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Diarrhö auf dem Dach der Welt

„Sor­ry, the oxi­gen is out of order“. Als die­se knir­schen­de Durch­sa­ge im Zug auf gut 5000 Metern an mein Ohr dringt, lie­ge ich geis­tig umne­belt auf mei­ner Buch­rü­cken-brei­ten Prit­sche und kon­zen­trie­re mei­ne letz­ten Sin­ne dar­auf, kein unfrei­wil­li­ges Stage­di­ving auf der chi­ne­si­schen Karao­ke-Grup­pe unter mir ein­zu­le­gen. Ich kann mich nicht bewusst an die letz­ten 24 Stun­den erin­nern und star­re seit Ewig­kei­ten an die Decke, wo hin und wie­der ein Ein­horn über einen Regen­bo­gen springt. Wie bin ich noch mal in die­ser Situa­ti­on gelan­det?

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Vier Wochen zuvor sit­ze ich beim Arzt mei­nes Ver­trau­ens und er schaut mich an, als ob ich ihm gera­de erzählt hät­te, dass ich mei­ne Nie­re in einer Wan­ne vol­ler Eis spen­den möch­te. „Sie wis­sen schon, dass Ihr Kör­per kei­nen Bei­fall klat­schen wird, wenn Sie 3500 Meter Höhen­un­ter­schied in einer Stun­de mit dem Flug­zeug über­win­den. Höhen­krank­heit – klin­gelt da was bei Ihnen?“
Mir wür­de es schon rei­chen wenn mein Kör­per nicht kom­plett den Dienst ver­wei­gert und auf dem Land­weg kom­me ich als Allein­rei­sen­de nicht über die Gren­zen. Jetzt habe ich schon die chi­ne­si­sche Bot­schaft beschis­sen also But­ter bei die Fische: Wel­che Tablet­ten muss ich neh­men? Erst mal bekom­me ich ein besorg­nis­er­re­gen­des Stirn­run­zeln gefolgt von einem Vor­trag über gefühl­te 100 Neben­wir­kun­gen, die absur­der wei­se genau den Sym­pto­men der Höhen­krank­heit ent­spre­chen.

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Ich muss an die­sen väter­li­chen Vor­trag den­ken als ich in mei­ner ers­ten Nacht in Lha­sa im Bett lie­ge und ange­spannt jedes Signal mei­nes Kör­pers über­wa­che. An Schlaf ist trotz tota­ler Über­mü­dung nicht zu den­ken. Schlaf­lo­sig­keit – check. Seit drei Tagen neh­me ich die Tablet­ten, seit drei Tagen habe ich nichts mehr geges­sen. Appe­tit­lo­sig­keit – check. Der Mann mit dem Vor­schlag­ham­mer in mei­nem Kopf leis­tet gan­ze Arbeit. Kopf­schmer­zen – check. Ich muss schon wie­der aufs Klo. Durch­fall – check. Das Auf­ste­hen vom Bett nimmt mir die Luft. Atem­knapp­heit – check. Wie­so steht die Tee­tas­se auf der Toi­let­ten­spü­lung? Geis­ti­ge Ver­wir­rung – check. Fal­scher Alarm. Doch kein Durch­fall. Aber wo ich schon mal hier bin, kann ich noch kurz kot­zen. Brech­reiz – check. Mein Kör­per ist wirk­lich weit davon ent­fernt, Bei­fall zu klat­schen, aber als ich erschöpft in den Ses­sel vorm Fens­ter sin­ke, läch­le ich selig in die tibe­ti­sche Nacht.

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Nach einer Woche in Lha­sa habe ich eine gewis­se Rou­ti­ne mit den Ver­än­de­run­gen mei­nes Kör­pers gefun­den und eine umfas­sen­de Kennt­nis der öffent­li­chen Klos oben­drein. Mit den meis­ten Sym­pto­men habe ich mich sto­isch arran­giert und die geis­ti­ge Ver­wir­rung tut ihr übri­ges. Es wird Zeit auf­zu­bre­chen – dem Mount Ever­est ent­ge­gen über das tibe­ti­sche Pla­teau. Aber mal ehr­lich, gibt es einen beschis­se­ne­ren Ort für Durch­fall als das Dach der Welt? Kein Baum, kein Strauch, nur eine schier end­lo­se Wei­te und eine deut­lich erkenn­ba­re Erd­krüm­mung am Hori­zont, wie ich sie sonst nur am Meer gese­hen habe. Die nächs­ten Tage wer­den mei­ne See­le und mein Kör­per in unter­schied­li­cher Erin­ne­rung behal­ten. Glück­see­lig­keit und Leid lie­gen schmerz­haft eng bei­ein­an­der. Im Nach­hin­ein erin­ne­re ich mich nur sche­men­haft an ein­zel­ne Momen­te und doch war ich sel­ten so klar und bewusst wie in Tibet.

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Ich leh­ne im Tor­bo­gen eines Klos­ters auf rund 5600 Metern und schla­fe vor Erschöp­fung und See­len­frie­den im Ste­hen ein, wäh­rend ein Mönch rhyth­misch den Innen­hof fegt. Ich lie­ge einem alten Mann wei­nend in den Armen, nach­dem er mir wort­los drei damp­fen­de Kar­tof­feln in die Hän­de drückt und ich nach zwei Wochen Flüs­sig­nah­rung die­se dre­cki­gen Erd­knol­len mit Heiß­hun­ger her­un­ter­schlin­ge. Ich hocke mit bren­nen­den Ober­schen­keln in einer öffent­li­chen „Open-Air-Toi­let­te“ neben einer zukünf­ti­gen Braut und habe eine Aus­sicht, die ich mir ernst­haft als Foto­ta­pe­te an mei­ner Wand vor­stel­len könn­te. Ich ste­he mit her­aus­ge­streck­ter Zun­ge einem Mönch gegen­über, der miss­trau­isch mei­ne Mund­höh­le nach grü­nen Spu­ren absucht, um zu sehen, ob ich von bösen Geis­tern beses­sen bin. Ich tei­le eine Trä­ne mit einem klei­nen Jun­gen, der nach minu­ten­lan­gem Zögern mein „gol­de­nes Haar“ berührt und mich mit Trä­nen in den Augen anlä­chelt.

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Nun sit­ze ich seit Stun­den mut­ter­see­len­al­lein in der Lob­by mei­nes Hotels und hof­fe instän­dig auf das Mit­leid und die Medi­ka­men­te ande­rer Tou­ris­ten. Mei­ne Rei­se­apo­the­ke ist so leer wie mein Magen und wenn ich an die kom­men­den Tage den­ke, erscheint mir Homers Odys­see wie ein lau­schi­ger Spa­zier­gang. Zwei Tage in end­lo­sen Ser­pen­ti­nen zurück nach Lha­sa, danach 48 Stun­den mit der höchs­ten Eisen­bahn der Welt nach Cheng­du und im direk­ten Anschluss noch mal 20 geschmei­di­ge Flug­stun­den nach Frank­furt.

Tibet (2)

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Von irgend­wo­her dringt das Wort „Fuck“ an mein Ohr. Das ist mein Stich­wort, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes. Und tat­säch­lich: eine Grup­pe erschöpf­ter Tou­ris­ten entert mit stör­ri­schen Roll­kof­fern die Lob­by. So schnell es mei­ne kör­per­li­che Ver­fas­sung erlaubt, schlep­pe ich mich zum Anfüh­rer der Grup­pe und set­ze mein strah­lends­tes Lächeln auf: „Hi, I am Julia, I have the shits and I need drugs! Nice to meet you.“
Auch wenn man es nach dem Spruch nicht ver­mu­ten soll­te, sit­ze ich zehn Minu­ten spä­ter im Hotel­zim­mer eines 21-jäh­ri­gen, gut­ge­bau­ten Mexi­ka­ners. Chris ist der „Pri­vat­arzt“ der freund­li­chen Rei­se­grup­pe und hat schon fast das Grund­stu­di­um geschafft, wie er mir nicht ohne Stolz erzählt. Nach­dem ich per­ma­nen­tes Kacken und Kot­zen so euphe­mis­tisch wie mög­lich umschrie­ben habe, hält mir Chris eine Hand voll grü­ner Tablet­ten unter die Nase. „Wenn du die nächs­te Zeit Ruhe haben willst, nimm eine pro Tag. Aber pla­ne ein paar Stun­den am Klo ein, wenn du mit den Din­gern auf­hörst!“ Was mich neben der gift­grü­nen Far­be wirk­lich beun­ru­higt, sind die klei­nen Smi­leys, die mich von den Tablet­ten angrin­sen. Noch wäh­rend ich das Zim­mer ver­las­se, bin ich mir tau­send­pro­zen­tig sicher, dass ich kei­ne ein­zi­ge die­ser Neon­grü­nen-Smi­ley-Ecsta­sys jemals anrüh­ren wer­de.

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Nach einer wei­te­ren  Stun­de Kuscheln mit der Klo­bril­le, wer­fe ich mir gera­de­zu eupho­risch die ers­te Pil­le in den Rachen und spü­le mit abge­stan­de­ner Cola nach.  Die nächs­ten zwei Tage füh­le ich mich wie neu­ge­bo­ren. Mein Ver­dau­ungs­ap­pa­rat hat sämt­li­che Funk­tio­nen vor­über­ge­hend ein­ge­stellt und ich kann mit See­len­ru­he die­ses wun­der­vol­le Land genie­ßen. Als mein Gui­de mir erzählt, dass die chi­ne­si­sche Regie­rung die kom­plet­te 1. und 2. Klas­se der Lha­sa Bahn für sich beschlag­nahmt hat und ich nur noch im „Hard Slee­per Abteil“ mit­fah­ren kann, sehe ich dem Gan­zen dank mei­ner neu­en Wun­der­pil­le gelas­sen ent­ge­gen.

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Und hier lie­ge ich nun – mit der Nasen­spit­ze knapp unter der Decke einer rol­len­den Sar­di­nen­büch­se, die angeb­lich 4 Per­so­nen Platz bie­ten soll. Ich habe jeg­li­ches Zeit­ge­fühl ver­lo­ren und sämt­li­che elek­tro­ni­schen Gerä­te haben auf dem letz­ten Pass ihren Geist auf­ge­ge­ben. Mein iPod hängt seit Stun­den an dem Wort ´Auen­land› aus mei­nem „Herr der Rin­ge“ Hör­buch fest, mein Han­dy leuch­tet dumpf und koma­tös vor sich hin und mei­ne Kame­ra bleibt hart­nä­ckig schwarz. Die Licht­strah­len hin­ter der ver­siff­ten Schei­be könn­ten die Mor­gen­däm­me­rung sein, oder viel­leicht doch das Licht am Ende des Tun­nels?

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„In the sum­mer of ´69´- oh yeaaaahh“. Ach ja rich­tig, mei­ne rück­sichts­vol­len Mit­rei­sen­den haben alle ihre Freun­de zum Karao­ke in unser Zug­ab­teil ein­ge­la­den und aktu­ell grö­len, rülp­sen  und fur­zen sie­ben Chi­ne­sen Bri­an Adams über das Dach der Welt. Das Geruchs­sym­po­si­um erstreckt sich von Nudel­sup­pe über Kör­per­aus­düns­tun­gen, Schweiß­fü­ße, Mund­ge­ruch bis hin zum voll­ge­pin­kel­tem Müll­ei­mer, in dem einer mei­ner Ohro­pax trau­rig sei­ne Bah­nen zieht. Die zwei erreich­ba­ren Toi­let­ten in unse­ren Wagons sind seit der letz­ten Mor­gen­däm­me­rung ver­stopft und ergie­ßen ihren Inhalt in war­men Wel­len über die Flu­re. Das kna­cken­de Geräusch eines Nagel­klip­pers reisst mich aus mei­nen Gedan­ken und ich kau­re mich noch ein wenig enger an die eis­kal­te Wand, um nicht von her­um­flie­gen­den Fuß­nä­geln getrof­fen zu wer­den. Kann es eigent­lich noch schlim­mer kom­men? Wäh­rend ich mit einer Hand ver­zwei­felt nach mei­nem Des­in­fek­ti­ons­spray kra­me, tref­fen die  ers­ten Son­nen­strah­len des Tages auf die mit Eis­kris­tal­len über­zo­ge­ne Schei­be und tau­chen die Welt in tau­send Far­ben – ich habe noch nie im Leben etwas Schö­ne­res gese­hen …

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Antworten

  1. Avatar von Big-Jo

    He Julia,

    ehr­lich, nach jedem Satz hab ich dich inner­lich ange­feu­ert und hab mit dir mit­ge­figh­tet. Eine amt­li­che »Becker­faust« für dei­nen Erfolg.

    Erst ein­mal wun­der­ba­rer Text, der, auch wenn dei­ne Situa­ti­on zeit­wei­se »ziem­lich« aus­weg­s­los aus­sah, das Lachen konn­te ich mir nicht ver­knei­fen. Gefällt mir, dein Humor.
    Und gene­rell, das Aben­teu­er »Mount-Ever­est«, dar­über muss man nicht schna­cken: »DAS ULITMATIVE ERLEBNIS« eines jeden Rei­sen­den! Zuge­ge­ben, der dafür den nöti­gen Mut auf­f­bringt und das hast du getan.
    Also, Hut ab und Glück­wunsch!

    Aber das wich­tigs­te bleibt doch, dir gehts gut und das einem glück­li­chem Lachen im Gesicht.

    Bes­te Grü­ße

    1. Avatar von Julia Karich
      Julia Karich

      Hey Big Jo

      dan­ke für die lie­ben Wor­te und die »Becker­faust«, sogar eine amt­li­che:)
      Und schön, dass die Aus­sa­ge des Tex­tes rüber­ge­kom­men ist: Die­ses Land lässt einen strah­len, egal wie tief man grad über der Klo­bril­le hängt …

  2. Avatar von Alex

    Hal­lo Julia,

    Du hast ja offen­sicht­lich das Bes­te dar­aus gemacht und wie Du schon rich­tig schreibst, kön­nen Leid und Glück­see­lig­keit ganz nah bei­ein­an­der lie­gen.

    Lie­be Grü­ße