Eine kubanische Odyssee

Um dem ste­ti­gen Kul­tur­ver­fall mei­ner selbst ent­ge­gen­zu­wir­ken, habe ich daher beschlos­sen, heu­te etwas mit geschicht­li­chem Hin­ter­grund zu unter­neh­men. Und da die Rum­pro­duk­ti­on einen der bedeu­tends­ten Eck­pfei­ler der kuba­ni­schen Geschich­te dar­stellt, fiel mei­ne Wahl auf die Besich­ti­gung der Hava­na Club Fabrik.

Ein Blick in den Rei­se­füh­rer ver­rät mir, dass sich die Fabrik etwa 50 Kilo­me­ter außer­halb von Hava­na befin­det und nur sehr schlecht mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln zu errei­chen ist. Ich ver­su­che trotz­dem mein Glück und mache mich auf den Weg zum Bus­bahn­hof, nur um ein­se­hen zu müs­sen, dass der Rei­se­füh­rer recht hat.

Die Taxi­fah­rer, die direkt gewit­tert haben, dass ich auf­ge­schmis­sen bin, ver­lan­gen hor­ren­de Sum­men von mir, um mich an mein Ziel zu brin­gen.

Dann sehe ich zwei Typen, die reich­lich des­in­ter­es­siert auf der ver­ros­te­ten Motor­hau­be ihres Wagens neben dem Taxi­stand sit­zen. Fra­gen kos­tet nichts, den­ke ich mir, und gehe zu den bei­den hin­über. Ich fra­ge sie, ob sie mich zur Fabrik fah­ren könn­ten, ich wür­de sie natür­lich auch bezah­len. Obwohl sie nicht so aus­se­hen, als hät­ten sie etwas wesent­lich bes­se­res vor, wir­ken sie etwas skep­tisch und begin­nen mit­ein­an­der zu dis­ku­tie­ren, als mir die klei­ne Fla­sche Hava­na Club ein­fällt, die ich am Flug­ha­fen gekauft und seit­dem ver­ges­sen habe aus der Tasche zu tun.

„Ich habe auch Rum dabei“, sage ich und zie­he die klei­ne Fla­sche aus mei­ner Tasche.

Kurz dar­auf befin­den wir uns auf der Stra­ße in Rich­tung San­ta Cruz del Nor­te, wo sich die Fabrik befin­det. Ich sit­ze auf der aus­ge­ses­se­nen Rück­bank des baby­blau­en Cadil­lacs, trin­ke einen Schluck aus der Fla­sche und gebe sie wei­ter an den Bei­fah­rer, der eben­falls einen Schluck trinkt und die Fla­sche wei­ter­gibt an den Fah­rer.

Kei­ne Ahnung, ob das so eine gute Idee ist, aber die bei­den wis­sen sicher­lich, was sie tun.

Hof­fent­lich.

Ich genie­ße die Fahrt durch die pal­men­be­deck­te Land­schaft, allein des­halb, da ich nicht auf mei­nen Füßen ste­hen muss. Ich habe mir in den letz­ten Tagen zuerst Bla­sen gelau­fen, dann wun­de Stel­len, die irgend­wann anfin­gen blu­tig zu wer­den und mitt­ler­wei­le haben sich die Wun­den so sehr ent­zün­det, dass ich das dadurch auf­ge­kom­me­ne Fie­ber nur noch mit Schmerz­mit­teln weit genug sen­ken kann, um mor­gens über­haupt aus dem Bett zu kom­men.

Die Fla­sche Rum ist rela­tiv schnell leer und mei­ne schmer­zen­den Füße gera­ten zuneh­mend in Ver­ges­sen­heit. Ich begin­ne über mei­ne bis­he­ri­gen Erfah­run­gen im Land und den kuba­ni­schen Lebens­stil zu phi­lo­so­phie­ren, die bei­den Her­ren vor mir über die kuba­ni­schen Frau­en.

Irgend­wann sind wir dann da, die bei­den ver­ab­schie­den sich und fah­ren leicht schlen­kernd zurück nach Havan­na.

Vor mir die legen­dä­re Havan­na Club Fabrik.

Irgend­wie hat­te ich sie mir anders vor­ge­stellt.

Die Fabrik sieht nicht so aus, als wür­de in ihr irgend etwas trink­ba­res pro­du­ziert wer­den. Ros­ti­ge Well­blech­dä­cher über hohen, bei­gever­put­zen Wän­den an denen die Far­be abblät­tert und die zur Hälf­te mit Grün­span über­deckt sind.

Wür­de vor dem klapp­ri­gen Eisen­tor nicht ein Wach­mann ste­hen und in der Fer­ne ein eben­so klapp­ri­ger, alter Gabel­stap­ler qual­mend über den Hof fah­ren, könn­te man glau­ben, dass die Fabrik seit Jah­ren ver­las­sen ist.

Naja, viel­leicht täuscht das Äuße­re auch nur, den­ke ich, lau­fe den klei­nen Schot­ter­weg von der Stra­ße zum Ein­gangs­tor und fra­ge den Wach­mann, wo man sich für die Füh­run­gen anmel­den kann.

„Es gibt kei­ne Füh­run­gen“, sagt er knapp und dass die Fabrik nicht für die Öffent­lich­keit zugäng­lich sei.

„Das kann gar nicht sein!“, sage ich ver­wirrt und hole den Rei­se­füh­rer her­aus.

”Hier steht ein­deu­tig…“, sage ich und las­se den Rei­se­füh­rer direkt wie­der sin­ken.

Schei­ße.

Im Rei­se­füh­rer steht ein­deu­tig, dass die Fabrik nicht für die Öffent­lich­keit zugäng­lich ist. War­um hab ich nicht wei­ter­ge­le­sen? Da ste­hen nur zwei ver­damm­te Sät­ze.

Ich dre­he mich etwas ver­zwei­felt im Kreis. Mei­ne bei­den Fah­rer sind längst nicht mehr zu sehen und weit und breit ist kein Auto, geschwei­ge denn ein Taxi, in Sicht, das mich aus dem Nir­gend­wo zurück in die Zivi­li­sa­ti­on brin­gen könn­te.

Ich wer­fe dem Wäch­ter noch ein­mal mei­nen herz­zer­rei­ßends­ten Dackel­blick zu, aber er lässt sich nicht erwei­chen.

Mache ich zumin­dest noch ein Sel­fie vor dem Ein­gang, den­ke ich mir, und zücke mein Han­dy.

„Hrmm, hrmm“, räus­pert sich der Secu­ri­ty-Mann neben dem ver­wit­ter­ten Hava­na-Club-Ein­gangs-Schild.

Ein Griff zum Schlag­stock an sei­nem Gür­tel und die freund­li­che Bit­te, das doch bit­te zu unter­las­sen, hin­dern mich dar­an, den bis­her größ­ten Fehl­schlag mei­ner Rei­se für die Ewig­keit fest­zu­hal­ten.

Ich ste­cke mein Han­dy also wie­der in die Tasche.

„Ist hier irgend­wo ein Strand in der Nähe?“, fra­ge ich den Wach­mann.

„In der Nähe nicht, aber etwas wei­ter weg schon“, sagt er und zeigt nach Osten. „Ist aller­dings ein ganz schö­nes Stück“

„Das macht nichts. Ich habe gera­de nichts bes­se­res zu tun“, sage ich und lau­fe los. Nach einer Vier­tel­stun­de schmer­zen mei­ne Füße so sehr, dass ich sie nur müh­sam vor­ein­an­der set­zen kann. Hin­zu kommt, dass die letz­te Por­ti­on Rum gera­de beginnt sich bemerk­bar zu machen und gemein­sam mit dem Wirk­stoff der letz­ten Ibu­profen in mei­ner Blut­bahn Pol­ka tanzt.

Ich wan­ke also Cap­tain-Jack-Spar­row-ähn­lich durch die kari­bi­sche Pam­pa, in der Hoff­nung auf einen Bus, ein Taxi, ein Auto oder ein­fach irgend­ein Gefährt, das mit Rädern bestückt ist und mich bis zum nächs­ten Strand beför­dern kann, damit ich mei­nen Rausch aus­schla­fen und mei­ne Füße hoch­le­gen kann.

Letz­te­res kommt etwa eine hal­be Stun­de spä­ter.

Zwei Räder, ein Typ mit Stroh­hut, ein Pferd, 50 Kohl­köp­fe, etwa genau­so vie­le Papa­yas und ein paar Ana­nas.

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Mei­ne letz­te Ret­tung ist also die Pfer­de­kut­sche eines Gemü­se- und Obst­ver­käu­fers. Ich wäre ihm vor Dank­bar­keit am liebs­ten um den Hals gefal­len, als er sag­te, dass er mich ein Stück mit­neh­men kön­ne.

Ich fra­ge ihn, wie er heißt und er sagt zwei­mal nach­ein­an­der „Pepe“, lässt mich aller­dings in dem Unwis­sen zurück, ob er einen Dop­pel­na­men besitzt (Pepe-Pepe), einen Sprach­feh­ler hat, oder ob sowohl er, als auch sein Maul­tier Pepe heißt. Ich belas­se es dabei und gehe von letz­te­rem aus, da Pepe I in unge­fähr so gesprä­chig zu sein scheint wie sein Maul­tier Pepe II.

Ich räu­me mir einen Platz auf der win­zi­gen Lade­flä­che zum Sit­zen frei und stap­le die Kohl­köp­fe, Papa­yas und Ana­nas fein säu­ber­lich neben mir auf, um sie nicht zu zer­quet­schen.

Pepe I schnalzt Pepe II kurz zu, lässt die Zügel knal­len und das Gefährt setzt sich hol­pernd in Bewe­gung. Es dau­ert kei­ne Minu­te und die von mir lie­be­voll zur Sei­te gescho­be­nen Ana­nas, Papa­yas und Kohl­köp­fe rol­len kreuz und quer über den Wagen und über mich.

Um uns her­um nur grü­ne Fel­der, Äcker, Pal­men und die schrof­fe Fel­sen­küs­te des Oze­ans. Ich höre nichts als das Rau­schen der Bran­dung, das mono­to­ne Klap­pern von Pepes Hufen (II, nicht I) auf dem stei­ni­gen Unter­grund und die gele­gent­li­che Auf­for­de­rung von Pepe an Pepe (I an II), etwas schnel­ler zu lau­fen. Alle zehn bis 15 Minu­ten hal­ten wir am Stra­ßen­rand an, um irgend­ei­ner Oma einen Kohl oder einer Grup­pe Kin­der etwas Obst zu ver­kau­fen.

Nach etwa einer Stun­de hal­ten die bei­den Pepes an. Ich bin mitt­ler­wei­le in eine lethar­gi­sche Star­re ver­fal­len und habe das klei­ne Gebäu­de erst gar nicht gese­hen, das sich ein­sam auf der ande­ren Stra­ßen­sei­te befin­det.

Es ist tat­säch­lich eine Bar.

Ich ver­ab­schie­de mich von den bei­den Pepes und gehe durch die Schwing­tür der Bar auf die Ter­ras­se, auf der im Schat­ten unter einem Son­nen­schirm bereits eine Grup­pe Back­pa­cker sitzt.

Deut­sche.

Auf Deut­sche habe ich gera­de irgend­wie kei­ne Lust. Ich gehe zur The­ke, bestel­le einen Moji­to und set­ze mich etwas von ihnen ent­fernt in einen Schau­kel­stuhl, schlie­ße die Augen und las­se mir die Son­ne ins Gesicht strah­len, wäh­rend ich an mei­nem Moji­to schlür­fe, den Wel­len lau­sche und in Tag­träu­me ver­fal­le.

„Bist du deutsch?“, reißt mich plötz­lich eine Stim­me aus mei­nen Gedan­ken. Eine Frau aus der Grup­pe steht neben mir und lächelt mich an.

„Ja, woher weißt du das?“, fra­ge ich.

„Du hast ein Bun­des­wehr­hemd an“, ant­wor­tet sie.

Mist.

Ich habe den gel­ben Bal­ken der Deutsch­land­flag­ge zwar blau ange­malt und sie damit in eine Ost­fries­land­flag­ge ver­wan­delt, die letz­te Wäsche hat­te die Tar­nung aller­dings zunich­te gemacht.

Sie stellt sich als Mari­na vor, die ande­ren Namen habe ich bereits beim Zuhö­ren ver­ges­sen. Ich set­ze mich, nach­dem ich von Mari­na ein­ge­la­den wur­de, mich zu ihnen zu gesel­len, an ihren Tisch und gra­be in mei­ner Small­talk-Kis­te nach mög­li­chen The­men.

„Wie ist denn der Strand hier so?“, fra­ge ich.

„Mega schei­ße! Nur scharf­kan­ti­ges Lava­ge­stein, kein Sand­strand. Wir haben im Vor­aus gebucht, sonst wären wir schon längst abge­hau­en. Sind schon seit drei Tagen hier“, sagt Mari­na.

Groß­ar­tig.

Ich beschlie­ße trotz­dem, dem Lava­strand einen Besuch abzu­stat­ten, um den Trip nicht völ­lig umsonst gewe­sen sein zu las­sen, trin­ke mei­nen Drink auf, ver­ab­schie­de mich und ver­schwin­de durch die Hin­ter­tür der Bar in Rich­tung Meer.

Auf der ande­ren Sei­te des Zau­nes, das tür­kis-blaue Was­ser der Kari­bik und ein Strand, des­sen Bege­hung in etwa so schmerz­haft ist, wie wenn man als Kind mor­gens mit nack­ten Füßen auf einen Lego­stein getre­ten ist. Nur, dass die­ser Strand zur Gän­ze aus Aber­mil­lio­nen gemei­nen Lego­stei­nen zu bestehen scheint.

Und mei­ne Füße schon vor­her schmerz­ten.

„Was für eine Kacke“, den­ke ich mir.

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Da ste­he ich also. Hin­ter mir Uncle Sams poten­ti­el­le Lieb­lings­bar, vor mir das Meer. Dazwi­schen der Legostrand des Todes.

Etwa 20 Meter hin­ter­lis­tigs­ter Lava­strand tren­nen mich und mei­ne ent­zün­de­ten Füße vom wohl­tu­en­den Bad in den war­men Wogen des Atlan­ti­schen Oze­ans.

Hilft nichts, den­ke ich mir, irgend­wie muss ich die zor­nig-schwar­zen Fel­sen des „Stran­des“ über­win­den. Die scharf­kan­ti­gen Stei­ne boh­ren sich bereits beim ers­ten Schritt schmerz­voll durch die Soh­len mei­ner Lat­schen und las­sen mich ver­krampft auf mei­ne Unter­lip­pe bei­ßen, wäh­rend ich mich Schritt für Schritt auf mein Ziel zube­we­ge.

Immer wie­der rut­sche ich dabei aus, ver­lie­re mein Gleich­ge­wicht und muss schmerz­haft auf­heu­len, wenn ich wie­der an einem Stein­vor­sprung oder Ähn­li­chem ent­lang geschrammt bin. Auf hal­bem Weg dre­he ich um. „Rien ne va plus – Nichts geht mehr“, den­ke ich mir und eie­re zurück zur Stra­ße. Scheiß drauf, das ist kein Strand, das ist ver­stei­ner­tes Höl­len­feu­er. Spä­tes­tens wenn ich mei­ne Schu­he hät­te aus­zie­hen müs­sen, um ins Was­ser zu klet­tern, hät­te mein Kör­per wahr­schein­lich ein­fach vor Schmer­zen kapi­tu­liert und mei­ne Lei­che wäre Tage spä­ter in irgend­ei­nem Fischer­dorf ange­spült wor­den.

Man wür­de sicher­lich dem Rum die Schuld geben und soweit will ich es nicht kom­men las­sen.

Auf einem klei­nen grü­nen Stück Rasen zwi­schen Strand und Stra­ße steht ein klei­nes Kälb­chen, das mich bereits wäh­rend mei­ner geschei­ter­ten Strand-Expe­di­ti­on mit treu­doo­fen Augen beob­ach­tet hat und sofort in Kampf­hal­tung geht, als ich mich nähe­re.

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Ich bewe­ge mich Schritt für Schritt auf die klei­ne Kuh zu, wäh­rend ich beru­hi­gend auf sie ein­re­de und aus der „Einen Schritt wei­ter, Ami­go, und ich ram­me dir mei­nen Schä­del in dei­ne ver­damm­ten Eier“-Haltung wird eine „Oh yeah, Baby, kraul mich hin­ter den Ohren“-Pose. Wir schlie­ßen schnell Freund­schaft und eh ich mich ver­se­he, ist mei­ne Hand bis zum Hand­ge­lenk im Kälb­chen­maul ver­schwun­den. Ich zie­he sie leicht ange­wi­dert wie­der her­aus und lan­ge Sab­ber­fä­den trop­fen von mei­nen Fin­gern auf den Boden, wäh­rend mich das Kälb­chen wei­ter lie­be­voll mit sei­nen dun­kel­brau­nen Kälb­chen­au­gen anblickt.

Plötz­lich höre ich hin­ter mir ein Lachen, dre­he mich um und sehe zwei jun­ge Typen, die das Schau­spiel wahr­schein­lich schon eine gan­ze Wei­le beob­ach­tet haben.

Ich wische den Kälb­chens­ab­ber an mei­ner Hose ab und hebe zum Gruß die immer noch trie­fen­de Hand. Die bei­den lachen wei­ter und kom­men auf mich zu.

Sie sind Fischer und etwas irri­tiert mich hier anzu­tref­fen. Es sind anschei­nend nicht oft Tou­ris­ten hier in der Gegend, was mich nicht wei­ter ver­wun­dert.

Sie sind unter­wegs, um nach Hum­mern zu tau­chen und fra­gen, ob ich nicht mit­kom­men möch­te.

War­um nicht?

Sie stel­len sich als Gabri­el und Nicolás vor und wir lau­fen die Küs­te ent­lang, immer wei­ter weg von der Bar, ver­stän­di­gen uns mit Hän­den und Füßen und reden über Gott und die Welt, ohne, dass wir die Spra­che des Gegen­übers wirk­lich beherr­schen wür­den. Sie erzäh­len mir von ihrem Leben als Fischer und haben ziem­lich vie­le Fra­gen über Deutsch­land. Die bei­den sind Fuß­ball-Fans. Bay­ern-Fans, um genau zu sein. „Sym­pa­thi­scher Ver­ein“, sagen sie.

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Natür­lich. Gera­de, als ich anfing sie zu mögen.

Irgend­wann las­sen wir die Sand­stra­ße hin­ter uns und lau­fen mit­ten durch ein Feld mit hüft­ho­hem Gras, bevor wir an einen Sta­chel­draht­zaun kom­men. „Mili­tär­ge­biet – Betre­ten Ver­bo­ten“, steht auf einem ver­ros­te­ten Schild, das lei­se knar­zend im Wind hin- und her­bau­melt. So viel Spa­nisch ver­ste­he ich.

Die bei­den scheint es nicht zu inter­es­sie­ren. Gabri­el hebelt den Zaun mit einer alten Eisen­stan­ge hoch und wir quet­schen uns nach­ein­an­der dar­un­ter durch und lau­fen, auf der ande­ren Sei­te ange­kom­men, wei­ter durch die Fel­der.

Es dau­ert kei­ne fünf Minu­ten, als ein Sol­dat aus der Fer­ne auf uns zukommt.

Mein Herz rutscht mir in die Hose.

Ich sehe mich schon mit einer Bin­de um die Augen und einer letz­ten Zigar­re im Mund vor einem Erschie­ßungs­kom­man­do an besag­tem Sta­chel­draht­zaun ste­hen. „Schrei­be ich noch schnell eine Abschieds-SMS an mei­ne Freun­din und an mei­ne Mud­di?“, schießt es mir durch den Kopf.

Dann ist der Sol­dat auch schon bei uns ange­kom­men. Er schul­tert sein Maschi­nen­ge­wehr, kommt noch einen Schritt näher, umarmt Gabri­el und Nicolás und schüt­telt mir die Hand. Ich atme beru­higt aus. Die drei ken­nen sich. Sie reden kurz mit­ein­an­der und wir set­zen unse­ren Weg gemein­sam über das Mili­tär­ge­län­de fort, bevor sich der Sol­dat ver­ab­schie­det und wie­der zu sei­nem Wach­pos­ten läuft.

Das Feld wird immer unweg­sa­mer und mün­det schließ­lich in ein Kak­tus­feld, das wie­der­um direkt zu einem Urwald führt.

Wir klet­tern über Baum­stümp­fe und dicke Wur­zeln, schla­gen uns durch her­un­ter­hän­gen­de Lia­nen und dich­tes Busch­werk. Berg­auf und berg­ab geht es, bevor wir an einer Steil­klip­pe zum Hal­ten kom­men.

„Hier run­ter“, sagt Gabri­el nur, dreht sich um und beginnt den Abstieg.

Wenn es sonst nichts ist.

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Einen Moment pas­se ich nicht auf und tre­te mit mei­nem nack­ten und ent­zün­de­ten gro­ßen Zeh direkt gegen einen vor­ste­hen­den Stein. Mir bleibt kurz die Luft weg.

„Alles gut?“, fragt mich Nicolás.

„Klar, alles gut“, sage ich etwa drei Okta­ven höher als gewohnt und ver­su­che mei­nem schmerz­ver­zerr­ten Gesicht ein Grin­sen zu ent­lo­cken, das wahr­schein­lich eher aus­sieht, als wür­de ich ihm eine Gri­mas­se schnei­den.

„Naja, das Gröbs­te soll­ten wir damit zumin­dest geschafft haben“, den­ke ich mir, als wir end­lich unten ange­kom­men sind und bereue den Gedan­ken im sel­ben Moment schon wie­der.

„Da müs­sen wir durch. Lauf ein­fach da lang, wo wir auch lang lau­fen“, sagt Gabri­el und zeigt auf einen brei­ten Fluss vor uns.

Ich fol­ge den bei­den mit eini­gem Miss­trau­en, pein­lichst dar­auf bedacht, genau dort hin­zu­tre­ten, wo die bei­den hin­tre­ten und errei­che das ande­re Ufer zwar nicht tro­cke­nen Fußes, aber unbe­scha­det.

Was dann kommt ver­schlägt mir aber­mals den Atem, dies­mal aller­dings im posi­ti­ven Sinn:

Wir klet­tern über einen letz­ten Fel­sen und vor mir liegt das Para­dies. Klingt kit­schig, ist aber so.

Der ein­sa­me Strand, der sich vor uns aus­brei­tet wirkt in mei­nen Augen so sur­re­al, das es mich nicht wun­dern wür­de, wenn gleich leicht­be­klei­de­te Nym­phen und Pan­flö­ten-spie­len­de Män­ner aus den Büschen kom­men und uns Bacar­di anbie­ten wür­den.

Gefolgt von einem Kame­ra­team.

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„Es ist noch ein gan­zes Stück“, sagt Gabri­el aber mei­ne Füße signa­li­sie­ren mir: bis hier­her und nicht wei­ter.

Ich ver­ab­schie­de mich von mei­nen bei­den Beglei­tern, wün­sche ihnen „Petri Heil“ und gebe mei­nen geschun­de­nen Glied­ma­ßen end­lich das küh­len­de Meer­was­ser-Bad, das sie ver­die­nen.

Ich weiß nicht, ob der mensch­li­che Kör­per dazu fähig ist in den Füßen einen Orgas­mus zu bekom­men, aber wenn ja, hat­te ich gera­de einen. Wenn nein, war ich ziem­lich dicht dran.

All­zu lan­ge hält das Glücks­ge­fühl aller­dings nicht an. Ich schaue auf die Uhr und bekom­me einen leich­ten Schreck.

Wenn ich mich nicht auf den Rück­weg mache, kom­me ich garan­tiert nicht mehr nach Havan­na. Nicht, dass mei­ne Chan­cen dar­auf beson­ders aus­sichts­reich wären.

Ich bli­cke noch ein­mal etwas weh­mü­tig auf das Was­ser und lau­fe zurück zum Fluss. Schei­ße, wo war jetzt noch mal der rich­ti­ge Weg?

„Ach ja, hier lang“, den­ke ich, mache einen Schritt und kann gera­de noch mei­ne Kame­ra­ta­sche und mein Han­dy hoch­rei­ßen, bevor ich bis zur Brust im Was­ser ste­he.

Doch nicht da lang…

Mei­ne Wert­sa­chen über mei­nem Kopf balan­cie­rend wate ich Schritt für Schritt wei­ter vor­sich­tig durchs Was­ser, um nicht von der Strö­mung aus dem Gleich­ge­wicht gebracht zu wer­den. Immer wie­der muss ich ein paar Schrit­te zurück­ge­hen, um es an einer ande­ren Stel­le zu ver­su­chen, da das Was­ser zur Mit­te des Flus­ses hin immer tie­fer wird und ich an eini­gen Stel­len nicht mehr ste­hen kann.

Völ­lig durch­nässt kom­me ich auf der ande­ren Sei­te an, lau­fe zur Steil­küs­te und begin­ne den Auf­stieg.

Run­ter ging irgend­wie ein­fa­cher.

Oben ange­kom­men ste­he ich zunächst etwas rat­los vor den Büschen, Bäu­men und Lia­nen des Wal­des durch den ich irgend­wie durch muss, um zurück zur Bar zu kom­men. Nur wie?

Ich war auf dem Hin­weg so damit beschäf­tigt mir nicht durch die vie­len Wur­zeln und Stei­ne auf dem Boden die Bei­ne zu bre­chen, dass ich über­haupt nicht auf den Weg geach­tet habe, son­dern statt­des­sen Gabri­el und Nicolás blind gefolgt bin.

Ich gehe ein­fach drauf los, schla­ge mich durch immer dich­ter wer­den­des Gestrüpp, lau­fe durch Spinn­we­ben und zer­krat­ze mir an an Dor­nen und spit­zen Zwei­gen Arme und Bei­ne. Dann fängt auch noch mein Kör­per an zu jucken. Ent­we­der waren eini­ge der Pflan­zen gif­tig oder irgend­wel­che Tie­re waren es.

Ich stol­pe­re wei­ter durch den Busch, wäh­rend ich mich gleich­zei­tig über­all krat­ze und wäre fast gegen ein klei­nes, wei­ßes Gar­ten­tor gelau­fen, das sich plötz­lich, wie aus dem Nichts, vor mir befin­det.

Durch ein Gar­ten­tor sind wir zwar garan­tiert nicht gelau­fen, aber die Rich­tung müss­te trotz­dem stim­men.

Ich öff­ne die klei­ne Pfor­te, gehe hin­durch und ste­he auf ein­mal einem dick­bäu­chi­gen Mann im Unter­hemd gegen­über.

Er guckt mich ein­fach nur fra­gend an, ohne irgend­was zu sagen. „Sor­ry“ sage ich, beschämt lächelnd, dre­he mich um, schlie­ße sein Gar­ten­tor vor­sich­tig hin­ter mir und schla­ge mich wei­ter durch den Urwald. Irgend­wann kom­me ich tat­säch­lich beim Kak­tus­feld wie­der her­aus und fin­de aus­nahms­wei­se ohne Hin­der­nis­se hin­durch.

Ich lau­fe über die Wie­se in die gro­be Rich­tung, aus der wir gekom­men sind und sehe, dass sich auch mein Freund der Sol­dat von sei­nem Wach­pos­ten erhebt und übers Feld auf mich zukommt.

Was ich hier wol­le, fragt er mich, als er mich erreicht, ich befän­de mich im Mili­tär­ge­biet.

Ich wer­de leicht ner­vös. Er scheint sich tat­säch­lich nicht an mich zu erin­nern.

Nach fünf Minu­ten, in denen ich ihm wie­der und wie­der ver­su­che zu erklä­ren, dass ich genau von da kom­me wo ich jetzt auch wie­der hin will, vor­hin schon­mal hier war und ihm sogar die Hand geschüt­telt habe, scheint er mich zwar immer noch nicht zu erken­nen, ist aller­dings sicht­lich gelang­weilt und winkt mich ein­fach durch.

Der Rest des Weges ver­läuft rei­bungs­los. Ich quet­sche mich unter dem Zaun hin­durch und lau­fe den Schot­ter­weg am Legostrand des Todes ent­lang bis zur Bar. Das Kälb­chen blickt neu­gie­rig hoch, als ich an ihm vor­bei lau­fe und durch die Hin­ter­pfor­te der Bar zurück auf die Ter­ras­se gehe, auf der die deut­sche Grup­pe immer noch genau so gelang­weilt rum­hängt, wie ich sie zurück­ge­las­sen habe.

Mei­ne Klei­dung ist völ­lig ver­dreckt und immer noch nass, mei­ne Arme und Bei­ne sind mit Krat­zern und Strie­men über­sät und an eini­gen Stel­len ziem­lich Rot von den gif­ti­gen Pflanzen/​Tieren, mein Gesicht ist so ver­brannt, dass ich aus­se­he wie ein Pan­da, sobald ich mei­ne Son­nen­bril­le abneh­me und ich schwit­ze, als wäre ich einen Halb­ma­ra­thon gelau­fen.

„Wo warst du denn?“, fragt mich Mari­na und begut­ach­tet mein Erschei­nungs­bild, das sich deut­lich von dem unter­schei­det, das sie noch vor ein paar Stun­den gese­hen hat.

„Am Strand“, sage ich.

„Und? War schei­ße, wa?“, fragt mich eine aus der Grup­pe grin­send.

„Hä? Mega geil!“, sage ich und zei­ge ihnen ein paar Bil­der auf mei­nem Han­dy.

„Das war hier? Du willst uns doch ver­ar­schen“, sagt Mari­na.

„Ne, erst­haft. Ihr müsst ein­fach nur die Stra­ße hier direkt vor der Tür ent­lang lau­fen. Für etwa 40 Minu­ten. Dann kommt ihr an ein Mili­tär­ge­biet, wo ihr unter einem Sta­chel­draht­zaun drun­ter durch­klet­tern und anschlie­ßend hof­fen müsst, dass ihr nicht erschos­sen wer­det. Danach kommt ihr an ein Kak­tus­feld und dann in einen ziem­lich dich­ten Urwald. Da müsst ihr aller­dings ein wenig vor­sich­tig sein, da sind irgend­wel­che gif­ti­gen Tie­re und Pflan­zen drin. Und wenn ihr dann an eine Steil­klip­pe kommt und die run­ter­klet­tert, habt ihr es schon fast geschafft. Ihr erreicht dann irgend­wann einen Fluss, der nur an einer Stel­le pas­sier­bar ist und euch wahr­schein­lich bis zum Hals gehen wird. Und dann seid ihr auch schon da“, sage ich.

Die ande­ren sagen gar nichts.

Ich las­se Mari­na und die rest­li­chen Deut­schen mit dem Ein­druck zurück, dass ich wahr­schein­lich ver­rückt sei, ver­ab­schie­de mich freund­lich und lau­fe die Stra­ße ent­lang in Rich­tung Havan­na.

Nach einer Vier­tel­stun­de fährt ein Pär­chen in einem alten Lada an mir vor­bei. Die bei­den neh­men mich bis in die nächs­te Ort­schaft mit, da hier, laut Rei­se­füh­rer, der Bahn­hof einer alten Plan­ta­gen-Eisen­bahn sein soll, die frü­her Zucker­rohr nach Havan­na brach­te und heu­te Pas­sa­gie­re.

„Eisen­bahn? Gibt’s hier nicht“, ist das ers­te was ich, im Dorf ange­kom­men, höre. Eine Aus­sa­ge, die sich wie­der­holt, egal wen ich fra­ge.

Nach eini­gem Her­um­ge­fra­ge, fin­de ich end­lich her­aus, dass es zwar kei­ne Eisen­bahn nach Havan­na gibt, aber dafür einen Bus, der zwei­mal am Tag fährt. Ein­mal mor­gens und ein­mal abends. Ob der Abend-Bus aller­dings schon gefah­ren ist, kann mir kei­ner sagen.

Ich beschlie­ße, das ein­zig ratio­na­le in die­sem Moment zu tun: mich an eine Bar am Stra­ßen­rand zu set­zen und abzu­war­ten. Mehr kann ich sowie­so nicht machen.

Die Bar besteht aus einer klei­nen Bret­ter­bu­de, die am geschot­ter­ten Stra­ßen­rand auf­ge­baut ist, ohne, dass mir der wirk­li­che Sinn der Stand­ort­wahl klar wird. Außer der Bret­ter­bu­de gibt es im Umkreis von eini­gen hun­dert Metern nur eine Tank­stel­le und ein paar klei­ne Häus­chen. Sonst nichts.

Die Spei­se­kar­te der Bar ist über­sicht­lich. Sand­wich mit Käse, Sand­wich mit Schin­ken, Sand­wich mit Schin­ken und Käse. Dazu Kaf­fee, Bier, Cuba Lib­re und Moji­to. Ich bestel­le mir ein Käse-Sand­wich und einen Moji­to und mache es mir auf einem der zwei Hocker am Stra­ßen­rand gemüt­lich.

Es beginnt lang­sam zu däm­mern und der Him­mel beginnt sich rosa­rot zu fär­ben, als in der Fer­ne die Lich­ter eines klapp­ri­gen Old­ti­mer-Buses auf­tau­chen.

„Glück gehabt, sieht aus, als ob du doch noch nach Havan­na kommst“, sagt die Bedie­nung zu mir.

Ich schüt­te den Moji­to schnell in einen Plas­tik­be­cher um und ren­ne los.

Mit einer Hand schüt­zend über mei­nen Drink gelegt sprin­te ich zum Bus, quet­sche mich durch die gera­de schon wie­der schlie­ßen­de Tür, drü­cke dem Bus­fah­rer 50 Cent in die Hand und rei­he mich in die Zahl derer ein, die kei­nen Sitz­platz mehr bekom­men haben. Was so ziem­lich alle sind, denn der Bereich zwi­schen den Sit­zen ist so voll mit Men­schen, dass es mir nicht ein­mal gelingt, mein Porte­mon­naie in die Hosen­ta­sche zu ste­cken. Dar­an wird sich auch die nächs­ten zwei­ein­halb Stun­den nichts ändern, den­ke ich und spü­re, wie das Blut in mei­nen Füßen bereits jetzt schmerz­voll anfängt zu pul­sie­ren. Gut, dass ich heu­te Abend zum Tan­zen ver­ab­re­det bin.

Scheiß­egal! Ich bin im Bus nach Havan­na und muss nicht auf der Stra­ße schla­fen. Ich dre­he mich in einer müh­sa­men, an mei­nen Nach­barn ent­lang­quet­schen­den Bewe­gung um, um aus dem Fens­ter zu bli­cken. Die unter­ge­hen­de Son­ne ver­wan­delt die sanf­ten Rosé­tö­ne des Abend­him­mels mitt­ler­wei­le in ein flam­men­des Rot.

Wir über­ho­len einen Obst­ver­käu­fer mit sei­nem Pfer­de­wa­gen, ich kann aller­dings nicht erken­nen ob es Pepe und Pepe sind.

„Mor­gen ist Weih­nach­ten“, den­ke ich mir und nip­pe an mei­nem Moji­to.

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Antworten

  1. Avatar von Silma
    Silma

    Tol­ler, lus­ti­ger und inter­es­san­ter Bericht. Schö­ne Schrei­be, mehr davon bit­te. 🙂

    1. Avatar von Lennart Adam

      Dan­ke­schön! Ist in Arbeit 🙂

  2. Avatar von Anny
    Anny

    Bit­te mehr davon! You make me smi­le 🙂

    1. Avatar von Lennart

      Schöns­ter Kom­men­tar 🙂 Dan­ke

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