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Mein Haus am See oder: Was ich im Mökki lernte

Wenn die Fin­nen einen Sehn­suchts­ort haben, dann ist es das mökki, das Som­mer­haus am See. Dort sau­nie­ren sie und schwim­men, gril­len und fischen. Sie fah­ren mit dem Boot aufs Was­ser und gehen in den Wald, um Bee­ren und Pilze zu sam­meln, was jeder darf in Finn­land. Oder sie sit­zen ein­fach zusam­men und las­sen den Tag den Tag und das Leben das Leben sein. Es geht um die Natur und darum, nichts zu wol­len, also um eine große Kunst des Daseins.

Das Refu­gium zwi­schen Wald und Was­ser, den bei­den bestim­men­den Ele­men­ten der fin­ni­schen Seen­land­schaft, ist kein Pres­ti­ge­ob­jekt für eine eli­täre Ober­schicht, nach dem Motto: flei­ßig durch­ma­lo­chen, zu Geld kom­men, dann Exit und ihr könnt mich alle mal, End­sta­tion Haus am See. So den­ken viel­leicht die Deutschen.

Der deut­sche Groß­städ­ter hat sei­nen Klein­gar­ten. Die räum­li­che Enge erscheint zwin­gend in einem Land mit 80 Mil­lio­nen Men­schen, aber viel­leicht ist das auch eine Men­ta­li­täts­frage. Die Fin­nen haben auf jeden Fall kein Raum­pro­blem, mit ihren genüg­sa­men fünf­ein­halb Mil­lio­nen Ein­woh­nern auf einer Flä­che fast so groß wie die Bun­des­re­pu­blik. Doch das mökki ist vor allem Aus­druck einer Haltung.

Kein Sta­tus­sym­bol ist das Som­mer­haus, son­dern Teil eines All­tags, den man sich so oft es geht so ange­nehm wie mög­lich gestal­ten will. Viele mökki sind seit Gene­ra­tio­nen in Fami­li­en­be­sitz. Es gibt spar­ta­ni­sche Hüt­ten ohne Strom und war­mes Was­ser, ein­ge­rich­tet nur mit dem Nötigs­ten, aber auch mehr­stö­ckige Fünf-Sterne-Häu­ser zum Mie­ten: 250 Qua­drat­me­ter Wohn­flä­che, Boots­an­le­ger, drei Schlaf­zim­mer, Whirl­pool, High-Tech-Grill. Kom­fort muss nicht sein, doch in jedes mökki gehört eine Sauna.

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Ich war nach Finn­land gereist, um eine Geschichte über die Seen­platte im Süd­os­ten des Lan­des zu schrei­ben. Das war der vor­der­grün­dige Plan. Doch eigent­lich wollte ich der fin­ni­schen Frei­zeit­kul­tur auf die Spur kom­men. Wel­ches Lebens­ge­fühl steckt dahin­ter? Kann man sich wie ein Finne füh­len, wenn man in einem mökkii in der Sauna sitzt und nur stark genug dampft und schwitzt? Kein leich­tes Unter­fan­gen, anma­ßend womög­lich. Und am Ende sollte ich Ant­wor­ten auf ganz andere Fra­gen erhal­ten, aber das ist ja oft so – dass man eine bestimmte Sache sucht und eine andere fin­det, was kei­nes­wegs schlecht sein muss.

Die Fin­ni­sche Seen­platte war mir als per­fek­ter Ort für mein Vor­ha­ben sofort ins Auge gefal­len. Ein kur­zer Blick auf die Karte genügt, und man erkennt ein blau­grü­nes Mosaik aus Inseln und Gewäs­sern. Ein beson­ders gro­ßer Klecks Blau stellt den Sai­maa dar, den größ­ten See Finn­lands. Allein in die­sem Seen­sys­tem ste­hen fast 45 000 Feri­en­häu­ser, in ganz Finn­land etwa eine halbe Million.

Mein Finn­air-Flug ging von Ber­lin über Hel­sinki nach Savon­linna. Von dort war es nur eine kurze Auto­fahrt zum Lin­an­saari-Natio­nal­park, einem geschütz­ten Teil des Sai­maa-Gebie­tes. Die Maschine lan­dete inmit­ten aber­tau­sen­der Kie­fern und Fich­ten. Der Flug­platz wirkte so men­schen­leer wie ein Hoch­sitz im Wald.

Kaum konnte ich Luft holen, saß ich in einem vio­let­ten BMW Z3 Cabrio­let, der von einer jun­gen Frau vom ört­li­chen Tou­ris­mus­büro gesteu­ert wurde. Tanja hatte den Auf­trag, mir die Region zu zei­gen, damit ich Mate­rial für meine Geschichte bekam. Sie war freund­lich, aber ohne künst­li­chen PR-Ton in der Stimme. Zurück­ge­nom­men, ohne reser­viert zu wir­ken. Und sie sagte stän­dig „Fiß“ statt „fish“ (zum einen ist das Thema Fisch in die­sem Teil Finn­lands unver­meid­lich, zum ande­ren haben die Fin­nen ein Pro­blem damit, das deut­sche „sch“ kor­rekt aus­zu­spre­chen). Allein in der Sekunde der fal­schen Aus­spra­che ver­wan­delte sich diese Frau, die wie alle Fin­nin­nen eine kluge und selb­stän­dige war, in ein nied­li­ches Mädchen.

Mit dem Sport­wa­gen durch die Land­schaft zu hei­zen, hatte in mei­nen Augen wenig mit der Ursprüng­lich­keit des fin­ni­schen Som­mer­le­bens zu tun. Aber irgend­wie muss­ten wir in der nur spär­lich besie­del­ten Region von A nach B kommen.

Die erste Unter­kunft mei­nes Auf­ent­halts war das Hotel & Spa Resort Jär­vi­sy­dän. Es lag direkt am See, hatte aber wenig mit einem mökki zu tun, das ich ja eigent­lich suchte. Statt­des­sen gab es alle Vor­züge eines moder­nen Hotels und eine Sauna in der pri­va­ten Block­hütte. Die Bewusst­seins­er­fah­rung Som­mer­haus ließ sich schein­bar mit Kom­fort vereinen.

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Am nächs­ten Tag fuh­ren wir mit Kajaks hin­aus auf den See. Tanja hatte ihr Cabrio ohne mit der Wim­per zu zucken gegen ein wack­li­ges Boot getauscht und die schi­cke Som­mer­ja­cke gegen eine Schwimm­weste. Wir pad­del­ten. Zum ers­ten Mal genoss ich es, hier drau­ßen in der Natur unter­wegs zu sein, ich war ihr ganz nahe.

Auf einer klei­nen Insel stand eine Frau am Ufer, die sich als Bar­bara vor­stellte. Die 69-jäh­rige deut­sche Aus­wan­de­rin wohnte seit 13 Jah­ren in ihrem mökki mit­ten im Lin­an­saari-Natio­nal­park. Sie hatte, so schien es, ihr Glück gefun­den. Meine Neu­gier auf Finn­land, seine Seen und die ein­sa­men Feri­en­häu­ser konnte sie nur allzu gut ver­ste­hen. „Immer mehr haben Burn-out, die wol­len alle ihre Ruhe.“ Ich stimmte zu, ohne mich ange­spro­chen zu füh­len. Ruhe ja, Burn-out nein.

Eines muss man sagen: Das Set­ting für per­fekte fin­ni­sche Ferien stimmt im Lin­an­saari-Natio­nal­park. Der Besu­cher kann mit sei­nem Kajak von Insel zu Insel pad­deln und immer wie­der einen Halt zum Wan­dern einlegen.

Auf der Haupt­in­sel des Parks traf ich den ört­li­chen Guide Jari. Tou­ris­ten hat­ten in der Nähe des Anle­gers ihre Zelte auf­ge­schla­gen, doch wir woll­ten die Insel erkun­den. Oft kämen Elche her­über­ge­schwom­men und leg­ten sich ganz oben auf der Spitze des Eilands ins Gras, erzählte Jari. Der Wan­der­weg dort­hin war ziem­lich zuge­wach­sen. Zwi­schen alten Fich­ten und Espen lagen bemooste Fel­sen wie in einem Fabel­wald. Ich sehnte mich noch mehr nach einer ein­sa­men Hütte.

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Wei­ter ging es nach Oravi an der Grenze des Natio­nal­parks. In dem Ort konnte man jedes erdenk­li­che Zube­hör zum Cam­pen und Fischen kau­fen: von Angeln und Köchern über Zelte, Iso­mat­ten und Schwimm­wes­ten bis zu Bren­nern und Gas in Kar­tu­schen. In einem Laden hin­gen Bil­dern von stol­zen Män­nern an der Wand, die rie­sige Zan­der und Hechte in die Kamera hiel­ten. Man­che Rus­sen, berich­tete der Ver­käu­fer, mach­ten die Fische am Com­pu­ter noch etwas größer.

Auf­grund der geo­gra­fi­schen Nähe ver­brin­gen viele Rus­sen im Sai­maa-Gebiet ihren Urlaub. Doch die Rus­sen mag in Finn­land nie­mand, seit die Rote Armee 1939 ins Land ein­fiel. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg blieb Finn­land neu­tral, stän­dig ein­ge­keilt zwi­schen den zwei gro­ßen Macht­blö­cken. Fortan mach­ten die Fin­nen vie­les rich­tig, wäh­rend die Sowjets vie­les falsch mach­ten. Finn­land ist heute eines der wohl­ha­bends­ten, gebil­dets­ten und eman­zi­pier­tes­ten Län­der der Welt. Vom gro­ßen Nach­barn kann man das nicht behaupten.

Tanja zeigte mir Savon­linna mit sei­ner Burg Ola­vin­linna, die als die am bes­ten erhal­tene mit­tel­al­ter­li­che Fes­tung Nord­eu­ro­pas gilt. Wir aßen kala­kukko, Marä­nen im Brot, also erneut „Fiß“. Dann bestie­gen wir einen 108 Jahre alten Damp­fer und unter­nah­men eine Boots­fahrt. Am Ufer zogen in groß­zü­gi­gen aber regel­mä­ßi­gen Abstän­den die mökki vor­bei, ange­stri­chen in Rot, Gelb und Weiß: Sym­bole nicht enden wol­len­der Som­mer am See. Meine Sehn­sucht wurde erneut befeuert.

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Was machte nur den Reiz des mökki aus? Gib einem Fin­nen sein Haus am See, und er ist glück­lich – davon war aus­zu­ge­hen. Keine Frage: Wenn man mit Fami­lie und Freun­den bei­sam­men­sitzt, kein Zivi­li­sa­ti­ons­lärm stört und der Som­mer­him­mel auch um Mit­ter­nacht noch nicht fins­ter gewor­den ist, scheint der Weg zum Glück kurz zu sein.

Fin­det sich im mökki viel­leicht die Ein­sicht, dass alles ego­zen­tri­sche Schaf­fen und Stre­ben, alle küh­nen Ambi­tio­nen und inne­ren Kriege unter dem Spie­gel des Uni­ver­sums nichts als Schall und Rauch sind? Doch sind die Fin­nen nicht auch jenes Volk, das sich stän­dig koma­tös betrinkt und ein­an­der beson­ders häu­fig im Suff und Affekt ermor­det? Schwei­gen die fin­ni­schen Män­ner wirk­lich nur aus Höf­lich­keit so viel, oder weil letzt­lich alles ver­ge­bens ist?

Wir über­nach­te­ten öst­lich von Savon­linna in einer Feri­en­an­lage mit kom­for­ta­blen Hüt­ten direkt am See. Hier­hin ver­schlug es wohl Fin­nen, die erstaun­li­cher­weise nicht im Besitz eines eige­nen mökki waren. Die Land­schaft rund um das Feri­en­areal war genauso schön wie über­all sonst. Der See schim­merte klar und kühl.

Tanja und ich fuh­ren, nun wie­der im vio­let­ten BMW Z3 Cabrio­let, nach Keri­mäki, wo die größte christ­li­che Holz­kir­che der Welt stand. Bis zum Kreuz am Dach­first waren es 37 Meter. Empo­ren, Rund­bö­gen, Kup­peln und Dach­la­ter­nen schmück­ten das Got­tes­haus. Es war des­halb so groß, weil man allen Mit­glie­dern der Gemeinde gleich­zei­tig die Teil­nahme an der Messe ermög­li­chen wollte. Dafür musste aller­dings jeder bei den Bau­ar­bei­ten mit­hel­fen. Pfings­ten 1848 wurde die Kir­che eingeweiht.

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Dann fuh­ren Tanja und ich mit einem Pad­del­boot auf eine unbe­wohnte Insel und wan­der­ten rela­tiv schweig­sam durch die Wäl­der. Es war ein son­ni­ger Tag, das Licht fand sei­nen Weg durch die Äste bis auf den Wald­bo­den. Dass die Fin­nen oft lange Zeit gar nichts sagen, ist kei­nes­wegs ein Zei­chen von Des­in­ter­esse. Man möchte sich nicht auf­drän­gen. Man spricht nicht um des Redens wil­len. Warum sollte man die ange­nehme Stille des Wal­des durch über­flüs­sige Plau­de­rei vertreiben?

Kein ande­res Land in der EU ver­fügt über einen so gro­ßen Wald­an­teil wie Finn­land, rund 70 Pro­zent sind es. Der Wald ist prak­tisch über­all. Der kleinste Anteil die­ser Flä­che besteht noch aus ech­ten Urwäl­dern, aber ein Laie erkennt den Unter­schied sowieso nicht. Der Finne liebt den Wald – er hat auch keine andere Wahl.

„In vor­christ­li­cher Zeit waren die Wäl­der unsere Kir­che“, erklärte mir Anna-Maria. Sie arbei­tete im Forst­mu­seum Lusto, unweit von Savon­linna. Das Gebäude war der Form eines Baum­stump­fes nach­emp­fun­den, alles sah natür­lich und modern zugleich aus. In Sachen Design machte den Nord­eu­ro­pä­ern ein­fach kei­ner etwas vor.

Mit Reli­gion hatte ich nichts am Hut, aber der Wald begeis­terte auch mich seit frü­hes­ter Kind­heit. Im Museum erfuhr ich vom „Geist des Wal­des“, einer unsicht­ba­ren Ener­gie, die gemäß altem fin­ni­schen Volks­glau­ben in vie­ler­lei Form in Erschei­nung tre­ten konnte – meist als mäch­ti­ger Bär. Der Wald habe magi­sche Kräfte, hieß es auf einer Schau­ta­fel. Er könne Krank­hei­ten hei­len, aber den Men­schen auch in den Wahn­sinn trei­ben. Was genau das eine begüns­tigte und das andere ver­hin­derte, erfuhr ich lei­der nicht. Es lag wohl, über­legte ich, wie so oft am Men­schen selbst.

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Außer Frage stand für mich, dass ich der Seele des mökki nicht in einer Feri­en­un­ter­kunft auf die Spur kom­men würde. Ich brauchte Zugang zu einem authen­ti­schen fin­ni­schen Feri­en­haus in Pri­vat­be­sitz. Tanja war bemüht, mir die­sen Wunsch zu erfül­len. Sie tätigte ein paar Anrufe. Tat­säch­lich, eine Freun­din sei über das Wochen­ende ver­reist, ich könnte eine Nacht in ihrem Haus am See verbringen.

Das Haus der Freun­din lag in rela­ti­ver Abge­schie­den­heit im Wald, nur zwan­zig Meter vom See ent­fernt. Wenn ich »vom See« schreibe, dann klingt es so, als habe es stets immer nur den einen See gege­ben, um den herum sich diese Reise abspielte, aber das ist natür­lich Unsinn. Es gab, wie ein­gangs erwähnt, unzäh­lige Seen hier im Süd­os­ten Finnlands.

„Am See“ zu sein taugte nicht als Orts­an­gabe, es war mehr eine Gemüts­be­schrei­bung. Man war am See oder nicht. War man es nicht, galt es, schleu­nigst dort­hin zu kom­men. Im Som­mer ist der See für die Fin­nen wie ein Gra­vi­ta­ti­ons­punkt, in dem sich eine Art natür­li­che Ord­nung ein­stellt. So kann das Leben aus­se­hen, wenn man es ein­mal hin­ter sich lässt – bis der Win­ter kommt.

Tanja fuhr zurück in die Stadt, und ich saß eine Weile vor der Hütte, nun­mehr voll­kom­men allein. Das Tages­licht schwand bereits. Ich hörte dem Wald zu, der mich ganz welt­lich bezirzte. Irgend­wann wurde es dun­kel. Ich ging hin­ein ins mökki und ent­zün­dete einige Ker­zen, denn Strom gab es nicht. Genau so sollte es sein.

In der Hütte befand sich natür­lich eine Holz­sauna. Ich legte einige Scheite in den klei­nen Ofen und ent­fachte ein Feuer. Die Sauna heizte sich auf. Als die rich­tige Tem­pe­ra­tur erreicht war, setzte ich mich hin­ein. Ich wollte, nein ich musste schwit­zen. Durch ein klei­nes Fens­ter konnte ich hin­aus auf den See schauen, der im Mond­licht schim­merte. So saß ich da, damp­fend und immer tie­fer atmend, drau­ßen die Schwärze der Nacht, drin­nen nur der fla­ckernde Schein der Flammen.

Nach einer Vier­tel­stunde trat ich nackt hin­aus in den Wald und ging hin­un­ter zum See. Ich stieg ins Was­ser, doch ich fror sofort. Mein Kör­per dampfte in der Dun­kel­heit. Ich band mir ein Hand­tuch um und setzte mich vor der Hütte auf die Bank. Da war ich nun, in einem ech­ten mökki, sau­nie­rend wie ein Finne, mit­ten in der Natur. Und was soll ich sagen? In den Schat­ten der Nacht lag ein gro­ßes Unbehagen.

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Die natür­li­che Bewe­gung des Rei­sens und das Unter­wegs-Sein waren zu einem Ende gekom­men, Kör­per und Geist her­un­ter­ge­fah­ren. Und nun? Die ver­wor­re­nen Gedan­ken setz­ten sich nicht kla­rer zusam­men als zuvor. Die Rast­lo­sig­keit war nicht ver­schwun­den, nur für einen Moment nicht mehr so stark. Ich fand nicht zu mir selbst, ich fand – niemanden.

Viel­leicht, dachte ich auf der Bank vor dem Haus am See, sind wir immer noch Noma­den, Suchende in der Welt, für die es kei­nen grö­ße­ren Trost gibt, als am Ende des Tages um ein wär­men­des Feuer zusam­men­zu­kom­men. Alleine rei­sen ist ein­fach, alleine ankom­men ist schwie­rig. Für das mökki gilt das besonders.

Häu­fig wird zwi­schen Allein­sein und Ein­sam­keit unter­schie­den, als wären das zwei völ­lig ver­schie­dene Gefühls­re­gun­gen. Die eine, sagt man, lädt einen mit posi­ti­ver Ener­gie auf, die andere erzeugt Trau­rig­keit. Wahr­schein­lich sind es nur die Dosis und der Ort, die den Unter­schied machen. Alleine und im Grunde ja zufrie­den saß ich vor dem mökki, der laue Wind trug einen dum­men Gedan­ken heran, und wie ver­las­sen kam ich mir plötz­lich vor! Beklem­mend war die Stille über dem See.

Auch die typi­sche Schweig­sam­keit der Fin­nen – vor­nehm­lich der Män­ner – erschien mir plötz­lich über­haupt nicht mehr als erstre­bens­wer­ter Wesens­zug. War sie nicht ein Aus­druck dump­fer Beküm­mert­heit, die nicht gegen sich selbst ankam? Und hatte ich nicht stets erst im Aus­tausch mit ande­ren und mehr noch im Selbst­ge­spräch wie­der zu mir gefun­den, wenn die Dinge in mei­nem Leben zu ent­glei­ten drohten?

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Der Mor­gen am See war son­nig und hell und klar. Die Ver­ir­run­gen der Nacht kamen mir vor wie ein zusam­men­hang­lo­ser Traum. Ich ging noch ein­mal in den See und wusch mich ab. Bald würde Tanja hier sein. Sie furchte ihren BMW-Cabrio unge­rührt von den Boden­wel­len über den Wald­weg zum Haus am See.

Wie meine Nacht im mökki gewe­sen sei, fragte Tanja. Ich wollte meine Gedan­ken nicht aus­führ­lich dar­le­gen. Ganz wun­der­bar, sagte ich also. Ein Finne war ich nicht gewor­den, aber doch um eine wert­volle Ein­sicht rei­cher. Es war oft schwie­rig, sich aus­zu­hal­ten, das ging nur in der Bewe­gung. Doch wenn ich zur Ruhe kam auf mei­ner Reise, musste Zer­streu­ung auf mich war­ten oder ein Lager­feuer mit Menschen.

***

April 2017, süd­lich von Tam­pere. Die­ser Win­ter ist lang und kalt, selbst für fin­ni­sche Ver­hält­nisse. Letzte Nacht gab es wie­der Frost. Das Dach der Holz­hütte trägt eine feine Schnee­schicht, genauso wie der Steg. Der See hat nicht mehr als drei Grad. Vio­lett schil­lert der Abend­him­mel am ande­ren Ufer. Ich trete aus der Sauna und steige ins eis­kalte Was­ser, wie ein ech­ter Finne. Meine Beglei­tung sitzt schon drin­nen vor dem Kamin. Die Schat­ten zie­hen über den Wald, doch die Hütte ist warm.

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Cate­go­riesFinn­land
  1. Reena says:

    Sehr schö­ner Bei­trag! Das hat echt Spaß gemacht beim Lesen. Vor allem bei dem Teil mit der Sauna hatte ich gleich so ein rich­tig ange­neh­mes Gefühl, weil ich das auch kenne :) Und die Bil­der sind wirk­lich super. Danke für den tol­len Bericht!

    Herz­li­che Grüße
    Reena

  2. Stille, Ruhe, viel Raum und viel Zeit; das klingt für mich nach einem Para­dies, einem per­fek­ten Ort, um anzu­kom­men. Bei sich selbst anzu­kom­men ist an und für sich sowieso schwie­rig, manch­mal hat man die­ses Gefühl, doch oft hält es nur kurz an. Viele Men­schen leben in und von der Rast­lo­sig­keit, daran ist nichts ver­kehrt… Lg

  3. Stefan says:

    Ein herr­li­cher Rei­se­be­richt. Oh die bit­ter­süße Melan­cho­lie der Ankunft! Die Suche nach der Seele eines Ortes, die so häu­fig ins Leere führt. Die Ver­wor­ren­heit der eige­nen Gedan­ken. Es ist nie leicht, die rich­tige Spra­che dafür zu fin­den. Hier ist es gelungen!

  4. Antje says:

    Hallo,

    die Fotos sind echt toll. Wo liegt denn die­ses schöne Haus am See (das letz­tere im Sonnenuntergang)
    genau? Wir pla­nen für nächs­ten August einen Trip nach Finn­land.… Freu…

    Viele Grüße
    Antje

    1. Hallo Antje, das Haus ganz unten liegt an einem See süd­lich von Tam­pere, ist aber in Pri­vat­be­sitz und wird nicht ver­mie­tet. Die Gegend drum herum ist kein Natio­nal­park oder so – ganz nor­male fin­ni­sche Pro­vinz. Schöne Grüße, Philipp

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