Und in die Gesich­ter sinke ich und kann nicht auf­hö­ren hinzusehen.

Was wollte ich hier?

Noch vor mei­nem vier­zigs­ten Geburts­tag wollte ich ent­de­cken, wer ich wirk­lich bin. Her­aus­fin­den, was ich mit mei­ner Lebens­zeit anstel­len möchte. Ich wollte keine Mensch-Maschine sein, die Geld gene­riert. Kein Pan­ther hin­ter tau­send Stä­ben. Kein Käst­chen bewoh­nen. Ich wollte leben, mich leben­dig füh­len. Ich wollte wis­sen, auf wel­che Wei­sen man leben kann. Ich wollte die Viel­falt der Welt erfah­ren und mit der Natur ver­bun­den sein. Ich wollte Klar­heit. Ich wollte meine Natur auf­spü­ren, mein Wesen, meine Iden­ti­tät. Ich wollte dem lei­sen und lau­ten Sin­gen mei­ner Seele lau­schen. Die Stim­men der Welt hören. Von der Magie kos­ten – ehe es daran ging, mich ein­zu­rich­ten. Ich wollte einen Fuß in Land­schaf­ten set­zen, die ich noch nicht kannte. Ich wollte ein freies, ein­fa­ches, ein rei­ches Leben.

Ich kün­digte 2011 mei­nen Job. Packte mei­nen Ruck­sack und zog sechs Wochen spä­ter los. Seit­dem reise ich, Dau­men in den Wind, folge mei­nem Instinkt, jeder wil­den Fan­ta­sie, und setze auf Ver­trauen, das wir als Fremde immer brau­chen, als ver­bin­dende Kraft für die schlum­mern­den Bezie­hun­gen. Zu uns selbst, der Welt und den Menschen.

 

 

Die Wei­ter­reise nach Bagan also. Hier ist es, wo ich in eine ein­ma­lige Land­schaft kippe. Was macht ein Land, eine Stadt ein­zig­ar­tig? Im Inter­net gibt es ein Video, in dem Leute gefragt wer­den, wie sie New York mit drei Wor­ten beschrei­ben wür­den. Die häu­figs­ten Ant­wor­ten: Ver­bin­dun­gen (con­nec­tions), Viel­falt (diver­sity), Zie­gel­steine (bricks).

Bagan könnte nicht wei­ter ent­fernt von dem sein, was New York ist. Doch die Beschrei­bung von Bagan muss lau­ten: bricks, bricks, bricks.

»Bleib an dei­nem Platz und bli­cke aus dem Fens­ter«, heißt es in Asien. Doch wir stre­ben hin­aus in die Welt, suchen nach Ver­bin­dung. Wer Bagan aus der Ferne sieht, der ent­deckt sie sofort, die roten Zie­gel­steine der unzäh­li­gen Pago­den – doch magisch macht die­sen Ort etwas ande­res: Bagan ist vom Rest der Welt ent­bun­den. Bagan ist pracht­voll, geheim­nis­voll, archa­isch. Eine Reise in die Vor­zeit, eine ursprüng­li­che, unver­fälschte Welt, ohne Insze­nie­rung. Eine monu­men­tale, mys­ti­sche Rui­nen­land­schaft wie von einem fer­nen Pla­ne­ten. In der moder­nen Welt zün­delt eine Sehn­sucht nach Inti­mi­tät und Iden­ti­tät. Diese Sehn­sucht quält mich, die nach ech­ter Ver­bin­dung. Und die Angst davor, sie viel­leicht nicht zu finden.

 

 

Ich fahre mit dem Fahr­rad durch die Fel­der und gleich hin­ter dem Dorf­aus­gang ragen die leuch­ten­den Pago­den in die Höhe. Ein Mäd­chen kommt auf mich zu, sie trägt eine grüne Schul­uni­form. Sie regt den Kauf einer foto­ko­pier­ten Aus­gabe von George Orwells »Bur­mese Days« an. Ein paar Kyat kann ich das Mäd­chen run­ter­han- deln – mehr nicht, sie ist eine gute Ver­hand­le­rin, char­mant, impro­vi­sie­rend. Sie ver­spricht, das Geld für Schul­sa­chen zu spa­ren und wei­ter zum Unter­richt zu gehen. 

Ich lege das Orwell-Buch in den Fahr­rad­korb, fahre wei­ter über die wei­chen Sand­pis­ten und klet­tere auf eines der sakra­len Kunst­werke hin­auf. Um mich unge­fragt von die­sem Wun­der, die­ser Magie über­fal­len zu las­sen. Los­ge­löst von jedem Ort und jeder Zeit.

Ich sitze auf dem Dach der Pagode und eine Schau­lust fällt über mich her. Mein Blick fliegt durch die sich aus­stre­ckende Ebene. Und will wis­sen, was diese Land­schaft ist. Hun­derte? Tau­sende? Wie viele rote Türme es sind, die da in den Him­mel sprie­ßen. Ich will ewig hier oben sit­zen, berauscht sein und sehen, wie die Eidech­sen über die Back­stein­zie­gel wischen, wie die Tem­pel­spit­zen mor­gens das nebel­ver­han­gene Tal durch­sto­ßen und wie abends immer die Sonne so irr­sin­nig ver­sinkt. Will in die­sem Meer der zie­gel­stein­ro­ten Pago­den und grü­nen Fel­der, Wie­sen und Bäume baden.

Ein merk­wür­di­ges Gefühl dehnt sich aus. Eine Aus­brei­tung von Wohl­be­ha­gen. Sonst gibt es kaum Bewe­gung. Eine Kut­sche, mal ein Fahr­rad, die Eidech­sen, ein Mönch, ver­sun­ken. Ist noch etwas zu ver­neh­men, ein Vogel viel­leicht? Ich sitze – und doch, Bewe­gung ist da. Erre­gung. Ich trete in einen ande­ren Raum. Es ent­fal­tet sich eine Reg­lo­sig­keit mei­ner Gedan­ken. Mei­ner Angst. Ein Zer­fal­len des Ver­lan­gens. Aus jeder Folge fal­lend. Was fehlt, zer­fällt. Was ist, kris­tal­li­siert sich. Ein Auf­lö­sen. Eine Emp­fäng­lich­keit. Ein­klang. Ver­tie­fung. Innig­keit. Intimität.

 

Nein, die­ser Ort ist nicht von die­ser Welt. In kei­ner Weise ver­bun­den mit einem Rest. Und hier, aus­ge­rech­net, die­ses Gefühl. Wie immer, wenn ich in sol­che Gegen­den kam: den Hima­laja, das Out­back, Japan, den Wat. Man schaut auf Land­schaf­ten, die dann durch einen hin­durch­krie­chen. Orte, an denen man für Momente aus der Welt fällt. So kommt es mir vor. Magi­sche Orte, denn sie ver­mö­gen, mein Leben in die kleins­ten Ein­hei­ten zu zer­le­gen. Ein Blick auf innen und außen. Die Außen­welt formt meine innere Land­schaft. Ver­bun­den­sein in der Unverbundenheit.

In Asien wer­den die Lei­che und der Besitz eines Ver­stor­be­nen ver­brannt. Die Seele lebt wei­ter, so der Glaube. Ver­brannt wird die Hülle, die den Geist behei­ma­tet hat. Auch wird die Lei­che mit Duft­ker­zen und Par­füm aus­ge­stat­tet. Denn die Men­schen ste­hen über alle Sinne in direk­ter Ver­bin­dung zu dem Toten. Die Ver­bin­dung bleibt über den Tod hin­aus bestehen. In Burma habe ich das Gefühl, die Men­schen zeh­ren von einem gro­ßen Glück: Sie haben keine Angst, weil sie sich ver­bun­den füh­len. Mit der Natur, dem Leben und dem Tod. Der über­wie­gende Teil der Bur­ma­ne­sen sind Bud­dhis­ten, glau­ben an »anicca«, das Gesetz der Ver­gäng­lich­keit der Dinge. Was ent­stan­den ist, muss ver­ge­hen, sagt Bud­dha. Das ist klug, denn so wei­chen sie der Angst aus, mit dem Tod alles ver­lie­ren zu kön­nen. Mir scheint, die Men­schen sind robust aus­ge­stat­tet, mit einem Frie­den, der Lebens­freude anschwel­len lässt.

Tage in Burma. Man möchte, dass das Urteil von Asien-Kor­re­spon­dent Tiziano Ter­zani nicht auf die Men­schen in Burma nie­der­geht wie der Nacht­re­gen von Yangon: »Asien hat sei­nen Frie­den ver­lo­ren auf der Jagd nach jener Art von Glück, das uns bereits unglück­lich gemacht hat.« Der Preis könnte ihre Frei­heit sein.

Aus: Mar­kus Stei­ner „Welt­herz“, erschie­nen bei Malik, EUR 16,00.

Erhältlich in jedem guten Buchladen und online:

Cate­go­riesMyan­mar
Markus Steiner

Es war 2011, als Markus das letzte Mal das dumpfe Klacken der Bürotür hinter sich hörte. Und beschloss Neues zu entdecken. Seitdem ist er in der Welt zu Hause. Markus schrieb 393 Reisetage auf, was er erinnerte und wie, um vom Leben zu erzählen. In seinem Blog vereint er seitdem seine Leidenschaften: Reisen und Schreiben. Markus erzählt Geschichten von unterwegs. Von den Menschen, der Schönheit der Welt und wie es sich anfühlt, in ihr zu reisen und mit ihr zu leben. Schöne Welt.

  1. Markus says:

    Sirit, wie wun­der­bar, Deine Frage. Es ist ja ein Aus­zug aus mei­nem Buch, dem Burma-Kapi­tel. Und dar­aus wie­derum hast Du einen Satz gegrif­fen. Eine Text­stelle, die ein ande­res Thema beleuch­ten will. Aber viel­leicht soviel: So bit­ter schmeckt es wohl, unser mensch­li­ches Dilemma. Wenn uns der Frie­den erst geraubt, lau­ert die Ver­füh­rung zur (klei­nen & gro­ßen) Grau­sam­keit. Und auch von der ist im Buch die Rede. WELTHERZ han­delt von Frei­heit. Und immer, wenn gequält, ernied­rigt, gemor­det wird, wenn es bar­ba­risch zugeht, wenn das Schild den Ein­gang ver­sperrt: Ver­nunft & Huma­nis­mus müs­sen drau­ßen blei­ben!, geht es bei mir steil ins Herz. Ich wün­sche Dir viel Freude beim Lesen.

  2. Sirit says:

    „Mir scheint, die Men­schen sind robust aus­ge­stat­tet, mit einem Frie­den, der Lebens­freude anschwel­len lässt.“ … das finde ich schön aus­ge­drückt. Was machst Du in Dir mit der Kehr­seite in Myan­mar. Der Seite die auf Men­schen­rech­ten rum tram­pelt? Bekommst Du das mit und wo geht das in einem hin ?

    Ich hatte und habe sol­che Fra­gen noch in mir von mei­nen Indien Rei­sen. Ich dachte nach der letz­ten, dass die Ent­wick­lungs­hel­fer recht hat­ten: Afrika kann schon schlimm sein, Indien über­trifft jedoch alles.

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