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»Extreme Situationen ziehen mich an«

Inga Durst ist Backpacker-Seniorin und Weit-Reisende. Ein Interview von Christine Corlett 

Der Ama­zo­nas hat es der 82jährigen beson­ders ange­tan. Ein Trip nach Mit­tel- und Süd­ame­rika sollte der Wie­ne­rin Inga Durst hel­fen, einen Schick­sals­schlag zu ver­ar­bei­ten.  Aus dem Trip wurde eine meh­rere Jahre lange Reise – zu den Kuna Indios und den Scha­ma­nen der Tai­tas und am Ende zu einem ande­ren Blick auf die Welt.

Inga, du bist heute über 80 und du bist immer noch stän­dig unter­wegs. Gerade bist du quasi „auf dem Sprung“ nach Vene­dig, danach willst du nach Thai­land. Doch vor über 20 Jah­ren, im Jahr 2001, bist du zu einer sehr beson­de­ren Reise aufgebrochen…

Stimmt. Da war ich 61. Ich bin mit Ruck­sack los­ge­zo­gen und fünf Jahre spä­ter war ich wie­der da. Das hat sich so ergeben. 


Das ist unge­wöhn­lich. Back­pack­ing im bes­ten Pen­si­ons­al­ter. Und dann gleich fünf Jahre. Wie kam es dazu?

Ich hatte zwei Jahre zuvor mei­nen Lebens­ge­fähr­ten ver­lo­ren, das war ganz furcht­bar. Wir waren 15 Jahre zusam­men. Meine Freunde haben sich um mich geküm­mert. Sie haben alles getan, um mich aus dem Loch, in das ich gefal­len war, wie­der her­aus­zu­be­kom­men. Ich begann Golf zu spie­len, trat ver­schie­de­nen Ver­ei­nen bei. Nichts hat gehol­fen. Dann hat meine Toch­ter gemeint: „Mami, hier ist mein Trek­king-Ruck­sack, geh weg von hier, sonst ver­kommst du!“ Ich hab dar­über nach­ge­dacht und wusste, sie hat recht.


Es war also keine geplante Reise, bei der man vor­her Ziele fest­legt und Unter­künfte bucht

Nein, über­haupt nicht. Ich bin zuerst mit einem geschenk­ten Ticket nach New York geflo­gen. Das war direkt nach 9/11. Der Schock war groß, als ich vor dem noch rau­chen­den, stin­ken­den Trüm­mer­hau­fen stand. 

Das nächste Ziel war Mexico City: ein neuer Schock! Eine Zwan­zig-Mil­lio­nen-Stadt, größte Armut neben größ­tem Reich­tum. Dazu jahr­tau­send­alte Macht­sym­bole. Ich bin viele Tage her­um­ge­streunt und habe ver­sucht, diese neue Welt vol­ler Kon­traste zu begrei­fen. Meine Reise ging dann nur noch mit Bus wei­ter, hin­un­ter bis Lima.

Hin­un­ter? Wo warst du denn überall?

Ich war in Mexiko auf den Spu­ren der Azte­ken, Olme­ken, Zapo­te­ken, Teo­ti­huaca­nos und Tol­te­ken. Dann bin ich zu den Rui­nen­stät­ten der Maya in Mexico, Gua­te­mala und Hon­du­ras getrampt. Ich ent­deckte unzäh­lige arm­se­lige Dör­fer in den Regen- und Nebelwäldern. 

Ich war in Boli­vien auf der Isla del Sol im Titi­ca­ca­see, der Geburts­stätte der sagen­um­wo­be­nen Inka­kö­nige, in Cusco, ihrer Haupt­stadt, und auf dem Machu Pic­chu. In Peru in der Wüste, in der rie­si­gen Rui­nen­stadt Chan Chan an der Pazi­fik­küste und im Ama­zo­nas­ge­biet in Ecua­dor. Kolum­bien wurde zu mei­nem Lieb­lings­land. Fast ein Jahr habe ich dort ver­bracht. Phan­tas­tisch die Men­schen und ihre geheim­nis­vol­len Kul­tur­stät­ten. Traum­hafte Natur und schöne Städte: Car­ta­gena de India an der Kari­bik­küste, ein wah­rer Traum. Dabei war es nicht nur die Geschichte, die mich beein­druckt hat, son­dern vor allem die Völ­ker und ihre Lebensweisen. 

Du hast frü­her für eine Film­pro­duk­tion gear­bei­tet und warst im inter­na­tio­na­len Export­ge­schäft. Da warst du auch schon viel unter­wegs – aber mit dem Flug­zeug und einem fes­ten Zeit­plan.  Jetzt gab es keine fei­nen Hotels, dafür die große Frei­heit. Wonach hast du deine Rei­se­ziele ausgesucht?

Meine Infor­ma­ti­ons­quelle waren die Back­pa­ckers in den You­th­hos­tels. Hat es mir irgendwo beson­ders gut gefal­len, bin ich eine Weile geblie­ben. In Gua­te­mala lebte ich ein Jahr lang in einer Marina auf einem Segel­boot. Ich habe mich mit Boots­eig­nern ange­freun­det, die hier vor dem jähr­li­chen Hur­ri­kan Zuflucht gesucht haben. Ein bun­tes Völk­chen von Aus­stei­gern, Zivi­li­sa­ti­ons- und Käl­te­flücht­lin­gen und vor allem Abenteurern.

Du warst über 60, als du los­ge­zo­gen bist. Da haben viele Men­schen gesund­heit­li­che Pro­bleme. Wie war das bei dir? 

Ich habe eine Haut­krank­heit und Rücken­pro­bleme. Aber der Rücken plagt mich auch auch daheim, also war es mir egal. Es hat mich nicht vom Rei­sen abgehalten. 

An Medi­ka­men­ten hatte ich nur „Was-wäre-wenn-Sachen“ mit. Also eine Art Notapo­theke mit Mit­teln gegen Durch­fall und so. Unter­wegs hilft man sich auch gegen­sei­tig aus, wenn man etwas braucht. 

Bist du auch mal ernst­haft krank gewor­den?
In Ecua­dor hatte ich Amö­ben erwischt. Das war furcht­bar. Da trägt man alles, was man von sich gibt, in die Apo­theke, zahlt einen Dol­lar, und am Abend weiß man, was man hat. Also, von wel­chen Para­si­ten man befal­len ist. Ich wog nur noch 46 Kilo und hab gedacht, ich muss mich ja nicht gleich auf­lö­sen! Des­halb bin ich dann in die Kli­nik und dort hat man mich mit Infu­sio­nen behan­delt und von den Pla­ge­geis­tern befreit. 

Du hast einen star­ken Wil­len, aber starke Mus­keln hast du nicht. Hat­test du manch­mal auch Angst?

Ich bin nicht sehr groß, nur 157m. Trotz­dem, gefürch­tet habe ich mich nicht, aber ich war immer vor­sich­tig. Man lernt es, eine Situa­tion abzu­schät­zen. Ich bin auch eine Schaue­rin. Wenn ich in eine neue Stadt gekom­men bin, habe ich erst ein­mal stun­den­lang am Markt­platz die Leute beob­ach­tet.  Mir ist nie etwas pas­siert. Im Gegen­teil, wenn ich irgendwo ein Pro­blem hatte, war immer jemand da, um mir zu hel­fen. Ein­mal wurde mir aller­dings meine Kamera geklaut. Da war ich aber selbst schuld. Ich habe nicht gut aufgepasst. 


Du bist ein hal­bes Jahr mit einem Mann auf einem Segel­boot mit­ge­fah­ren, den du gar nicht kann­test. War das nicht riskant?

Ich war halt neu­gie­rig! Ich war an der Kari­bik­küste in einer Dschun­gel-Lodge hän­gen geblie­ben und dort erfuhr ich, dass jemand einen Törn nach Belize plant. Vor Belize liegt das zweit­größte Koral­len­riff der Welt, das Belize Bar­rier Reef. Da wollte ich unbe­dingt hin. 

Der Skip­per war über 70, aber noch recht sport­lich.  Es hat auch gut geklappt. Ich habe gesagt, ich will die Küche über­neh­men. Hab gedacht, dann kann ich kochen, was ich will. Er hat mir eine Angel gekauft, und jeden Mor­gen um sechs Uhr saß ich am Bug und habe gefischt. Es war auch mal ein klei­ner Hai dabei.

 
Hast du die Fische auch töten können?

Das war ein Pro­blem. Ich habe mir von über­all Rat­schläge geholt, wie man einen Fisch umbringt. Das Wort allein ist schon schreck­lich! Mir wur­den alle mög­li­chen Ver­sio­nen genannt. Aber wenn der arme Fisch nach Luft geschnappt hat und mich anschaute und seine Augen „bitte“ sag­ten, dann hab ich ihn doch ins Was­ser zurück geworfen.

Wie ging es dann weiter?

In Belize sind wir einen Monat geblie­ben. Da war ein klei­nes Dorf am
Meer, Pla­cen­cia, wo Gari­fu­nas leben, Nach­fah­ren von Skla­ven und Pira­ten. Hier spricht man nicht Spa­nisch, son­dern die Amts­spra­che ist Eng­lisch. Sie spre­chen ein Pidgin English.

ich habe die Men­schen da immer gut gelaunt gese­hen, man­che schon ab Mit­tag im Schau­kel­stuhl mit einer Mari­hua­napfeife im Mund. Eine Art Paradies.


Auf dei­ner lan­gen Reise warst du auch in Kolum­bien. Dort hast du dich auf ein beson­de­res Aben­teuer ein­ge­las­sen – du warst bei Scha­ma­nen. Wie kam es dazu?
Da war diese Back­pa­cke­rin aus Ber­lin. Sie erzählte mir von ihren Erleb­nis­sen bei Zere­mo­nien von Scha­ma­nen. Ich wollte wis­sen, was das mit mir macht. Also zog ich los. Im Hoch­land von Kolum­bien stieß ich auf den Stamm der Tai­tas, die für ihre Zere­mo­nien bekannt sind. Im feu­da­len Haus einer Kolum­bia­ne­rin, die mit einem Taita ver­hei­ra­tet war, fand eine sol­che Kult­hand­lung statt. Bill, mit dem ich unter­wegs war, und ich waren die ein­zi­gen Aus­län­der unter circa 30 Teil­neh­mern, – ich die ein­zige Frau. Nel­son, der Scha­mane, erklärt uns den Ablauf. Es wurde uns ein Getränk gereicht, das er „Essenz des Wal­des“ nannte. Es war der Zau­ber­trank Aya­huasca, man nennt ihn auch Yagé, ein psy­cho­de­lisch wir­ken­der Pflan­zen­sud. Er sollte Geist, Seele und Kör­per glei­cher­ma­ßen rei­ni­gen und uns die Tür hin­ein ins Unter­be­wusst­sein öff­nen. Er bewirkt, dass man seine nega­ti­ven Ener­gien im wahrs­ten Sinne des Wor­tes her­aus­kotzt, um posi­tive auf­neh­men zu kön­nen. Eine wahre Ross­kur, aber eine sehr wirkungsvolle.

Das klingt nach Tor­tur. Und das woll­test du ausprobieren?

Na ja, ich dachte, wenn ich schon mal da bin! Tat­säch­lich hatte ich das Gefühl, dass ich mei­nen gan­zen Bal­last abge­wor­fen habe. Es war für mich ein unglaub­lich spi­ri­tu­el­les Erleb­nis, so inten­siv, wie ich es nie zuvor erfah­ren hatte. Ich war noch zwei Mal bei den Tai­tas, denn man hatte mir gesagt, der erste Besuch sei nur eine Art angst­vol­ler Ein­stieg. Jedes Mal war es eine andere Erfahrung. 

In Panama warst du bei den Kuna Indios…

Die Kuna wollte ich unbe­dingt besu­chen! Damals gab es kaum Infor­ma­tio­nen über sie. Die Kuna sind das ein­zige indi­gene Volk in ganz Ame­rika, das sich seine Auto­no­mie erkämpft und auch erhal­ten hat. Die Men­schen leben auf unge­fähr 350 klei­nen Koral­len­in­seln nörd­lich der Küste Pana­mas, den San Blas Islands. Dort­hin kommt man aller­dings nur mit dem Boot. Ich bin auf der „Hera“ mit­ge­fah­ren, die gehörte dem Skip­per Bill aus San Francisco.

Die Kuna leben noch wie vor hun­der­ten von Jah­ren in ein­fa­chen, mit Palm­we­deln gedeck­ten Hüt­ten mit offe­ner Feu­er­stelle, ohne Strom und Was­ser. Das holen sie sich vom nahen Fest­land. Sie leben in per­fek­ter Sym­biose mit der Natur. Sie ver­eh­ren Patcha Mama, die Mut­ter Erde als ihre große Göttin! 

Wie sind die Kuna euch damals begegnet? 

Als wir vor einer ihrer Inseln vor Anker gin­gen, kamen Ulus, Ein­bäume, auf uns zu. Darin waren etwa zwan­zig Kin­der, der Häupt­ling des Dor­fes und seine Stell­ver­tre­ter, die unser Boot nicht nur anse­hen, son­dern das Innere buch­stäb­lich mit den Hän­den „begrei­fen“ woll­ten. Das war für uns ein biss­chen viel. Wir erklär­ten unser Boot zu außer­ter­res­tri­schem Gebiet, zu dem nur Aus­er­wählte Zugang beka­men. Das hat gut geklappt. Wir durf­ten dann ihre Dör­fer anse­hen und wur­den mit grü­nen Bana­nen und Kokos­nüs­sen ver­kös­tigt. Ein­mal hat­ten die Dorf­be­woh­ner einen Tapir erlegt. Sie brach­ten uns davon ein Stück Fleisch zum Boot. Ich habe ver­sucht, es in der Pfanne zu bra­ten, aber es blieb so zäh, dass ich es heim­lich den Fischen spendete. 

 
Das war schon unge­wöhn­li­che Kost. Hast du eigent­lich etwas ver­misst auf dei­ner Reise?
Zwetsch­gen und Zwetsch­ge­n­knö­deln! Das war das ein­zige. Es gibt ja so viele köst­li­che Früchte und schmack­hafte Fische. Das habe ich genossen.

Braucht man viel Geld, um so eine lange Reise zu finanzieren? 

Ich habe viel weni­ger gebraucht als daheim, viel­leicht zehn Dol­lar am Tag. Für Essen, Unter­kunft, Bus – viel mehr war es ja nicht.  Meine Woh­nung zu Hause konnte ich damit beibehalten.


Hast du dich durch die Reise ver­än­dert? Oder anders herum: Hat die Reise dich verändert?

Das trifft zu. Ich habe erkannt, dass ich die Welt nicht ver­än­dern kann, aber ich habe gelernt, sie anders zu sehen. Viele Dinge sind mir nicht mehr so wich­tig. Ich bin gelas­se­ner geworden.


Bist du auch freier geworden?

Ja, sicher. Ich hatte zu Hause immer Ver­pflich­tun­gen, musste im All­tag immer funk­tio­nie­ren. Dort drü­ben war das alles unin­ter­es­sant. Da war ich nur die Inga aus Europa, nur ich selbst. Irgend­wie hat man sich dann auch selbst ein bis­serl lieber.


Bleibt die Sucht, die Reisesehnsucht?

Ja, die bleibt. Ich will noch­mals los­zie­hen mit dem Ruck­sack. Viel­leicht noch­mal nach Süd­ame­rika. Obwohl ich auch gerne etwas Neues ent­de­cken möchte. Thai­land zum Bei­spiel. Mal schauen!

Das Buch:
Ingrid Durst
Bil­der einer unge­wöhn­li­chen Reise
Kari­bik – Kuna Indios – Ama­zo­nas – Scha­ma­nen & Mis­ter Bill
324 Sei­ten
978–3‑8370–6937‑2 (ISBN)
24.90 Euro

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Christine Corlett

Christine Corlett ist eine erfahrene Journalistin und Sozialpädagogin. In ihrer Laufbahn arbeitete sie für den Hessischen Rundfunk als Redakteurin und Autorin. Jetzt nutzt sie ihre Fähigkeiten und Erfahrungen als freie Autorin. Christine war zuletzt mit dem VW-Bus in ganz Europa unterwegs.

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