Der wahre Zugfriedhof

Bolivien, August 2011.

In Bolivien, in der Nähe des riesigen Salzsees, gibt es einen Zugfriedhof. Wenn Touristen organisierte Fahrten in den Salzsee unternehmen, bleiben die Tourfahrzeuge für gewöhnlich auch beim Zugfriedhof stehen, wo alle mit ihren Kameras bewaffnet auf die alten, ausrangierten Züge zustürmen und um die Wette fotografieren. Ein skurriles Bild. Wenn die Touristen von den Fahrern dann nach einer viertel Stunde wieder eingesammelt werden und sich der Konvoi gen Salzwüste entfernt, haben die Züge wieder ihre Ruhe und können mit Gelassenheit weiterrosten. Bis zum nächsten Touristen-Ansturm.Was aber die meisten Touristen nicht wissen ist, dass es noch einen anderen Zugfriedhof gibt. Ein Friedhof, auf dem die Züge tatsächlich in Frieden ruhen dürfen. Es braucht kein teures Tourfahrzeug, um diesen Friedhof zu besuchen. Er liegt mitten in der Stadt. Ein Bekannter, der in einem Tourismusbüro arbeitet und mir bei einer Reportage mit Kontakten aushilft, will ihn mir zeigen.Wir laufen die staubigen Straßen der bolivianischen Kleinstadt entlang, an bellenden Hunden vorbei. Wir begegnen kleinen Kindern, die nur notdürftig gegen das kalte Wetter in Kleidung gepackt sind. An einer unauffälligen Mauer macht mein Bekannter Halt. Ein kleines Tor befindet sich an dieser Stelle. Er öffnet es und sogleich kommt uns Geschrei entgegen. Wir steigen durch die Öffnung in der Mauer und stehen auf einem provisorischen Fußballplatz, auf dem junge Männer einem Ball hinterherlaufen. Wir überqueren den kleinen Platz und stehen vor einer weiteren Mauer, nicht sehr hoch. Es ist ein komisches Gefühl, über das Betonkonstrukt zu klettern, so als wären wir Einbrecher. Vielleicht sind wir das auch irgendwie, denn hinter der Mauer befindet sich das, was normalerweise verlassen und ungestört vor sich hinvegetiert: der wahre Zugfriedhof.

Verlassen liegt er da, aussortiert, ungebraucht. Dunkelgrüne Farbe dominiert den Platz, an manchen Stellen hat sie sich vom Holz gelöst und sich der Schwerkraft hingegeben. Auch hier beginnt der Rost überhandzunehmen. Viele der Eisenbahnstrecken in Bolivien sind inzwischen stillgelegt oder waren in Planung, wurden aber nie gebaut. Pflanzen breiten sich jetzt über die alten Züge aus, nehmen Raum ein, erheben sich über den Zeugnissen glorreicher Zeiten, als man in Bolivien noch mit der Bahn durch das Land reiste. Die harten Holzbänke wirken nicht bequem, früher waren sie aber vermutlich gemütlicher, als jedes Pferdegespann.

In andächtiger Stille schleichen wir durch die alten Wagons, beschließen dann, ihnen ihre Ruhe wiederzugeben. Wir gehen zurück zur Mauer, klettern hoch, ein Blick noch zurück, wo die alten Lokomotiven monströs in der Abendsonne wegdösen. Dann springen wir auf den Sportplatz, wo die jungen Männer aufgehört haben Fußball zu spielen. Ob sie wissen, was sich hinter der Mauer verbirgt?

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Antworten

  1. Avatar von Kathrin Drewke

    Es zeigt sich, dass es sich lohnt, wort­wört­lich Mau­ern zu über­win­den und ein Land auch abseits der offi­zi­el­len Sehens­wür­dig­kei­ten ken­nen­zu­ler­nen.

    1. Avatar von 100 Sterne und Mond
      100 Sterne und Mond

      Auf alle Fäl­le, genau die­ses über-die-Mau­ern-stei­gen macht für mich Rei­sen aus 🙂

  2. Avatar von Anemina

    Ui, den wür­de ich mir auch ger­ne mal angu­cken! Klingt sehr roman­tisch 🙂

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