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Ganz entspannt in Montevideo

Eines Mor­gens wache ich auf und das Wort „Mon­te­vi­deo“ liegt mir noch auf der schlaf­trun­ke­nen Zunge. ‚Mon­te­vi­deo. Ich muss unbe­dingt ein­mal nach Mon­te­vi­deo’ denke ich und gleich dar­auf: wo zum Teu­fel liegt das?’

 

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Wenige Wochen spä­ter sitze ich auf der Ter­rasse eines Café’s mit­ten in der Alt­stadt von Mon­te­vi­deo, Haupt­stadt von Uru­guay. Das Land hatte ich auf der Welt­karte kaum aus­ma­chen kön­nen. Win­zig klein liegt es zwi­schen den bei­den Gigan­ten Bra­si­lien und Argen­ti­nien. Des­we­gen habe ich es auf mei­nen zahl­rei­chen Latein­ame­ri­ka­rei­sen wohl immer über­se­hen und musste erst davon träu­men bevor ich es besuche.

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Ich laufe durch die Stra­ßen, vor­bei an maro­den Häu­ser­fas­sa­den und fühle mich ein wenig wie in Havanna. Es weht ein Hauch von gemäch­li­cher Ver­gan­gen­heit durch die Gas­sen der Alt­stadt und von über­all sieht man das Meer. Mal ist es rechts, mal links, mal gera­de­aus. Denn die Alt­stadt liegt da wie eine Halb­in­sel. Bäume in ver­win­kel­ten Stra­ßen spen­den Schat­ten, Plätze mit Cafes und klei­nen Floh­märk­ten laden zum Ver­wei­len ein. Aber nur, wenn das Kreuz­fahrt­schiff kommt. Sonst herrscht hier Dornröschenschlaf.

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Gäbe es einen Preis für die ent­spann­teste Groß­stadt in Latein­ame­rika, Mon­te­vi­deo hätte ihn sicher. Die Uhren ticken lang­sam, wenn über­haupt. Nie­mand rennt oder stresst sich. Autos hal­ten am Zebra­strei­fen; ja, sie hal­ten sogar ohne Zebra­strei­fen wenn Fuß­gän­ger über die Straße wol­len. Das Trink­was­ser ist rein und zum ers­ten Mal esse ich in Süd­ame­rika völ­lig unge­straft kna­ckige Salate, Smo­thies, Eis und andere unge­koch­ten Lecke­reien. Ohne hin­ter­her das Nach­se­hen zu haben. Mein Darm regt sich weder auf noch macht er dicht. Er ist, so wie die­ses Land, völ­lig entspannt.

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Am nächs­ten Mor­gen laufe ich am Meer ent­lang zum Strand nach Poci­tos, vor­bei an unauf­ge­reg­ten Leu­ten, die auf der Kai­mauer sit­zen und Mate trin­ken. Vor, zwi­schen oder nach der Arbeit. Der Uru­gu­ayer scheint die Per­so­ni­fi­zie­rung von Ruhe zu sein. Jeder ist wie er ist, nie­mand scheint sich um Mode oder Gad­gets zu sche­ren. Man(n) trägt bequeme Schuhe oder Flip­flops, lockere Hosen, gerne halb­lang oder kurz, ein ein­fa­ches T‑Shirt oder Hemd dazu. Krava­tten sind Exo­ten in Montevideo.

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Kein Wun­der eigent­lich. Der bis März 2015 amtie­rende Prä­si­dent Pepe Mujica hat sich ganz offi­zi­ell als Krava­tten­has­ser geoutet, trägt San­da­len, wohnt in sei­nem klei­nen beschei­de­nen Lehm­häuss­chen, fährt einen uralten hell­blauen VW-Käfer und gibt über 80% sei­nes Ein­kom­mens an soziale Ein­rich­tun­gen und poli­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen ab. Der Ex-Gue­ril­lero bezeich­net sich gerne selbst als „Erd­klum­pen mit zwei Füs­sen“ und liebt es in sei­nem Gar­ten zu buddeln.

Abge­se­hen von der unspek­ta­ku­lä­ren Klei­dung trägt der Uru­gu­ayer in der lin­ken Arm­beuge aus mir zunächst uner­find­li­chen Grün­den eine Ther­mos­kanne und in der rech­ten Hand einen Mate-Krug. Viel­leicht , denke ich, ist heute der Tag der Ther­mos­kanne oder so was? Ich frage einen Uru­gu­ayer am Kai. Ohne eine Mine zu ver­zie­hen ant­wor­tet er, die uru­gu­ay­ischen Babys wür­den mit einer klei­nen Ther­mos­kanne in der lin­ken Arm­beuge gebo­ren. Wenn nicht, wäre es kein Baby aus Uru­guay. Spä­ter, wenn aus dem Baby ein Jugend­li­cher gewor­den ist, braucht er die Ther­mos­kanne näm­lich um Mate zu trin­ken. Von nun an trägt er links die Ther­mos­kanne und in der rech­ten Hand eine Kala­basse mit einem metal­le­nem Stroh­halm und dem anre­gen­den Mate­kraut. Jetzt wird mir auch klar warum bei 34 Grad Hitze an den Kios­ken ein Schild hängt: ‚Hier hei­ßes Was­ser’. Tat­säch­lich brau­chen alle jeder­zeit Nach­schub für ihren Mate, egal ob im Bus, zu Fuß, auf dem Weg zur Uni, zum Strand oder zur Arbeit, ob jung oder alt. Zeit für Mate ist immer.

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Die zweite Liebe des Uru­gu­ay­ers gilt –ich spre­che nicht vom Fuß­ball, denn das ist mehr als Liebe- dem Fleisch. Fleisch in allen Varia­tio­nen, vom Rind, vom Schaf und am liebs­ten vom Grill oder aus dem eige­nen Ton-Ofen im Gar­ten und vor allem in rauen Men­gen. Es ver­geht kein Tag an dem der Uru­gu­ayer nicht Fleisch isst. Von glück­li­chen Rin­dern die ihr Leben auf fet­ten, grü­nen Wie­sen und in sal­zi­ger Mee­res­luft ver­bracht haben. 12 Mil­lio­nen Kühe auf 3 Mil­lio­nen Ein­woh­ner: da kann man schon was wegputzen.

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Beson­ders lus­tig ist des­halb fol­gende Bege­ben­heit, die ich in einem der öffent­li­chen Stadt­busse erlebt habe:

an einer Hal­te­stelle steigt ein jun­ger Mann im Hip­pie­look ein, im Arm ein Bün­del von Zei­tun­gen. Er stellt sich vor, er sei Juan aus Spa­nien und hätte gerade ein Restau­rant auf­ge­macht in Montevideo.

Die Leute im Bus hören inter­es­siert zu.

Ein ganz ein gesun­des Essen gebe es dort. Und, ja, bitte erschre­cken Sie nicht meine Damen und Her­ren, es ist ein vege­ta­ri­sches Restaurant.

Die Leute im Bus schmunzeln.

Und er wisse ja auch, dass man in Uru­guay so gerne Fleisch esse, aber es sei wirk­lich gesün­der Gemüse zu essen und er habe hier auch ein paar Rezept­samm­lun­gen mit­ge­bracht, vege­ta­ri­sche und auch vegane. Einer der Fahr­gäste hat schon die ganze Zeit sein Kichern unter­drückt, jetzt platzt es aus ihm her­aus und die Uru­gu­ayer, obwohl sehr höf­lich und tole­rant, prus­ten alle los.

Der Bus brüllt vor Lachen, auch der Fah­rer kann sich kaum noch hal­ten. Juan aus Spa­nien lacht mit, was soll er machen, ein Ver­such war es wert.

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Über Muse­ums­be­su­che (alle gra­tis, ich bin einem sozia­lis­ti­schen Land), Thea­ter­vor­füh­run­gen (gra­tis), Kon­zerte (spott­bil­lig) und Kar­ne­vals­ver­an­stal­tun­gen (spott­bil­lig oder gra­tis) ver­geht die Zeit tröpf­chen­weise. Eigent­lich könnte ich wei­tere vier Wochen in Mon­te­vi­deo blei­ben und wäre hin­ter­her top erholt. Aber es gibt noch viel zu ent­de­cken in die­sem klei­nen Land. Also packe ich mei­nen Ruck­sack und nehme den Bus Rich­tung Norden.

es bröckelt der Putz an den Fassaden

Cate­go­riesUru­guay
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Gitti Müller

Mein erster Anfall von Fernweh hat mich 1980 ein Jahr lang als Backpackerin nach Südamerika geführt. Damals wog so ein Rucksack noch richtig viel und das Reisen war beschwerlich. Seitdem kann ich es einfach nicht lassen. Heute habe ich vor allem einen Laptop und meine DSLR im Gepäck. Als Fernseh-Journalistin und Ethnologin komme ich viel rum aber in Lateinamerika fühle ich mich einfach wie zu Hause. Damit ich auch in abgelegenen Andenregionen ein Schwätzchen mit den Leuten halten kann habe ich die Indianersprachen Aymara und Quechua gelernt.
Im Mai 2017 hat der Piper-Verlag mein Buch "Comeback mit Backpack - Eine Zeitreise durch Südamerika" herausgebracht (ISBN-10: 3890291422, 272 Seiten mit Fotos) Es erzählt von meinen Reisen in analogen und in digitalen Zeiten.

  1. Chrissy says:

    Wie gemein! Der Bei­trag hört ja auch, wenn er gerade noch mal rich­tig span­nend wird. Wie ging die Reise denn wei­ter? Und was hast du noch alles gese­hen und erlebt? … Mein Fern­weh ist jetzt auf jeden Fall angestachelt. 

    Lg aus dem Passaiertal

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      Chrissy, ich wollte nicht gemein sein (-; Fort­set­zung folgt. Als nächs­tes kommt ein span­nende Geschichte über ein ehe­ma­li­ges Fischer­dorf in Uru­guay, das sich die Rei­chen und Schö­nen unter den Nagel geris­sen haben. Die Fischer woh­nen jetzt im Nach­bar­dorf und lie­fern den Fisch für Shakira und Rocke­fel­ler Jr. 

      liebe Grüße

  2. Barbara says:

    Uru­guay ist schon lange eines mei­ner Sehn­suchts­ziele – und nach die­sem Bei­trag und den Fotos noch viel mehr. Danke dafür, das macht rich­tig Lust auf Mon­te­vi­deo und das Land.

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