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»Entschuldigen Sie, wir mögen vielleicht etwas wüst aussehen, bitte erschrecken Sie nicht, das macht das viele Draußensein und der seltene Blick in einen Spiegel. Das daraus resultierende, nennen wir es ›leicht verwilderte‹, Erscheinungsbild lenkt vielleicht etwas ab von unserem freundlichen Gemüt. Ja, sehr nett sind wir, so wie Sie ja sicher auch, und daher fragten wir uns, ob wir nicht bei Ihnen unterkommen könnten, für ein bis zwei Nächte vielleicht, so genau weiß man das ja nie, ach und dann könnten wir sicher auch Ihre Dusche benutzen?«
Uns ist klar, was wir wollen, was wir brauchen; aber wie wir danach fragen, das ist uns nicht so klar.
Übertrieben nett, wie diese Leute in der Fußgängerzone, die einen eigentlich nur dazu bringen wollen, für Biber oder afrikanische Kinder zu spenden, aber mit einem ganz unverfänglichen »Na, wie geht’s uns denn heute?« oder »Sie sehen so aus, als hätten Sie eine Sekunde für mich Zeit« beginnen? Meinen Bruder haben sie so gekriegt, jahrelang spendete er für den Sibirischen Tiger, obwohl er zu der Zeit noch nicht mal wusste, wie er sich selbst über Wasser halten sollte. Auf diese Art möchte ich bestimmt niemanden ansprechen. Gleich zur Sache kommen will ich aber auch nicht, Pistole auf die Brust und mitsamt der Tür ins Haus fallen quasi, das käme mir dann doch etwas überfallartig vor. Wir brauchen einen Grund für ein Gespräch – und ein bisschen Geschwätzigkeit. Das gegenseitige Vertrauen wächst exponentiell zur Gesprächszeit: eine Minute – so, ich muss dann auch mal weiter; fünf Minuten – mmh, ich weiß nicht; zehn Minuten – och, eigentlich ganz nett, die beiden; dreißig Minuten – best friends forever. Trampen eignet sich da perfekt. Man sitzt eine Weile zusammen auf engstem Raum, und wenn man kein Freund von peinlicher Stille ist, dann redet man, und zwar meistens über sich, warum man hier ist, wo man hinwill, und Sie so? Perfekt.
Oder auf der Fähre, da hatten wir auf dem Weg nach Faaborg zuletzt Perle und Wolf kennengelernt, ein – man kann es nicht anders sagen – rüstiges Rentnerpaar, ehemals Sportlehrer in der DDR, achtzig und fünfundachtzig Jahre alt. Wir hatten uns über unsere Karte gebeugt und sie dann auch, am anderen Ufer saßen wir schon alle zusammen in ihrem Auto.
Aber was macht man auf dem platten Land, ohne Auto, ohne Fähre?
Man findet eine Socke. Eine blau-grau geringelte Baby-Socke. Roman entdeckt sie, hebt sie auf, und da fährt gerade ein Auto in die Kieseinfahrt eines großen gelben Hauses mit hübschen Blumen und Apfelbäumen davor. Daraus steigt ein großer, hagerer Mann mit kurzen, grauen Locken, langes Gesicht, breiter Mund. Er läuft in den Garten und wir hinterher, mit der Socke, dem großen Mann wird sie wohl nicht gehören, aber vielleicht wohnt hier ja auch ein Baby. Als wir ihn fragen und er uns ratlos anschaut, kommt eine blasse junge Frau in einem flattrigen kurzen Overall herbeigeeilt, die Socke gehöre ihrem Sohn. Sie stellt sich als die Tochter des hageren Mannes vor, eigentlich lebe sie in Kopenhagen, nun sei sie gerade mit Mann und Kind zu Besuch auf dem Land. Ihr Vater heißt Søren, und der kommt jetzt ins Reden. Er habe auch mal in Kopenhagen gewohnt, mittendrin, bis er das Gefühl gehabt habe, dort keine Luft mehr zu kriegen. Er liebe das Land, ganz besonders Fünen, »aber hier ist nichts mehr, alle gehen in die Städte wegen der Jobs«.
»Bevor ihr weiterzieht, müsst ihr unbedingt noch zum Strand«, sagt er. Quasi das komplette Land zwischen dem Wasser und diesem Haus hier gehöre ihm. Er habe es dem neunzigjährigen Bauern abgekauft, der zuletzt allein in dem Haus dort gewohnt habe. Knut mit den großen Händen. Der habe so große Hände gehabt, dass seine Tochter manchmal Freundinnen eingeladen habe, mit ihnen rüber zu Knut gelaufen sei und den staunenden Mädchen die riesigen Pranken gezeigt habe. Eine Attraktion sei das gewesen. Früher sei er, Søren, oft zu Knut und seiner Frau rübergegangen in das alte Bauernhaus, zu Kaffee und Kuchen. Als die Frau gestorben war, backte niemand mehr Kuchen, da tranken sie Cognac. Und jetzt, wo auch Knut tot ist, gehört ihm das Haus, jetzt kommen nur noch die Spinnen zu Besuch.
»Wartet hier«, er verschwindet eine Weile im Haus. Wir warten, setzen unsere immer schwerer gewordenen Rucksäcke ab, dann bleiben wir etwas unschlüssig in der Auffahrt stehen. Merkwürdig, nun sind wir Leute, die man erst mal auf Abstand hält, schwer einzuschätzende Landstreicher, vor denen man vielleicht das Kind schützen müsste. Im Angesicht dieser perfekten sommerhellen Familienidylle sehe ich den Schmutz an uns mit ihren Augen, wir kommen mir selbst etwas windig vor, wie wir hier einfach so reingeplatzt sind.
»Ah, kommt rein und seht euch um«, sagt Søren plötzlich, als er wieder in der Tür auftaucht, und wir folgen ihm. Wir stehen nicht wie vermutet in seinem Zuhause, das ist nebenan, sondern in seiner Firma, die stellt Laborrattenkäfige her. Und die will er uns jetzt zeigen. Richtige Käfiggitter gibt es an denen kaum, in einem großen silbernen Schrank auf Rollen mit Glastüren vorne stehen sechs Plastikwannen, da leben die Ratten dann drin. Die Käfige hat Søren mit allerlei Messgeräten ausgestattet, das Einzige, das ich zweifelsfrei verstehe, ist eine Waage. Mit diesen Rattenschränken testet die Pharmaindustrie zum Beispiel Diabetesmittel, bei einem anderen Versuch ging es um Verhaltensforschung mit Schmerz, das will ich lieber gar nicht so genau wissen. Im oberen Stockwerk stellen seine Mitarbeiter die elektronischen Komponenten her, überall liegen Platinen, Kabel und Werkzeuge. Warum ist denn keiner da? Ah, Samstag, die Wochentage entgleiten uns allmählich.
Wo wir schon mal beim Herumzeigen sind, machen wir gleich beim Bauernhaus weiter. Auch da stehen ein paar Laborrattenkäfige rum, in dem alten Stall, was eine unangenehme Horrorfilmassoziation in mir hervorruft. Also schnell wieder raus, auf den sonnenbeschienenen Hof, ins Wohnhaus. Das nutzen Søren und seine Familie als Abstellraum, Kisten mit der Aufschrift »baby clothes«, Matratzen, Tische, Körbe, Lampen, Stühle, Bilder und jede Menge alte Radios und Hifi-Anlagen – er sammle die nicht, er schmeiße nur nichts weg – werden unter den niedrigen Decken nach und nach von Spinnen eingewebt. Es riecht muffig und über allem liegt diese gedämpfte Stille, die man in verlassenen Häusern beinahe körperlich spüren kann.
Wir dürfen hierbleiben, wenn wir wollen, und ab da fühlt es sich wie Urlaub an. Die Landschaft ringsum ist von zurückhaltender Schönheit. »Es liegt ein lieblich Land im Schatten breiter Buchen am salz’gen Ostseestrand« heißt es in der dänischen Nationalhymne. Wir verstauen unser Gepäck in unserem neuen Haus, laufen runter zum Strand und legen uns faul in die Sonne. Das Wasser müssen wir uns mit einer Horde Quallen teilen, es kann unsere gute Laune nicht schmälern. Wir trampen die wenigen Kilometer zum Supermarkt, alles überhaupt kein Problem hier, zurück fahren wir mit einem Busfahrer in seinem Privatwagen – »Ich bin ein Busfahrer, aber ich werde euch die Fahrt nicht berechnen«, scherzt er.
Im Bauernhaus richtet Roman unser Schlaflager inmitten der Radios und Hifi-Anlagen ein, irgendwo findet er sogar noch eine Lampe, der Strom ist zum Glück nicht abgestellt. Ich koche uns Nudeln mit Pesto, Tomaten und Parmesan, dazu gibt es Salat, im Dunkeln schwankt das Gefühl zwischen gruselig und gemütlich.
Auch am nächsten Tag denkt der dänische Hochsommer gar nicht daran, wieder aufzuhören, und weil grad alles so gut läuft, wundert es uns auch nicht mehr, dass dieser unverschämt gut aussehende Oldtimer rechts ranfährt, als wir ihm unsere Daumen entgegenstrecken. Genauer gesagt ist es ein Austin Allegro von 1975 in gedecktem Hellgrün, sein Fahrer spricht weder Deutsch noch Englisch, ist aber sehr nett. Wir fahren mit ihm nach Ulbølle, dort wollen wir einen Imker besuchen, den wir vor einigen Tagen beim Trampen kennengelernt haben. Er hatte sich damals mit einer Handhupe von uns verabschiedet, spätestens da war uns klar gewesen, dass wir uns wiedersehen müssen. […]
Aus „Einfach Loslaufen“ von Svenja Beller (Text) und Roman Pawlowski (Fotos), erschienen im Dumont Reiseverlag, EUR 22,90
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[…] Svenja Beller hat es nicht nur getestet, sondern auch ein wunderbares Buch darüber geschrieben: „Einfach loslaufen“. Einen Auszug inklusive Beispiel dänischer Gastfreundschaft findet ihr bei den […]
Da ich selbst viel wandere und gerne gute Geschichte anderer über dieses Thema lese freute ich mich anfangs sehr über dieses Buch. Jedoch störte mich von Anfang an das die Autorin sich selbst diese Art zu reisen gewählt hat und bereits zu Beginn das schlechte verfluchte anstatt das positive und die Freiheit zu genießen und das was nicht gefällt einfach als »um eine Erfahrung reicher« betrachtet.
Sie regt sich einerseits über eine Aussage eines Wirtes auf (verständlicher weise) und auf der anderen Seite verurteilt sie andere Reisende über ihre Wahl des reisens und begegnet Ihnen mit Vorurteilen.
Kleine Empfehlung von mir, will ich mich grundlos aufregen bleib ich Zuhause und putze oder fahre zur Arbeit. Wenn ich jedoch auf Reisen bin will ich entspannen, Land und Leute kennenlernen, ich trete anderen Menschen nicht mit Vorurteilen gegenüber sondern versuche mir ein Bild von diesen zu machen um sie zu verstehen. Ich urteile nicht dies steht mir nicht zu und dafür geh ich nicht auf Wanderschaft/Reisen.
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