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Eine kubanische Odyssee

Um dem ste­ti­gen Kul­tur­ver­fall mei­ner selbst ent­ge­gen­zu­wir­ken, habe ich daher beschlos­sen, heute etwas mit geschicht­li­chem Hin­ter­grund zu unter­neh­men. Und da die Rum­pro­duk­tion einen der bedeu­tends­ten Eck­pfei­ler der kuba­ni­schen Geschichte dar­stellt, fiel meine Wahl auf die Besich­ti­gung der Havana Club Fabrik.

Ein Blick in den Rei­se­füh­rer ver­rät mir, dass sich die Fabrik etwa 50 Kilo­me­ter außer­halb von Havana befin­det und nur sehr schlecht mit öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln zu errei­chen ist. Ich ver­su­che trotz­dem mein Glück und mache mich auf den Weg zum Bus­bahn­hof, nur um ein­se­hen zu müs­sen, dass der Rei­se­füh­rer recht hat.

Die Taxi­fah­rer, die direkt gewit­tert haben, dass ich auf­ge­schmis­sen bin, ver­lan­gen hor­rende Sum­men von mir, um mich an mein Ziel zu bringen.

Dann sehe ich zwei Typen, die reich­lich des­in­ter­es­siert auf der ver­ros­te­ten Motor­haube ihres Wagens neben dem Taxi­stand sit­zen. Fra­gen kos­tet nichts, denke ich mir, und gehe zu den bei­den hin­über. Ich frage sie, ob sie mich zur Fabrik fah­ren könn­ten, ich würde sie natür­lich auch bezah­len. Obwohl sie nicht so aus­se­hen, als hät­ten sie etwas wesent­lich bes­se­res vor, wir­ken sie etwas skep­tisch und begin­nen mit­ein­an­der zu dis­ku­tie­ren, als mir die kleine Fla­sche Havana Club ein­fällt, die ich am Flug­ha­fen gekauft und seit­dem ver­ges­sen habe aus der Tasche zu tun.

„Ich habe auch Rum dabei“, sage ich und ziehe die kleine Fla­sche aus mei­ner Tasche.

Kurz dar­auf befin­den wir uns auf der Straße in Rich­tung Santa Cruz del Norte, wo sich die Fabrik befin­det. Ich sitze auf der aus­ge­ses­se­nen Rück­bank des baby­blauen Cadil­lacs, trinke einen Schluck aus der Fla­sche und gebe sie wei­ter an den Bei­fah­rer, der eben­falls einen Schluck trinkt und die Fla­sche wei­ter­gibt an den Fahrer.

Keine Ahnung, ob das so eine gute Idee ist, aber die bei­den wis­sen sicher­lich, was sie tun.

Hof­fent­lich.

Ich genieße die Fahrt durch die pal­men­be­deckte Land­schaft, allein des­halb, da ich nicht auf mei­nen Füßen ste­hen muss. Ich habe mir in den letz­ten Tagen zuerst Bla­sen gelau­fen, dann wunde Stel­len, die irgend­wann anfin­gen blu­tig zu wer­den und mitt­ler­weile haben sich die Wun­den so sehr ent­zün­det, dass ich das dadurch auf­ge­kom­mene Fie­ber nur noch mit Schmerz­mit­teln weit genug sen­ken kann, um mor­gens über­haupt aus dem Bett zu kommen.

Die Fla­sche Rum ist rela­tiv schnell leer und meine schmer­zen­den Füße gera­ten zuneh­mend in Ver­ges­sen­heit. Ich beginne über meine bis­he­ri­gen Erfah­run­gen im Land und den kuba­ni­schen Lebens­stil zu phi­lo­so­phie­ren, die bei­den Her­ren vor mir über die kuba­ni­schen Frauen.

Irgend­wann sind wir dann da, die bei­den ver­ab­schie­den sich und fah­ren leicht schlen­kernd zurück nach Havanna.

Vor mir die legen­däre Havanna Club Fabrik.

Irgend­wie hatte ich sie mir anders vorgestellt.

Die Fabrik sieht nicht so aus, als würde in ihr irgend etwas trink­ba­res pro­du­ziert wer­den. Ros­tige Well­blech­dä­cher über hohen, bei­gever­put­zen Wän­den an denen die Farbe abblät­tert und die zur Hälfte mit Grün­span über­deckt sind.

Würde vor dem klapp­ri­gen Eisen­tor nicht ein Wach­mann ste­hen und in der Ferne ein ebenso klapp­ri­ger, alter Gabel­stap­ler qual­mend über den Hof fah­ren, könnte man glau­ben, dass die Fabrik seit Jah­ren ver­las­sen ist.

Naja, viel­leicht täuscht das Äußere auch nur, denke ich, laufe den klei­nen Schot­ter­weg von der Straße zum Ein­gangs­tor und frage den Wach­mann, wo man sich für die Füh­run­gen anmel­den kann.

„Es gibt keine Füh­run­gen“, sagt er knapp und dass die Fabrik nicht für die Öffent­lich­keit zugäng­lich sei.

„Das kann gar nicht sein!“, sage ich ver­wirrt und hole den Rei­se­füh­rer heraus.

”Hier steht ein­deu­tig…“, sage ich und lasse den Rei­se­füh­rer direkt wie­der sinken.

Scheiße.

Im Rei­se­füh­rer steht ein­deu­tig, dass die Fabrik nicht für die Öffent­lich­keit zugäng­lich ist. Warum hab ich nicht wei­ter­ge­le­sen? Da ste­hen nur zwei ver­dammte Sätze.

Ich drehe mich etwas ver­zwei­felt im Kreis. Meine bei­den Fah­rer sind längst nicht mehr zu sehen und weit und breit ist kein Auto, geschweige denn ein Taxi, in Sicht, das mich aus dem Nir­gendwo zurück in die Zivi­li­sa­tion brin­gen könnte.

Ich werfe dem Wäch­ter noch ein­mal mei­nen herz­zer­rei­ßends­ten Dackel­blick zu, aber er lässt sich nicht erweichen.

Mache ich zumin­dest noch ein Sel­fie vor dem Ein­gang, denke ich mir, und zücke mein Handy.

„Hrmm, hrmm“, räus­pert sich der Secu­rity-Mann neben dem ver­wit­ter­ten Havana-Club-Eingangs-Schild.

Ein Griff zum Schlag­stock an sei­nem Gür­tel und die freund­li­che Bitte, das doch bitte zu unter­las­sen, hin­dern mich daran, den bis­her größ­ten Fehl­schlag mei­ner Reise für die Ewig­keit festzuhalten.

Ich ste­cke mein Handy also wie­der in die Tasche.

„Ist hier irgendwo ein Strand in der Nähe?“, frage ich den Wachmann.

„In der Nähe nicht, aber etwas wei­ter weg schon“, sagt er und zeigt nach Osten. „Ist aller­dings ein ganz schö­nes Stück“

„Das macht nichts. Ich habe gerade nichts bes­se­res zu tun“, sage ich und laufe los. Nach einer Vier­tel­stunde schmer­zen meine Füße so sehr, dass ich sie nur müh­sam vor­ein­an­der set­zen kann. Hinzu kommt, dass die letzte Por­tion Rum gerade beginnt sich bemerk­bar zu machen und gemein­sam mit dem Wirk­stoff der letz­ten Ibu­profen in mei­ner Blut­bahn Polka tanzt.

Ich wanke also Cap­tain-Jack-Spar­row-ähn­lich durch die kari­bi­sche Pampa, in der Hoff­nung auf einen Bus, ein Taxi, ein Auto oder ein­fach irgend­ein Gefährt, das mit Rädern bestückt ist und mich bis zum nächs­ten Strand beför­dern kann, damit ich mei­nen Rausch aus­schla­fen und meine Füße hoch­le­gen kann.

Letz­te­res kommt etwa eine halbe Stunde später.

Zwei Räder, ein Typ mit Stroh­hut, ein Pferd, 50 Kohl­köpfe, etwa genauso viele Papa­yas und ein paar Ananas.

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Meine letzte Ret­tung ist also die Pfer­de­kut­sche eines Gemüse- und Obst­ver­käu­fers. Ich wäre ihm vor Dank­bar­keit am liebs­ten um den Hals gefal­len, als er sagte, dass er mich ein Stück mit­neh­men könne.

Ich frage ihn, wie er heißt und er sagt zwei­mal nach­ein­an­der „Pepe“, lässt mich aller­dings in dem Unwis­sen zurück, ob er einen Dop­pel­na­men besitzt (Pepe-Pepe), einen Sprach­feh­ler hat, oder ob sowohl er, als auch sein Maul­tier Pepe heißt. Ich belasse es dabei und gehe von letz­te­rem aus, da Pepe I in unge­fähr so gesprä­chig zu sein scheint wie sein Maul­tier Pepe II.

Ich räume mir einen Platz auf der win­zi­gen Lade­flä­che zum Sit­zen frei und staple die Kohl­köpfe, Papa­yas und Ana­nas fein säu­ber­lich neben mir auf, um sie nicht zu zerquetschen.

Pepe I schnalzt Pepe II kurz zu, lässt die Zügel knal­len und das Gefährt setzt sich hol­pernd in Bewe­gung. Es dau­ert keine Minute und die von mir lie­be­voll zur Seite gescho­be­nen Ana­nas, Papa­yas und Kohl­köpfe rol­len kreuz und quer über den Wagen und über mich.

Um uns herum nur grüne Fel­der, Äcker, Pal­men und die schroffe Fel­sen­küste des Oze­ans. Ich höre nichts als das Rau­schen der Bran­dung, das mono­tone Klap­pern von Pepes Hufen (II, nicht I) auf dem stei­ni­gen Unter­grund und die gele­gent­li­che Auf­for­de­rung von Pepe an Pepe (I an II), etwas schnel­ler zu lau­fen. Alle zehn bis 15 Minu­ten hal­ten wir am Stra­ßen­rand an, um irgend­ei­ner Oma einen Kohl oder einer Gruppe Kin­der etwas Obst zu verkaufen.

Nach etwa einer Stunde hal­ten die bei­den Pepes an. Ich bin mitt­ler­weile in eine lethar­gi­sche Starre ver­fal­len und habe das kleine Gebäude erst gar nicht gese­hen, das sich ein­sam auf der ande­ren Stra­ßen­seite befindet.

Es ist tat­säch­lich eine Bar.

Ich ver­ab­schiede mich von den bei­den Pepes und gehe durch die Schwing­tür der Bar auf die Ter­rasse, auf der im Schat­ten unter einem Son­nen­schirm bereits eine Gruppe Back­pa­cker sitzt.

Deut­sche.

Auf Deut­sche habe ich gerade irgend­wie keine Lust. Ich gehe zur Theke, bestelle einen Mojito und setze mich etwas von ihnen ent­fernt in einen Schau­kel­stuhl, schließe die Augen und lasse mir die Sonne ins Gesicht strah­len, wäh­rend ich an mei­nem Mojito schlürfe, den Wel­len lau­sche und in Tag­träume verfalle.

„Bist du deutsch?“, reißt mich plötz­lich eine Stimme aus mei­nen Gedan­ken. Eine Frau aus der Gruppe steht neben mir und lächelt mich an.

„Ja, woher weißt du das?“, frage ich.

„Du hast ein Bun­des­wehr­hemd an“, ant­wor­tet sie.

Mist.

Ich habe den gel­ben Bal­ken der Deutsch­land­flagge zwar blau ange­malt und sie damit in eine Ost­fries­land­flagge ver­wan­delt, die letzte Wäsche hatte die Tar­nung aller­dings zunichte gemacht.

Sie stellt sich als Marina vor, die ande­ren Namen habe ich bereits beim Zuhö­ren ver­ges­sen. Ich setze mich, nach­dem ich von Marina ein­ge­la­den wurde, mich zu ihnen zu gesel­len, an ihren Tisch und grabe in mei­ner Small­talk-Kiste nach mög­li­chen Themen.

„Wie ist denn der Strand hier so?“, frage ich.

„Mega scheiße! Nur scharf­kan­ti­ges Lava­ge­stein, kein Sand­strand. Wir haben im Vor­aus gebucht, sonst wären wir schon längst abge­hauen. Sind schon seit drei Tagen hier“, sagt Marina.

Groß­ar­tig.

Ich beschließe trotz­dem, dem Lava­strand einen Besuch abzu­stat­ten, um den Trip nicht völ­lig umsonst gewe­sen sein zu las­sen, trinke mei­nen Drink auf, ver­ab­schiede mich und ver­schwinde durch die Hin­ter­tür der Bar in Rich­tung Meer.

Auf der ande­ren Seite des Zau­nes, das tür­kis-blaue Was­ser der Kari­bik und ein Strand, des­sen Bege­hung in etwa so schmerz­haft ist, wie wenn man als Kind mor­gens mit nack­ten Füßen auf einen Lego­stein getre­ten ist. Nur, dass die­ser Strand zur Gänze aus Aber­mil­lio­nen gemei­nen Lego­stei­nen zu bestehen scheint.

Und meine Füße schon vor­her schmerzten.

„Was für eine Kacke“, denke ich mir.

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Da stehe ich also. Hin­ter mir Uncle Sams poten­ti­elle Lieb­lings­bar, vor mir das Meer. Dazwi­schen der Legostrand des Todes.

Etwa 20 Meter hin­ter­lis­tigs­ter Lava­strand tren­nen mich und meine ent­zün­de­ten Füße vom wohl­tu­en­den Bad in den war­men Wogen des Atlan­ti­schen Ozeans.

Hilft nichts, denke ich mir, irgend­wie muss ich die zor­nig-schwar­zen Fel­sen des „Stran­des“ über­win­den. Die scharf­kan­ti­gen Steine boh­ren sich bereits beim ers­ten Schritt schmerz­voll durch die Soh­len mei­ner Lat­schen und las­sen mich ver­krampft auf meine Unter­lippe bei­ßen, wäh­rend ich mich Schritt für Schritt auf mein Ziel zubewege.

Immer wie­der rut­sche ich dabei aus, ver­liere mein Gleich­ge­wicht und muss schmerz­haft auf­heu­len, wenn ich wie­der an einem Stein­vor­sprung oder Ähn­li­chem ent­lang geschrammt bin. Auf hal­bem Weg drehe ich um. „Rien ne va plus – Nichts geht mehr“, denke ich mir und eiere zurück zur Straße. Scheiß drauf, das ist kein Strand, das ist ver­stei­ner­tes Höl­len­feuer. Spä­tes­tens wenn ich meine Schuhe hätte aus­zie­hen müs­sen, um ins Was­ser zu klet­tern, hätte mein Kör­per wahr­schein­lich ein­fach vor Schmer­zen kapi­tu­liert und meine Lei­che wäre Tage spä­ter in irgend­ei­nem Fischer­dorf ange­spült worden.

Man würde sicher­lich dem Rum die Schuld geben und soweit will ich es nicht kom­men lassen.

Auf einem klei­nen grü­nen Stück Rasen zwi­schen Strand und Straße steht ein klei­nes Kälb­chen, das mich bereits wäh­rend mei­ner geschei­ter­ten Strand-Expe­di­tion mit treu­doo­fen Augen beob­ach­tet hat und sofort in Kampf­hal­tung geht, als ich mich nähere.

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Ich bewege mich Schritt für Schritt auf die kleine Kuh zu, wäh­rend ich beru­hi­gend auf sie ein­rede und aus der „Einen Schritt wei­ter, Amigo, und ich ramme dir mei­nen Schä­del in deine ver­damm­ten Eier“-Haltung wird eine „Oh yeah, Baby, kraul mich hin­ter den Ohren“-Pose. Wir schlie­ßen schnell Freund­schaft und eh ich mich ver­sehe, ist meine Hand bis zum Hand­ge­lenk im Kälb­chen­maul ver­schwun­den. Ich ziehe sie leicht ange­wi­dert wie­der her­aus und lange Sab­ber­fä­den trop­fen von mei­nen Fin­gern auf den Boden, wäh­rend mich das Kälb­chen wei­ter lie­be­voll mit sei­nen dun­kel­brau­nen Kälb­chen­au­gen anblickt.

Plötz­lich höre ich hin­ter mir ein Lachen, drehe mich um und sehe zwei junge Typen, die das Schau­spiel wahr­schein­lich schon eine ganze Weile beob­ach­tet haben.

Ich wische den Kälb­chens­ab­ber an mei­ner Hose ab und hebe zum Gruß die immer noch trie­fende Hand. Die bei­den lachen wei­ter und kom­men auf mich zu.

Sie sind Fischer und etwas irri­tiert mich hier anzu­tref­fen. Es sind anschei­nend nicht oft Tou­ris­ten hier in der Gegend, was mich nicht wei­ter verwundert.

Sie sind unter­wegs, um nach Hum­mern zu tau­chen und fra­gen, ob ich nicht mit­kom­men möchte.

Warum nicht?

Sie stel­len sich als Gabriel und Nicolás vor und wir lau­fen die Küste ent­lang, immer wei­ter weg von der Bar, ver­stän­di­gen uns mit Hän­den und Füßen und reden über Gott und die Welt, ohne, dass wir die Spra­che des Gegen­übers wirk­lich beherr­schen wür­den. Sie erzäh­len mir von ihrem Leben als Fischer und haben ziem­lich viele Fra­gen über Deutsch­land. Die bei­den sind Fuß­ball-Fans. Bay­ern-Fans, um genau zu sein. „Sym­pa­thi­scher Ver­ein“, sagen sie.

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Natür­lich. Gerade, als ich anfing sie zu mögen.

Irgend­wann las­sen wir die Sand­straße hin­ter uns und lau­fen mit­ten durch ein Feld mit hüft­ho­hem Gras, bevor wir an einen Sta­chel­draht­zaun kom­men. „Mili­tär­ge­biet – Betre­ten Ver­bo­ten“, steht auf einem ver­ros­te­ten Schild, das leise knar­zend im Wind hin- und her­bau­melt. So viel Spa­nisch ver­stehe ich.

Die bei­den scheint es nicht zu inter­es­sie­ren. Gabriel hebelt den Zaun mit einer alten Eisen­stange hoch und wir quet­schen uns nach­ein­an­der dar­un­ter durch und lau­fen, auf der ande­ren Seite ange­kom­men, wei­ter durch die Felder.

Es dau­ert keine fünf Minu­ten, als ein Sol­dat aus der Ferne auf uns zukommt.

Mein Herz rutscht mir in die Hose.

Ich sehe mich schon mit einer Binde um die Augen und einer letz­ten Zigarre im Mund vor einem Erschie­ßungs­kom­mando an besag­tem Sta­chel­draht­zaun ste­hen. „Schreibe ich noch schnell eine Abschieds-SMS an meine Freun­din und an meine Muddi?“, schießt es mir durch den Kopf.

Dann ist der Sol­dat auch schon bei uns ange­kom­men. Er schul­tert sein Maschi­nen­ge­wehr, kommt noch einen Schritt näher, umarmt Gabriel und Nicolás und schüt­telt mir die Hand. Ich atme beru­higt aus. Die drei ken­nen sich. Sie reden kurz mit­ein­an­der und wir set­zen unse­ren Weg gemein­sam über das Mili­tär­ge­lände fort, bevor sich der Sol­dat ver­ab­schie­det und wie­der zu sei­nem Wach­pos­ten läuft.

Das Feld wird immer unweg­sa­mer und mün­det schließ­lich in ein Kak­tus­feld, das wie­derum direkt zu einem Urwald führt.

Wir klet­tern über Baum­stümpfe und dicke Wur­zeln, schla­gen uns durch her­un­ter­hän­gende Lia­nen und dich­tes Busch­werk. Berg­auf und bergab geht es, bevor wir an einer Steil­klippe zum Hal­ten kommen.

„Hier run­ter“, sagt Gabriel nur, dreht sich um und beginnt den Abstieg.

Wenn es sonst nichts ist.

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Einen Moment passe ich nicht auf und trete mit mei­nem nack­ten und ent­zün­de­ten gro­ßen Zeh direkt gegen einen vor­ste­hen­den Stein. Mir bleibt kurz die Luft weg.

„Alles gut?“, fragt mich Nicolás.

„Klar, alles gut“, sage ich etwa drei Okta­ven höher als gewohnt und ver­su­che mei­nem schmerz­ver­zerr­ten Gesicht ein Grin­sen zu ent­lo­cken, das wahr­schein­lich eher aus­sieht, als würde ich ihm eine Gri­masse schneiden.

„Naja, das Gröbste soll­ten wir damit zumin­dest geschafft haben“, denke ich mir, als wir end­lich unten ange­kom­men sind und bereue den Gedan­ken im sel­ben Moment schon wieder.

„Da müs­sen wir durch. Lauf ein­fach da lang, wo wir auch lang lau­fen“, sagt Gabriel und zeigt auf einen brei­ten Fluss vor uns.

Ich folge den bei­den mit eini­gem Miss­trauen, pein­lichst dar­auf bedacht, genau dort hin­zu­tre­ten, wo die bei­den hin­tre­ten und errei­che das andere Ufer zwar nicht tro­cke­nen Fußes, aber unbeschadet.

Was dann kommt ver­schlägt mir aber­mals den Atem, dies­mal aller­dings im posi­ti­ven Sinn:

Wir klet­tern über einen letz­ten Fel­sen und vor mir liegt das Para­dies. Klingt kit­schig, ist aber so.

Der ein­same Strand, der sich vor uns aus­brei­tet wirkt in mei­nen Augen so sur­real, das es mich nicht wun­dern würde, wenn gleich leicht­be­klei­dete Nym­phen und Pan­flö­ten-spie­lende Män­ner aus den Büschen kom­men und uns Bacardi anbie­ten würden.

Gefolgt von einem Kamerateam.

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„Es ist noch ein gan­zes Stück“, sagt Gabriel aber meine Füße signa­li­sie­ren mir: bis hier­her und nicht weiter.

Ich ver­ab­schiede mich von mei­nen bei­den Beglei­tern, wün­sche ihnen „Petri Heil“ und gebe mei­nen geschun­de­nen Glied­ma­ßen end­lich das küh­lende Meer­was­ser-Bad, das sie verdienen.

Ich weiß nicht, ob der mensch­li­che Kör­per dazu fähig ist in den Füßen einen Orgas­mus zu bekom­men, aber wenn ja, hatte ich gerade einen. Wenn nein, war ich ziem­lich dicht dran.

Allzu lange hält das Glücks­ge­fühl aller­dings nicht an. Ich schaue auf die Uhr und bekomme einen leich­ten Schreck.

Wenn ich mich nicht auf den Rück­weg mache, komme ich garan­tiert nicht mehr nach Havanna. Nicht, dass meine Chan­cen dar­auf beson­ders aus­sichts­reich wären.

Ich bli­cke noch ein­mal etwas weh­mü­tig auf das Was­ser und laufe zurück zum Fluss. Scheiße, wo war jetzt noch mal der rich­tige Weg?

„Ach ja, hier lang“, denke ich, mache einen Schritt und kann gerade noch meine Kame­ra­ta­sche und mein Handy hoch­rei­ßen, bevor ich bis zur Brust im Was­ser stehe.

Doch nicht da lang…

Meine Wert­sa­chen über mei­nem Kopf balan­cie­rend wate ich Schritt für Schritt wei­ter vor­sich­tig durchs Was­ser, um nicht von der Strö­mung aus dem Gleich­ge­wicht gebracht zu wer­den. Immer wie­der muss ich ein paar Schritte zurück­ge­hen, um es an einer ande­ren Stelle zu ver­su­chen, da das Was­ser zur Mitte des Flus­ses hin immer tie­fer wird und ich an eini­gen Stel­len nicht mehr ste­hen kann.

Völ­lig durch­nässt komme ich auf der ande­ren Seite an, laufe zur Steil­küste und beginne den Aufstieg.

Run­ter ging irgend­wie einfacher.

Oben ange­kom­men stehe ich zunächst etwas rat­los vor den Büschen, Bäu­men und Lia­nen des Wal­des durch den ich irgend­wie durch muss, um zurück zur Bar zu kom­men. Nur wie?

Ich war auf dem Hin­weg so damit beschäf­tigt mir nicht durch die vie­len Wur­zeln und Steine auf dem Boden die Beine zu bre­chen, dass ich über­haupt nicht auf den Weg geach­tet habe, son­dern statt­des­sen Gabriel und Nicolás blind gefolgt bin.

Ich gehe ein­fach drauf los, schlage mich durch immer dich­ter wer­den­des Gestrüpp, laufe durch Spinn­we­ben und zer­kratze mir an an Dor­nen und spit­zen Zwei­gen Arme und Beine. Dann fängt auch noch mein Kör­per an zu jucken. Ent­we­der waren einige der Pflan­zen gif­tig oder irgend­wel­che Tiere waren es.

Ich stol­pere wei­ter durch den Busch, wäh­rend ich mich gleich­zei­tig über­all kratze und wäre fast gegen ein klei­nes, wei­ßes Gar­ten­tor gelau­fen, das sich plötz­lich, wie aus dem Nichts, vor mir befindet.

Durch ein Gar­ten­tor sind wir zwar garan­tiert nicht gelau­fen, aber die Rich­tung müsste trotz­dem stimmen.

Ich öffne die kleine Pforte, gehe hin­durch und stehe auf ein­mal einem dick­bäu­chi­gen Mann im Unter­hemd gegenüber.

Er guckt mich ein­fach nur fra­gend an, ohne irgend­was zu sagen. „Sorry“ sage ich, beschämt lächelnd, drehe mich um, schließe sein Gar­ten­tor vor­sich­tig hin­ter mir und schlage mich wei­ter durch den Urwald. Irgend­wann komme ich tat­säch­lich beim Kak­tus­feld wie­der her­aus und finde aus­nahms­weise ohne Hin­der­nisse hindurch.

Ich laufe über die Wiese in die grobe Rich­tung, aus der wir gekom­men sind und sehe, dass sich auch mein Freund der Sol­dat von sei­nem Wach­pos­ten erhebt und übers Feld auf mich zukommt.

Was ich hier wolle, fragt er mich, als er mich erreicht, ich befände mich im Militärgebiet.

Ich werde leicht ner­vös. Er scheint sich tat­säch­lich nicht an mich zu erinnern.

Nach fünf Minu­ten, in denen ich ihm wie­der und wie­der ver­su­che zu erklä­ren, dass ich genau von da komme wo ich jetzt auch wie­der hin will, vor­hin schon­mal hier war und ihm sogar die Hand geschüt­telt habe, scheint er mich zwar immer noch nicht zu erken­nen, ist aller­dings sicht­lich gelang­weilt und winkt mich ein­fach durch.

Der Rest des Weges ver­läuft rei­bungs­los. Ich quet­sche mich unter dem Zaun hin­durch und laufe den Schot­ter­weg am Legostrand des Todes ent­lang bis zur Bar. Das Kälb­chen blickt neu­gie­rig hoch, als ich an ihm vor­bei laufe und durch die Hin­ter­pforte der Bar zurück auf die Ter­rasse gehe, auf der die deut­sche Gruppe immer noch genau so gelang­weilt rum­hängt, wie ich sie zurück­ge­las­sen habe.

Meine Klei­dung ist völ­lig ver­dreckt und immer noch nass, meine Arme und Beine sind mit Krat­zern und Strie­men über­sät und an eini­gen Stel­len ziem­lich Rot von den gif­ti­gen Pflanzen/Tieren, mein Gesicht ist so ver­brannt, dass ich aus­sehe wie ein Panda, sobald ich meine Son­nen­brille abnehme und ich schwitze, als wäre ich einen Halb­ma­ra­thon gelaufen.

„Wo warst du denn?“, fragt mich Marina und begut­ach­tet mein Erschei­nungs­bild, das sich deut­lich von dem unter­schei­det, das sie noch vor ein paar Stun­den gese­hen hat.

„Am Strand“, sage ich.

„Und? War scheiße, wa?“, fragt mich eine aus der Gruppe grinsend.

„Hä? Mega geil!“, sage ich und zeige ihnen ein paar Bil­der auf mei­nem Handy.

„Das war hier? Du willst uns doch ver­ar­schen“, sagt Marina.

„Ne, erst­haft. Ihr müsst ein­fach nur die Straße hier direkt vor der Tür ent­lang lau­fen. Für etwa 40 Minu­ten. Dann kommt ihr an ein Mili­tär­ge­biet, wo ihr unter einem Sta­chel­draht­zaun drun­ter durch­klet­tern und anschlie­ßend hof­fen müsst, dass ihr nicht erschos­sen wer­det. Danach kommt ihr an ein Kak­tus­feld und dann in einen ziem­lich dich­ten Urwald. Da müsst ihr aller­dings ein wenig vor­sich­tig sein, da sind irgend­wel­che gif­ti­gen Tiere und Pflan­zen drin. Und wenn ihr dann an eine Steil­klippe kommt und die run­ter­klet­tert, habt ihr es schon fast geschafft. Ihr erreicht dann irgend­wann einen Fluss, der nur an einer Stelle pas­sier­bar ist und euch wahr­schein­lich bis zum Hals gehen wird. Und dann seid ihr auch schon da“, sage ich.

Die ande­ren sagen gar nichts.

Ich lasse Marina und die rest­li­chen Deut­schen mit dem Ein­druck zurück, dass ich wahr­schein­lich ver­rückt sei, ver­ab­schiede mich freund­lich und laufe die Straße ent­lang in Rich­tung Havanna.

Nach einer Vier­tel­stunde fährt ein Pär­chen in einem alten Lada an mir vor­bei. Die bei­den neh­men mich bis in die nächste Ort­schaft mit, da hier, laut Rei­se­füh­rer, der Bahn­hof einer alten Plan­ta­gen-Eisen­bahn sein soll, die frü­her Zucker­rohr nach Havanna brachte und heute Passagiere.

„Eisen­bahn? Gibt’s hier nicht“, ist das erste was ich, im Dorf ange­kom­men, höre. Eine Aus­sage, die sich wie­der­holt, egal wen ich frage.

Nach eini­gem Her­um­ge­frage, finde ich end­lich her­aus, dass es zwar keine Eisen­bahn nach Havanna gibt, aber dafür einen Bus, der zwei­mal am Tag fährt. Ein­mal mor­gens und ein­mal abends. Ob der Abend-Bus aller­dings schon gefah­ren ist, kann mir kei­ner sagen.

Ich beschließe, das ein­zig ratio­nale in die­sem Moment zu tun: mich an eine Bar am Stra­ßen­rand zu set­zen und abzu­war­ten. Mehr kann ich sowieso nicht machen.

Die Bar besteht aus einer klei­nen Bret­ter­bude, die am geschot­ter­ten Stra­ßen­rand auf­ge­baut ist, ohne, dass mir der wirk­li­che Sinn der Stand­ort­wahl klar wird. Außer der Bret­ter­bude gibt es im Umkreis von eini­gen hun­dert Metern nur eine Tank­stelle und ein paar kleine Häus­chen. Sonst nichts.

Die Spei­se­karte der Bar ist über­sicht­lich. Sand­wich mit Käse, Sand­wich mit Schin­ken, Sand­wich mit Schin­ken und Käse. Dazu Kaf­fee, Bier, Cuba Libre und Mojito. Ich bestelle mir ein Käse-Sand­wich und einen Mojito und mache es mir auf einem der zwei Hocker am Stra­ßen­rand gemütlich.

Es beginnt lang­sam zu däm­mern und der Him­mel beginnt sich rosa­rot zu fär­ben, als in der Ferne die Lich­ter eines klapp­ri­gen Old­ti­mer-Buses auftauchen.

„Glück gehabt, sieht aus, als ob du doch noch nach Havanna kommst“, sagt die Bedie­nung zu mir.

Ich schütte den Mojito schnell in einen Plas­tik­be­cher um und renne los.

Mit einer Hand schüt­zend über mei­nen Drink gelegt sprinte ich zum Bus, quet­sche mich durch die gerade schon wie­der schlie­ßende Tür, drü­cke dem Bus­fah­rer 50 Cent in die Hand und reihe mich in die Zahl derer ein, die kei­nen Sitz­platz mehr bekom­men haben. Was so ziem­lich alle sind, denn der Bereich zwi­schen den Sit­zen ist so voll mit Men­schen, dass es mir nicht ein­mal gelingt, mein Porte­mon­naie in die Hosen­ta­sche zu ste­cken. Daran wird sich auch die nächs­ten zwei­ein­halb Stun­den nichts ändern, denke ich und spüre, wie das Blut in mei­nen Füßen bereits jetzt schmerz­voll anfängt zu pul­sie­ren. Gut, dass ich heute Abend zum Tan­zen ver­ab­re­det bin.

Scheiß­egal! Ich bin im Bus nach Havanna und muss nicht auf der Straße schla­fen. Ich drehe mich in einer müh­sa­men, an mei­nen Nach­barn ent­lang­quet­schen­den Bewe­gung um, um aus dem Fens­ter zu bli­cken. Die unter­ge­hende Sonne ver­wan­delt die sanf­ten Rosé­töne des Abend­him­mels mitt­ler­weile in ein flam­men­des Rot.

Wir über­ho­len einen Obst­ver­käu­fer mit sei­nem Pfer­de­wa­gen, ich kann aller­dings nicht erken­nen ob es Pepe und Pepe sind.

„Mor­gen ist Weih­nach­ten“, denke ich mir und nippe an mei­nem Mojito.

Cate­go­riesCuba
Lennart Adam

Lennart ist Ostfriese. Sein Geld verdient er als Journalist in Flensburg, um es auf Reisen wieder auszugeben.
Reisen wird für ihn besonders dann zum Erlebnis wenn Unerwartetes passiert. Wenn man Pläne über Bord wirft und sich stattdessen vom Zufall leiten lässt, offen ist fürs Unbekannte, fürs Abenteuer. Wenn man auf Fremde zugeht, sich ausprobiert, Ängste überwindet und Grenzen neu definiert. Und wenn man anschließend die richtige Bar findet.

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