die Pest aus. Um die Seu­che zu bekämp­fen, braucht Mada­gas­kar inter­na­tio­na­le Hil­fe.

All das sind Sta­tis­ti­ken, Zah­len, Fak­ten. Es mag banal klin­gen: Sie zu lesen, ist leich­ter, als mit den eige­nen Augen zu sehen, was sie bedeu­ten.

Tag 6 | Dorffotografin | Ambalavao

Wir hal­ten in einem klei­nen Ort, um ein wenig Pro­vi­ant zu kau­fen. Etwas ober­halb der Stra­ße steht eine klei­ne Kir­che, dane­ben ein Gebäu­de, das wohl sowas wie das Orts­amt sein muss. Wir ver­tre­ten uns die Bei­ne, wäh­rend Fanah schon voll in sei­nem Ele­ment ist: Ino­na vao­vao? (was gibt’s Neu­es?) – er sagt das immer so, als erfah­re er gera­de eine unglaub­li­che Neu­ig­keit. Sowas wie, „was du hast im Lot­to gewon­nen??“ Sei­ne 56 Jah­re sieht man ihm nicht an: „Don’t think about the pro­blems“ fasst er sei­ne Lebens­phi­lo­so­phie zusam­men. Fanah hat eine Gabe: Er ver­brei­tet gute Lau­ne, er juxt her­um, er ist ein per­so­ni­fi­zier­ter ice­brea­k­er.

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Mir fehlt oft die­se Leich­tig­keit, mein Hirn rat­tert per­ma­nent, und da komm‘ ich nur lang­sam raus. Auf Rei­sen, wo mir Rou­ti­ne fehlt, Neu­es auf mich ein­pras­selt, feu­ern mei­ne Syn­ap­sen, ein regel­rech­tes Gedan­ken­feu­er­werk explo­diert. Äußer­lich bin ich dann umso ruhi­ger, Ste­fan kennt das schon: Mei­nen geis­tes­ab­we­sen­den Blick, ner­vö­ses Pulen an mei­nen mitt­ler­wei­le unan­sehn­li­chen Dau­men (eine schlech­te Ange­wohn­heit seit mei­ner Kind­heit), kar­ge Ant­wor­ten. Meist sage ich nur noch Lau­te. Hm.hm.

Die Ver­käu­fe­rin­nen auf dem klei­nen Markt wer­den jetzt gesprä­chig; ob wir Fotos machen könn­ten? Fanah ver­spricht, die Fotos bei sei­ner nächs­ten Tour mit­zu­brin­gen, und so wer­den wir kurz­wei­lig die Dorf­fo­to­gra­fen und lich­ten diver­se Men­schen ab.

Jedes Mal, wenn ich ein Foto mache, umrin­gen mich die Bei­ste­hen­den. Alle star­ren dann auf mein Dis­play, um anschlie­ßend in prus­ten­des Lachen aus­zu­bre­chen. Ich füh­le mich wohl, anschei­nend mache ich die­sen Men­schen gera­de eine ech­te Freu­de.

Wir kau­fen Erd­nüs­se und säu­er­li­che Woll­mis­peln bevor wir unse­re Rei­se fort­set­zen. Die­se Frau­en haben mit mir etwas gemacht: Mir ein gutes Gefühl gege­ben, mich herz­lich ange­nom­men. Eine Frau sagt lachend zu Fanah über mich: „She dres­ses like a Mala­g­asy women.“

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Tag 7 | „How often do you hallow yourself?“

Ste­fan und ich ste­hen am Stra­ßen­rand, irgend­wo in Amba­la­vao, Fanah kauft sich Han­dy-Gut­ha­ben. Er tele­fo­niert viel mit sei­nen sechs Kin­dern.

Schüch­tern tritt ein jun­ges Mäd­chen an Ste­fan her­an, ihre lan­gen Flecht­zöp­fe lie­gen akku­rat auf ihren Schul­tern. Die 15-Jäh­ri­ge möch­te ein wenig Eng­lisch mit uns reden, da sie gera­de einen zwei­mo­na­ti­gen Eng­lisch­kurs in Amba­la­vao macht.

„How often do you pray?“ fragt sie Ste­fan. Als er erwi­dert, dass er nicht betet, ist sie irri­tiert. Mit gro­ßen Augen starrt sie ihn an, als habe er gera­de etwas völ­lig Absur­des gesagt, etwa: er trin­ke kein Was­ser oder schla­fe nie. Ihre nächs­te Fra­ge ver­ste­hen wir zuerst nicht: „How often do you hal­low yours­elf?“ (Wie oft weihst Du Dich?).

Auf Mada­gas­kar ist etwa die Hälf­te der Bevöl­ke­rung christ­lich. In vie­len Dör­fern sehen wir Kir­chen, die im Ver­gleich zu den Häu­sern der Bevöl­ke­rung robust gebaut sind. Wie in vie­len ehe­ma­li­gen Kolo­ni­al­län­dern hat sich das Chris­ten­tum mit dem indi­ge­nen Glau­ben ver­mischt. Auf Mada­gas­kar wer­den die Ahnen ver­ehrt und in vie­len Stäm­men haben Fady (Tabus) eine hohe Rele­vanz.

Fady sind Ver­bo­te und Gebo­te, die das täg­li­che Leben regeln, ein kom­ple­xes, umfang­rei­ches Sys­tem infor­mel­ler Regeln. In etwa: mit dem Fin­ger auf einen Berg zu zei­gen, ist fady (also Tabu), da sich hier oft Grä­ber befin­den. An gewis­sen Orten ist das Essen von Schwei­ne­fleisch oder Knob­lauch fady. Auch das Töten oder Ver­let­zen eines Indri Indri (einer Lemu­ren­art) ist fady.

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Tag 11| Das Flirren der Wüstenluft

Hin­ter dem Isa­lo Natio­nal­park enden die Ber­ge abrupt. Wir fah­ren stun­den­lang durch fla­ches, wüs­ten­ar­ti­ges Land. Ich war­te sehn­süch­tig auf das Meer, wel­ches irgend­wann am Hori­zont auf­tau­chen wird. Doch bevor wir an der Stra­ße von Mosam­bik ankom­men, ver­wan­delt sich Mada­gas­kar in eine stau­bi­ge Wüs­te. Dor­nen­kak­teen und nack­te Sträu­cher ste­hen wie Ske­let­te umher, unser Ther­mo­me­ter zeigt 39 Grad Außen­tem­pe­ra­tur. Im Wagen sind es 46 Grad. Ich spü­re, wie die Son­ne mei­nen Arm ver­brennt. Die Luft flirrt in der Fer­ne.

Unglaub­li­cher­wei­se leben Men­schen auch hier, in die­sem tro­cke­nen, unwirt­li­chen Raum. Stein­häu­ser sehen wir nur noch sel­ten, die meis­ten Hüt­ten bestehen aus getrock­ne­ten Pal­men­blät­tern. Plötz­lich erscheint mir das Dorf der Meri­na luxu­ri­ös, dort gab es Was­ser, Reis­fel­der, robus­te Stein­häu­ser. Die Men­schen konn­ten Mani­ok und Mais anbau­en. Rei­ßen­de Flüs­se durch­zo­gen die Täler.

„Wovon leben die­se Men­schen?“ fra­ge ich mich unent­wegt, wäh­rend wir durch die­se men­schen­feind­li­che Land­schaft fah­ren. Uns kom­men vie­le Men­schen ent­ge­gen, zu Fuß, auf ros­ti­gen Fahr­rä­dern, die Wohl­ha­ben­den sit­zen auf Zebu­kar­ren. Alle tra­gen gel­be Kanis­ter, um Was­ser zu holen. Auch wenn das jetzt pathe­tisch klin­gen mag: In die­sem Moment stel­le ich mir die Fra­ge, war­um es im Jah­re 2017 nicht mög­lich ist, dass jeder Mensch welt­weit zumin­dest Zugang zu sau­be­rem Was­ser hat.

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Tag 12 | Das Ende der Straße: Ifaty

Nach rund 1200 km on the road errei­chen wir das Meer, wo wir für ein paar Tage zur Ruhe kom­men. Hier in Ifa­ty gibt es nicht viel: Ein klei­nes Fischer­dorf, den Strand, ein paar Pal­men. Und unse­re Bun­ga­lows. Wir nut­zen die drei Tage zum Wäsche­wa­schen, schrei­ben, lesen und in der Son­ne lie­gen.

Mor­gens ist das Meer glatt, die Mor­gen­rö­te legt den Him­mel in ein dezen­tes, schüch­ter­nes oran­ge. Die Piro­gen (tra­di­tio­nel­le Boo­te) his­sen ihre Segel und eine gan­ze Arma­da von Fischer­boo­ten zieht hin­aus aufs Meer. Am Hori­zont sehe ich ein wei­ßes Band, schaum­ge­krön­te Wel­len, die auf das vor­ge­la­ger­te Riff hin­wei­sen.

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Wir tei­len die­sen Strand nur mit den Frau­en, die Waren gra­zil auf ihrem Kopf trans­por­tie­ren, und manch­mal sin­gend an unse­rem Bun­ga­low vor­bei­lau­fen. Oft schau­en mich die Frau­en kurz an, dann win­ke ich und sie win­ken zurück.

An einem Vor­mit­tag fol­gen wir den zurück­keh­ren­den Fischer­boo­ten, die etwa 2km von uns ent­fernt im Dorf anle­gen. Wir sind die ein­zi­gen Tou­ris­ten auf wei­ter Flur. Das har­te Licht der im Zenit ste­hen­den Son­ne wirft schar­fe Kon­tras­te. Eini­ge Kin­der wei­chen uns nicht von der Sei­te, zwei fre­che Bur­schen machen sich einen Spaß draus, mich von hin­ten anzu­ti­cken. Ein Mäd­chen fragt uner­müd­lich nach mei­nem Haar­band. Ein Mann kommt auf uns zu und pro­biert uns einen Hum­mer zu ver­kau­fen. Ste­fan fragt, ob ich umkeh­ren möch­te. Vor eini­gen Tagen wäre ich ver­mut­lich direkt umge­dreht, sol­che been­gen­den Situa­tio­nen über­for­dern mich. Aber nun möch­te ich ein wenig blei­ben.

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Wäh­rend wir uns unse­ren Weg bah­nen, betrach­te ich die Sze­ne etwas dif­fe­ren­zier­ter. Dut­zen­de Fischer­boo­te keh­ren ein und ver­la­den ihren Fang. Ich sehe Frau­en, die Fisch aus tie­fen Sisal­kör­ben ver­kau­fen. Dazwi­schen meh­re­re Fuß­ball­fel­der, direkt in den Sand gezeich­net. Im Sla­lom wei­chen wir den enthu­si­as­ti­schen Spie­lern aus. In der Bran­dung spie­len Kin­der mit ihren selbst­ge­bau­ten Segel­boo­ten. Klei­ne Meis­ter­wer­ke der Phy­sik, die fili­gran über die seich­ten Wel­len hüp­fen.

Tag 15 | on the road again

Nach Mada­gas­kar rei­sen vie­le Tou­ris­ten wegen der ein­zig­ar­ti­gen Natur. Vie­le Tie­re sieht man nur hier, allen vor­an die Lemu­ren. Feuch­ter Regen­wald, bizar­re Berg­ket­ten, dür­re Wüs­ten: Mada­gas­kar hat das alles.

Für mich sind es trotz­dem die Begeg­nun­gen mit den Men­schen, die mich nach­hal­tig beein­dru­cken. Wir tref­fen zwar als Indi­vi­du­en auf­ein­an­der, doch wir sind alle auch Teil des gro­ßen Gan­zen: Das Ver­hält­nis zwi­schen glo­ba­lem Nor­den und Süden, Kolo­nia­lis­mus und sei­ne Spät­fol­gen, Natur­schutz, nach­hal­ti­ger Tou­ris­mus. Jede Begeg­nung regt etwas in mir an, ich möch­te mehr ler­nen, Ant­wor­ten auf mei­ne Fra­gen suchen.

Vor uns lie­gen noch­mals 1200 km auf der RN7, dies­mal gen Nor­den. Mein Unbe­ha­gen hat sich mitt­ler­wei­le in vie­le Fra­gen gewan­delt. Und Moti­va­ti­on. Denn dar­um rei­se ich: Um mir die Welt in ihrer Gän­ze anzu­se­hen. Mit all ihrer bru­ta­len Schön­heit. Orte zu mei­den, ist für mich kei­ne Lösung. Das ist so, wie nicht mehr zu kom­mu­ni­zie­ren, nur, weil es unbe­quem wird.

Mehr noch: Genau dar­um geht es doch beim Rei­sen. Es geht dar­um, sich die Welt anzu­se­hen, und sie ist nir­gends nur schwarz oder weiß.

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Madagaskar: was bleibt…

Mada­gas­kar ist Natur, Lemu­ren, Regen­wald, beein­dru­cken­de, wei­te Aus­bli­cke über rote Sand­stein­fel­sen. Men­schen, die mich anlä­cheln und mir win­ken. Kin­der, die am Stra­ßen­rand im Nir­gend­wo nach Trink­geld fra­gen, weil sie Schlag­lö­cher pro­vi­so­risch mit Sand gefüllt haben. Frau­en, die schwe­re Waren federnd auf ihrem Kopf trans­por­tie­ren. Tau­sen­de von Zebus, die im leuch­ten­den Abend­rot am Ran­de der RN 7 lau­fen. Gui­des, die mit Hin­ga­be kom­pli­zier­te latei­ni­sche Namen von tro­pi­schen Pflan­zen und Tie­ren nen­nen, obwohl ich mir das alles gar nicht mer­ken kann. Ich hat­te doch nie Latein! Bun­te Piro­gen tan­zend auf wil­dem Meer. Die Toi­let­ten­da­me am Flug­ha­fen von Antana­na­ri­vo, die inbrüns­tig ein melan­cho­li­sches Lied singt. Ein­fach so. Ein Mäd­chen, dass mir über­ra­schend in die Augen blickt, und mich anschaut, als sei ich von einem ande­ren Stern. Eine alte Dame namens Lis­sy, die unbe­dingt ein Foto von sich und ihrem Sohn in ihrem klei­nen Laden­fens­ter haben möch­te. Eine zahn­lo­se Rei­ni­gungs­da­me, die mir mei­ne Hand küsst, als ich ihr ein klei­nes Trink­geld gebe. Mei­ne Trä­nen danach, weil ich damit nicht klar­kom­me. Men­schen, mit denen ich lache, weil ich drei Wör­ter mada­gas­sisch spre­che und alles fürch­ter­lich falsch sage. Fanahs zuver­läs­si­ger Lach­an­fall, wenn Ste­fan schar­fes Sakay (Chil­li­pas­te) auf sein Essen gibt, um den spi­cy­ness­grad zu bestim­men.

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War der Besuch des Meri­na-Dor­fes voy­eu­ris­ti­scher Armuts­tou­ris­mus? Mitt­ler­wei­le ist die­se Fra­ge für mich nicht mehr zen­tral.

Was wirk­lich zählt, ist wie man auf­ein­an­der zugeht, egal in wel­chem Kon­text. Auf Augen­hö­he, offen, vor­ur­teils­frei und mit Respekt. Als Indi­vi­du­en eben, die sich das ers­te Mal begeg­nen, neu­gie­rig und wohl­wol­lend.

Das wird die Welt nicht sofort zu einer Bes­se­ren machen. Aber es ist ein Anfang.

Offen­le­gung: Unser Road­trip durch Mada­gas­kar wur­de von Erle­be-Fern­rei­sen unter­stützt. Lie­ben Dank an Chris­ti­na vom Mada­gas­kar-Team für die kom­pe­ten­te Bera­tung und an Julia für ihre Engels­ge­duld bei all unse­ren Fra­gen!


Antworten

  1. Avatar von Miss Ellie

    Sehr schö­ner Rei­se­be­richt, macht rich­tig Lust den Ruck­sack zu packen

  2. Avatar von Joshua
    Joshua

    Was für eine wahn­sin­nig schö­ne Geschich­te! So ver­brin­ge ich am liebs­ten einen son­ni­gen Sonn­tag. Und die Bil­der sind der Wahn­sinn! Bit­te unbe­dingt einen Online-Shop ein­rich­ten, indem man die Fotos kau­fen kann!

    Wei­ter so!

    1. Avatar von Joshua
      Joshua

      Ergän­zung: Mit wel­cher Aus­rüs­tung habt ihr die Fotos geschos­sen? Ich glau­be auf sol­chen Rei­sen wäre eine Pola­roid-Kame­ra wich­tig. Dann kann man den Men­schen das Bild sofort in die Hand drü­cken, sie damit glück­lich machen und wis­sen, dass man für immer einen Platz in ihren Her­zen und Erin­ne­run­gen haben wird.

    2. Avatar von Aylin

      Hey Joshua,

      vie­len Dank für Dei­nen Kom­men­tar- schön, dass Dir mei­ne Fotos gefal­len 🙂 Ja, eine Pola­roid hät­ten wir tat­säch­lich gut ver­wen­den kön­nen, aber lei­der hat­ten wir kei­ne dabei. Trotz­dem hof­fe ich, dass unse­re Dru­cke im Nach­gang eben­falls bei den Leu­ten eine schö­ne Erin­ne­rung sind.

      Zur Aus­rüs­tungs­fra­ge: Ich foto­gra­fie­re mit einer Nikon D3300 und oft 50mm Fest­brenn­wei­te (1.8), eini­ge Bil­der sind aber auch mit einem 18–105mm bzw. 70–300mm Tam­ron ent­stan­den…

      Lie­be Grü­ße
      Aylin

  3. Avatar von Heiko Gärtner

    So schö­ne Bil­der habe ich schon lan­ge nicht mehr auf einem Rei­se­blog gese­hen. Du hast mich sehr inspi­riert. Dan­ke dafür. Mada­gas­kar steht nun auf jeden Fall auf mei­ner Lis­te.

    Herz­li­che Grü­ße

    Hei­ko

    1. Avatar von Aylin

      Hey Hei­ko,

      das freut mich sehr! Mada­gas­kar ist auf jeden Fall min­des­tens eine Rei­se wert 🙂 Wir haben übri­gens einen Arti­kel zur Rei­se­pla­nung auf unse­rem Blog geschrie­ben, falls Du kon­kre­te Tipps suchst…

      Lie­be Grü­ße
      Aylin

  4. Avatar von Susanna Bollmann

    Wow, also so gute Bil­der habe ich schon lan­ge nicht mehr gese­hen! Man­che davon wür­de ich mir am liebs­ten aus­dru­cken und ein­rah­men 😀

    LG
    Susan­na
    http://www.cocoandsun.com/

    PS: Viel­leicht eine Idee? Eure Bil­der online ver­kau­fen? 🙂

    1. Avatar von Aylin

      Lie­be Susan­na,

      Dan­ke­schön- Mada­gas­kar hat ein­fach sehr beein­dru­cken­de Sze­nen, ich habe sel­ten so ger­ne foto­gra­fiert. Umso schö­ner, wenn man das auch den Fotos am Ende ansieht 🙂
      Online Fotos zu ver­kau­fen ist sicher ein har­tes Brot, aber viel­leicht machen wir mal ein Best of zum Erwerb- zu Weih­nach­ten wäre das sicher was 🙂

      Lie­be Grü­ße
      Aylin

  5. Avatar von Johan Kruger
    Johan Kruger

    Your sto­ry is poet­ry and your pho­tos are pure magic. Thank you for sha­ring them.

    1. Avatar von Aylin

      Hey Johan,

      Thanks a lot! Mada­gas­car is such a pic­tures­que coun­try, it is hard to not take beau­tiful pic­tures.

      Che­ers
      Aylin

  6. Avatar von Lisa
    Lisa

    Vie­len lie­ben Dank für die­sen berüh­ren­den und schö­nen Bericht! Er ist so ganz anders als die meis­ten Rei­se­be­rich­te, weil du von den Begeg­nun­gen mit den Men­schen berich­test und nicht von einer Auf­lis­tung von Sehens­wür­dig­kei­ten (die dort ja vor allem in der Natur wun­der­schön sein sol­len). Ganz tol­ler Bericht!
    Lie­be Grü­ße Lisa

    1. Avatar von Aylin

      Lie­be Lisa,

      vie­len Dank- das geht ja run­ter wie Öl 🙂

      Alles Gute & lie­be Grü­ße
      Aylin

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