Die schöns­ten Rei­se­er­fah­run­gen sind oft die, die nicht im Rei­se­füh­rer ste­hen und sich auch nicht so leicht nach­ah­men las­sen. Die einem in den Schoß fal­len, wäh­rend man dabei ist, andere Rei­se­pläne zu machen. Die schöns­ten Rei­se­er­fah­run­gen sind Gele­gen­hei­ten, die man mit bei­den Hän­den ergreift.

Am Anfang das Ende

Ich lau­sche den gos­pel­ar­ti­gen Gesän­gen der Lai­en­band und schaue Tan­zen­den zu. Junge Frauen dre­hen Sel­fie-Videos, ste­cken die Köpfe zusam­men und kichern. Bier- und andere fla­schen wer­den in dem sti­cki­gen Raum ver­teilt, an die Lip­pen gesetzt und zügig geleert, damit Nach­schub kommt. Die Sän­ger schreien mit geschlos­se­nen Augen ins Mikro­fon, stamp­fen wie in Trance mit den Füßen auf den Boden. Der strenge Blick einer älte­ren Frau trifft mei­nen – von meh­re­ren bun­ten, bedruck­ten T‑Shirts, wel­che die Sän­ger und Tän­zer tra­gen. Gän­se­haut über­zieht mei­nen Nacken. „Gol­die“ steht fett unter dem auf­ge­druck­ten Foto der streng aus­schau­en­den Dame, dar­über „Gone but not for­got­ten“. Auf dem Rücken der T‑Shirt-Trä­ger prangt eine rie­sige, blaue 80, wie auf einem Fuß­ball­tri­kot. So alt ist Gol­die gewor­den. Je län­ger ich dort sitze, den Geschich­ten und Gesän­gen lau­sche und den Blick auf die lachen­den Gesich­ter richte, um die Trä­nen und schmerz­ver­zerr­ten Mie­nen auf der ande­ren Seite nicht zu sehen, desto mehr glaube ich, Gol­die auch gekannt zu haben. Denn die größte Dorf­party ist nun mal auch Gol­dies Toten­feier. Und ich bin mit­ten­drin. Wieso, das ist eine lange Geschichte.

Die Ankunft

Ich bin auf Andros, der größ­ten Baha­mas-Insel, so groß, dass ihre Land­masse locker alle ande­ren Inseln des Lan­des abde­cken würde, und sie ist sogar die fünft­größte Kari­bik­in­sel. Dabei dau­ert der Flug von Nas­sau – nach einem spä­ten Check-in durch eine Frau mit lila Haa­ren – schlappe 15 Minu­ten, mit Zwi­schen­stopp auf Süd-Andros.

Ob man in den Süden, ins Zen­trum oder in den Nor­den will, sollte man vor­her genau wis­sen. Jeder Teil ver­fügt über einen eige­nen Flug­ha­fen, und der Süden ist durch breite Mee­res­arme vom Nor­den abge­schnit­ten und wird nur sel­ten per Boot ange­fah­ren. Im Ver­gleich zu vie­len der etwas ‚schi­cke­ren‘ Baha­mas-Inseln wird der Natur­star Andros weni­ger besucht. Zwar gibt es hier das für Tau­cher span­nende, dritt­größte Bar­rier Reef der Welt und unzäh­lige Sink­lö­cher, blue holes, in denen die mys­ti­sche Gestalt ‚Lusca‘ woh­nen soll, aber ansons­ten über­wie­gend Dschun­gel und Wild­nis. Auf Andros sucht man ver­geb­lich nach den Stars und Stern­chen oder schwim­men­den Schwei­nen, wel­che die Exuma-Inseln bevöl­kern, und auch 4- und 5‑S­terne-Glit­zer­bun­ker und Casi­nos sind dort Wel­ten entfernt.

Der Flug­ha­fen von Cen­tral Andros, wo ich lande, ist so groß wie der durch­schnitt­li­che Kram­la­den um die Ecke und ähn­lich geschäf­tig, wenn ein­mal pro Tag eine Maschine lan­det. Ver­fah­ren ist auf der Insel aus­ge­schlos­sen – es gibt näm­lich nur eine ziem­lich stau­bige Straße ent­lang der Ost­seite, und solange man kapiert, wo Nor­den und Süden sind, ist alles gut.

Es exis­tie­ren Orte, da werde ich von irgend­ei­nem Kahn oder – im Falle von Andros – von einer klapp­ri­gen Pro­pel­ler­ma­schine aus­ge­spuckt und fühle mich ange­kom­men. Bis­her war das noch nie in den wum­mern­den Mega­ci­tys der Welt der Fall, da möchte ich mich zuerst ein­mal ver­krie­chen. Am ein­fachs­ten ist das Ankom­men für mich dort, wo es fast nichts gibt. Oder doch, das Meer gehört meis­tens dazu. Und viel Natur. Auch einige wenige Men­schen, die bei mei­nem Anblick keine Dol­lar­zei­chen in den Augen haben. Andros ist mein Para­dies. Vom ers­ten Moment an. Es müsste gar nicht Weiß auf Schwarz an einem Auto­kenn­zei­chen ste­hen, ich würde es an die­sem Ort auch so spü­ren: „No worries. God’s got it covered.“

Die Aus­wahl an Unter­künf­ten ist klein, dar­un­ter die Small Hope Bay Lodge unweit von Andros Town, die 1960 von dem Kana­dier Dick Birch eröff­net und heute noch von des­sen Sohn Jeff und den Enkel­kin­dern Casey und Bryan – mitt­ler­weile wasch­ech­ten Baha­maern, halt nur weiß – wei­ter­ge­führt wird.

Die „kleine Hoff­nung“ für Gäste besteht darin, dass sie für kurze Zeit ohne Ablen­kung durch die hek­ti­sche und vir­tu­elle Welt (das WiFi funk­tio­niert so lala in der Lobby und wird beim Essen ganz abge­stellt – die Leu­ten sol­len gefäl­ligst mal mit­ein­an­der reden, statt aufs Dis­play zu star­ren) in Hän­ge­mat­ten mit Blick auf rol­lende Wel­len und tür­kis­far­be­nes Was­ser ent­span­nen kön­nen. Dolce far niente aus­drück­lich erwünscht.

Aber auch für die Ein­hei­mi­schen stellt die Lodge mit ihren Bun­ga­lows am Meer einen Hoff­nungs­fun­ken dar, denn sie ist neben der Insel­re­gie­rung und dem ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär der Haupt­ar­beit­ge­ber in die­sem Teil von Andros. Wie immer, wenn es mir an einem Ort so rich­tig gut gefällt, juckt es mich, zu erfah­ren, wie man dort lebt und was die Men­schen zwi­schen dem Auf­ste­hen und Zubett­ge­hen anders als ich oder aber gleich machen. Also ziehe ich los.

Bei der Arbeit

Etwas, das viele Andro­si­ans in Cen­tral Andros tun, ist arbei­ten. Andros steht neben sei­ner Natur auch für Andro­sia hand­ge­machte Batik, die Baha­mas-weit bekannt ist. „Meine Groß­mutter hat in den spä­ten 60ern am Strand damit begon­nen“, erzählt mir Casey. „Sie bemalte Stoffe mit Wachs und färbte sie, und die ein­hei­mi­schen Frauen näh­ten dar­aus Klei­dung.“ 1973 wurde eine Tex­til­ma­nu­fak­tur gegrün­det, die bis heute floriert.

Ich fahre hin und treffe Phyl­lis Bain, die mir den Pro­duk­ti­ons­pro­zess zeigt. Ich kann mir nicht rich­tig vor­stel­len, wie man mit Wachs Figu­ren auf T‑Shirts, Röcke, Vor­hänge und Tisch­de­cken zau­bern kann, bis ich selbst Hand anlege. Phyl­lis drückt mir einige For­men in die Hand, die man an einem eiser­nen Griff hält, in hei­ßes, flüs­si­ges Wachs tunkt und dann auf die gewünsch­ten Tex­ti­lien presst. Sie sind ein biss­chen wie über­di­men­sio­nale Weihnachtsplätzchen-Ausstecher.

Die ers­ten Male drü­cke ich viel zu fest, die For­men ver­schwim­men. Bis mir däm­mert, dass es umso schö­ner wird, je leich­ter ich auf­setze und je weni­ger ich dar­über nach­denke. Ich darf mir selbst ein T‑Shirt bedru­cken, vol­ler Vögel und Fische und Muscheln. Mit einem Wachs-Stift kann man auch etwas schrei­ben. Bald halte ich ein tür­kis­far­be­nes Tank-Top in den Hän­den, in der Farbe des baha­mai­schen Mee­res, mit wei­ßen Figu­ren. Auf dem Rücken steht „Love my life“.

Auch Laverne ist begeis­tert von mei­nem neuen Shirt – die große, stäm­mige Ver­käu­fe­rin im Laden von Andro­sia Hand Made Batik. Sie trägt die­selbe Farbe Shirt wie ich, lauscht christ­li­chen Gesän­gen aus dem Radio in vol­ler Laut­stärke und plau­dert so viel und schnell, als komme Jesus Chris­tus sie sonst höchst­per­sön­lich holen.

In brei­tem baha­mai­schen Dia­lekt erklärt sie mir, dass sie bereits seit 22 Jah­ren für Andro­sia Batik arbeite. „Ich wohne oben im Nor­den, komme jeden Mor­gen eine Stunde mit dem Bus hier­her und fahre um 16.30 Uhr wie­der zurück.“ Es sei der ein­zige Bus am Tag, um die Leute von Nor­den nach Süden zur Arbeit zu fah­ren. Ihre Toch­ter wohne auf Nas­sau und bringe öfter Sachen aus der Haupt­stadt mit, doch müsse man für Waren auf der Fähre extra zah­len. „Außer­dem kommt die Fähre nur am Frei­tag­mor­gen.“ Als ich eine Batik­hose anpro­biere, sieht mir Laverne nei­disch zu. „Ich passe da nicht rein, aber meine Schwes­ter schon, und die hat vier Kin­der!“ Sie selbst habe neben ihrer Toch­ter nur einen Sohn, 16. „Er ist schreck­lich, schaut nur den Mädels nach! Ich sage ihm immer, er soll lie­ber mal ler­nen. Vom Mädels­gu­cken kommt kein Job.“

On the road

Oft treffe ich die inter­es­san­tes­ten Men­schen auf Rei­sen irgendwo am Weges­rand. Und auf der Straße ist es, dass ich den Baha­mas weit hin­ter der Glit­zer­fas­sade näher­komme. Einem Land mit ganz nor­ma­len, aber auch außer­ge­wöhn­li­chen Men­schen, die in den Urlaubs­bro­schü­ren nicht abge­druckt wer­den, denen man in den Tou­ris­ten­tem­peln nicht begeg­net und die sich auch nicht für die Hol­ly­wood-Stars inter­es­sie­ren, die ihre schöns­ten Inseln auf­kau­fen. Wie an mei­nem zwei­ten Tag auf Andros, als ich mir einen der kos­ten­lo­sen Draht­esel an der Lodge schnappe und los­ra­dele. Nach weni­gen Gesprä­chen ist klar: Alle auf Zen­tral-Andros ken­nen ein­an­der. Hya­c­inth Hanna, die Ver­käu­fe­rin aus einem Laden ent­lang der Straße Rich­tung Nor­den, der sowohl Ersatz­teile für Ven­ti­la­to­ren und andere Elek­tro­ge­räte als auch Klo­pa­pier und Sou­ve­nirs anbie­tet, kennt Phyl­lis aus dem Batik­shop, mit der sie für die Cen­tral Andros Han­di­craft Asso­cia­tion tätig ist.

Und sie kennt Hen­der­son New­ton, der 2007 an der Haupt­straße begann, mit blo­ßen Hän­den ein Haus und Restau­rant aus Holz und Stei­nen auf­zu­bauen, das er drei Jahre spä­ter fer­tig­stellte. „Ich habe viele Feinde“, ver­rät er mir, als ich das urige Gebäude betrete, in dem es nach fri­schem Weih­nachts­baum und Fleisch­suppe riecht. „Die sind alle nei­disch auf mein Haus.“ Nun, da er sich sei­nen Traum erfüllt habe, sei er ver­zwei­felt auf der Suche nach einem neuen Ziel, denn er könne nicht ein­fach taten­los rum­sit­zen. „Das Leben macht nur Sinn, wenn man auf etwas hin­ar­bei­ten kann.“

Das sieht auch der 76-jäh­rige ‚Daddy Cool‘ so, der im Sicher­heits­büro einer Feld­sta­tion unweit von Hen­der­sons Restau­rant arbei­tet. Er steht am See mit einem über­di­men­sio­na­len Stroh­hut auf dem Kopf, einem wei­ßen Hemd und ebenso wei­ßen Gum­mi­stie­feln, schwar­zer Hose, einem Fern­glas um den Hals und einem fre­chen Lächeln auf den Lip­pen. Die Wind­schutz­scheibe sei­nes roten Gelän­de­wa­gens zie­ren die Let­ter ‚Daddy Cool‘. „Komm zu mir, Baby“, lockt er mich an, und schließt mich in seine Arme wie eine lang­jäh­rige Freun­din. Ich deute auf sein Auto, frage, was es mit Daddy Cool auf sich habe. „Seit mei­ner Hei­rat bin ich Daddy Cool“, erzählt mir der alte Mann, der mit bür­ger­li­chem Namen Max Well Roberts heißt. „Da habe ich mir gedacht, jetzt darf ich kei­ner Ver­su­chung mehr nach­ge­ben und muss ganz cool blei­ben. Wir haben keine Mög­lich­keit, Gott zu ent­kom­men, dann kön­nen wir auch ein­fach cool sein.“ Bald kommt das Gespräch dar­auf, ob er Kin­der habe. „Neun Stück!“, brüs­tet er sich. „Alle von dei­ner Frau?“ Max lacht laut auf, nimmt mich fes­ter in den Arm. „Von ver­schie­de­nen Frauen!“ Mitt­ler­weile arbeite er auch als Pas­tor für die Church of God und danke Jesus jeden Mor­gen für sein Leben.

Und dann treffe ich Eliza­beth Hanna, über meh­rere Ecken ver­wandt mit der Ver­käu­fe­rin Hya­c­inth und eine Busch­me­di­zi­ne­rin. Die Busch­me­di­zin sei auf Andros über Jahr­hun­derte hin­weg über­lie­fert wor­den, vor ihr hät­ten sich bereits ihre Mut­ter und Groß­mutter in der Kunst der Pflan­zen und deren Heil­kraft geübt. Nach ihrer Pen­sio­nie­rung als Schul­leh­re­rin habe sie sich ganz der natür­li­chen Medi­zin gewid­met und der Can­cer Society, einer mitt­ler­weile staat­lich unter­stütz­ten Krebs­sta­tion in dem klei­nen Dorf Love Hill. „Ich ver­su­che, Tref­fen für Frauen mit Brust­krebs zu orga­ni­sie­ren, damit sie sich aus­tau­schen kön­nen und ver­nünf­tig behan­deln las­sen. Aber kaum eine kommt.“ Dabei sei die Brust­krebs­rate auf Andros hoch und viele Frauen näh­men den Flug nach Nas­sau, um sich behan­deln zu las­sen, nicht in Kauf und ver­schwie­gen ihre Krank­heit lie­ber – und das, obwohl die Can­cer Society die Flug­kos­ten für Kon­troll­un­ter­su­chun­gen in Nas­sau regel­mä­ßig über­nehme. Schuld an der Krank­heit sei vor allem der schlechte Lebens­wan­del mit kaum Bewe­gung und zu fet­tem Essen. „Es gibt nur einen Arzt für ganz Cen­tral Andros, und der wech­selt auch noch monat­lich.“ Ein Zahn­arzt komme gar nur spo­ra­disch auf die Insel, und bei Zahn­schmer­zen müsse man halt rüber nach Nas­sau flie­gen. Mitt­ler­weile hat sich Eliza­beth die Zusam­men­stel­lung orga­ni­scher Tees zur Haupt­auf­gabe gemacht. „Viele Pflan­zen wach­sen in mei­nem Hin­ter­hof.“ Soge­nann­ter Mor­inga-Tee bei­spiels­weise sei gut gegen alle Arten von Krebs, Ros­ma­rin sei gut fürs Gedächt­nis und ‚Love vine‘ (Gro­no­vius-Seide) ein ech­tes Aphrodisiakum.

Nach mei­nem gesprächs­rei­chen Mor­gen mache ich mich auf den Weg zum angeb­lich schöns­ten Strand von Cen­tral Andros, Somer­set Beach. Denn wer auf Andros nicht auch ein wenig chillt, ist so blöd wie einer, der nach Paris fährt und den Eif­fel­turm nicht anschaut. Kurz hin­ter der Small Hope Bay Lodge schallt laute, fröh­li­che Musik aus einem Haus und meh­rere Leute schlep­pen Tra­ge­ta­schen und Bier­käs­ten ins Haus. Im Gar­ten baut jemand Laut­spre­cher auf. „Macht ihr eine Party?“, frage ich. „Es gibt heute Abend eine Toten­feier für Gol­die, die Mut­ter von Sammy, dem Bar­be­sit­zer, du kannst auch kom­men!“ An Sammy‘s Bar bin ich schon vor­bei­ge­ra­delt, aber ich kenne den Mann nicht, kannte auch seine Mut­ter nicht. Ich stelle mir vor, in Deutsch­land würde ein unge­be­te­ner, unbe­kann­ter Gast bei einer Toten­feier erschei­nen und schüt­tele ent­schie­den den Kopf.

Auf dem Weg zum Strand komme ich durch zahl­rei­che kleine Gemein­den, die stets mit einer Kir­che, einer Bar und einem Lot­te­rie­la­den aus­ge­stat­tet sind, soge­nann­ten ‚num­ber shops‘. Es gibt nur einen ein­zi­gen Super­markt, gut kaschiert als ‚Mable’s Meat Mart‘. Kurz vor der Schule über­holt mich auf der fast auto- und men­schen­lee­ren Straße ein Jeep. „Drive safe, Baby“, ruft der Fah­rer aus dem geöff­ne­ten Fenster.

Ich fahre am Flug­ha­fen vor­bei, rund um ein ame­ri­ka­ni­sches Mili­tär­ge­lände herum, das direkt an der Küste liegt. Nir­gends gibt es Schil­der, auch nicht bei der Abzwei­gung zum Strand. Warum auch? Hier ist jedem alles so ver­traut, dass nichts mehr aus­ge­wie­sen wer­den muss. Ich pro­biere den nächst­bes­ten Schot­ter­weg in Rich­tung Meer, durch ein Wald­stück, fahre ver­se­hent­lich einer Schlange über den Schwanz und siehe da – ein per­fek­ter wei­ßer Sand­strand und blaues Was­ser eröff­nen sich vor mir wie die erste Seite eines ver­hei­ßungs­vol­len Buches. In der Ferne sehe ich eine Frau mit einem Hund am Ufer ent­lang­spa­zie­ren – Casey, wie ich bald fest­stelle – und als auch sie ver­schwin­det, habe ich bestimmt zwei Kilo­me­ter kari­bi­schen Strand für mich allein.

Das Gefühl, los­zu­ren­nen und mein Glück laut hin­aus­schreien zu wol­len, über­kommt mich. Ich gebe ihm nach. Hier gibt es nie­man­den, der mich sieht, hört und be- oder ver­ur­teilt. Denn ist es nicht oft die Furcht vor der Wer­tung, die uns ein­schränkt und uns flüs­tert, unsere Gefühle, posi­tiv oder nega­tiv, lie­ber tief in einer Kiste unterm siche­ren Deckel zu ver­wah­ren? Hier, an die­sem Strand in Andros, brau­che ich keine Kis­ten und schon gar keine Deckel. Ich brau­che nicht mal Klei­dung. Alles, was ich brau­che, habe ich: fein­san­di­gen Strand, Sonne, ein Hand­tuch, ein Lunch aus Sand­wi­ches, Obst und Jogurt und mein Notiz­buch, in dem ich die­ses groß­ar­tige Gefühl festhalte.

Es geht erst zurück, als sich die Sonne hin­ter den Bäu­men ver­kriecht und der Wind auf­frischt. Auf dem Rück­weg ist die Straße noch lee­rer als auf der Hin­fahrt. Kilo­me­ter um Kilo­me­ter radle ich zwi­schen Bäu­men und Büschen daher, den blauen Him­mel über mir, den Wind in den Haa­ren und den hei­ßen Asphalt unter den Rei­fen. Unter das Glücks­ge­fühl am Strand mischt sich ein Gefühl gro­ßer Frei­heit, die ich immer nur mut­ter­see­len­al­lein irgendwo in der Ein­öde verspüre.

Durs­tig halte ich spä­ter an einem Kiosk am Stra­ßen­rand, um mir einen Drink zu gön­nen. Darin sitzt ein mol­li­ger Ver­käu­fer, der sofort wis­sen will, woher ich komme. „Deutsch­land!“, ruft er begeis­tert. „Mein Kum­pel hat mich über­re­det, mit ihm nach Deutsch­land zu flie­gen, um dort eine Frau zu suchen.“ Er lacht los, dann lehnt er sich ver­schwö­re­risch vor: „Wenn meine Frau mich mal ver­lässt, nehme ich auch lie­ber eine Deut­sche.“ Um ihn opti­mal auf die Mis­sion vor­zu­be­rei­ten, bringe ich ihm schon mal das Wich­tigste bei: Ich liebe dich. Das muss ich ihm sogar auf ein Blatt Papier schrei­ben, und er übt die Aus­spra­che, bis ich zufrie­den nicke. „Viel­leicht wirst du ja eines Tages meine deut­sche Frau“, ruft er – Arnold – mir nach. Wer weiß.

Eigent­lich bin ich nach dem vie­len Radeln müde und will zurück zur Lodge. Doch dann komme ich erneut an Sammy’s Bar vor­bei, aus der Calypso-Beats und Geläch­ter schal­len. Ich muss rein.

Es ist, als würde die Zeit einen Moment still­ste­hen und als wür­den die vier Män­ner um den Bar­tre­sen erstar­ren. Dann erwa­chen sie aus ihrer Starre und der dickste und dem Wan­ken nach betrun­kenste unter ihnen, mit blauem T‑Shirt und einer Base­ball­kappe, schnappt mich und wir­belt mich zu den Rhyth­men aus der Ste­reo­an­lage herum. Lyn­don, wie er heißt, sucht im Gegen­satz zu Arnold keine deut­sche Freun­din, denn er hatte schon mal eine. Mit mir würde er aber doch am liebs­ten mit­kom­men, auch nach Nas­sau am Fol­ge­tag. „Mach dir keine Sor­gen, ich kann für mich selbst zah­len!“ Seine Freunde lachen.

„Wie war deine Fahr­rad­tour?“, fragt mich einer, der ver­ges­sen hat, in der düs­te­ren Bar seine Son­nen­brille abzu­neh­men. Woher weiß er, dass ich eine Fahr­rad­tour unter­nom­men habe? Habe ich die­sen Mann schon mal gese­hen? Viel­leicht im Hotel? Als er mei­nen ver­wirr­ten Aus­druck bemerkt, weiht er mich ein. „Wir sind vor eini­gen Stun­den an dir vor­bei­ge­fah­ren und ich habe dir „Drive safe, Baby“, zuge­ru­fen!“ Alles klar! Er heißt Nick und bestellt sofort ein Kalik, das Natio­nal­bier, für mich. Wir sto­ßen gemein­sam an. An den Hem­den der Män­ner steht, dass sie für die hie­si­gen Abwas­ser­werke arbei­ten. „Kommst du heute Abend auch zur Toten­feier?“, fragt mich Lyn­don und bie­tet sogar an, mich abzu­ho­len. Auch Nick stimmt mit ein – die Toten­feier der alten Gol­die sei DAS Event des Jah­res, die ganze Insel komme zusam­men, da dürfe ich doch nicht feh­len. Und so pas­siert es: Ich habe ein Date at the wake.

Am Ende der Anfang

Um kurz nach neun gehe ich zu Gol­dies Toten­feier. Einer der Lodge-Mit­ar­bei­ter, Tar­ran, der eben­falls dort­hin möchte, nimmt mich mit und führt mich zunächst ins Haus gegen­über dem der ver­stor­be­nen Gol­die. Ich werde einer der neun Töch­ter vor­ge­stellt. Sie begrüßt mich herz­lich – Deutsch­land, wie schön, da möchte sie auch mal hin. „Meine Mut­ter ist an Magen­krebs gestor­ben, schlimme Sache, sie muss nun nicht mehr lei­den“, fügt sie im glei­chen Atem­zug hinzu. Von Casey habe ich bereits erfah­ren, dass Gol­die, mit rich­ti­gem Namen Yvonne Rah­ming, eine der stärks­ten Frauen der Insel war, eine wahre Che­fin ihres Matri­ar­chats, und weit­hin gefürch­tet, aber auch geliebt. Am Küchen­tisch sit­zen Frauen und berei­ten Essen zu. Sie sehen kaum auf, als eine Weiße ein­tritt. Ich bekomme eine Bier­fla­sche in die Hand gedrückt, und schon führt mich Tar­ran wie­der raus und auf die andere Stra­ßen­seite, zu Gol­dies Haus. Auf der Straße par­ken kreuz und quer Autos, doch meine Kum­pels Lyn­don und Nick sehe ich nir­gends. Was bei dem Gewu­sel aus Erwach­se­nen, Jugend­li­chen und Kin­dern bei par­ty­lau­ter Musik aber auch schwie­rig wäre.

Im Zim­mer direkt am Ein­gang ver­sam­melt sich eine Kin­der­schar, man­che lüm­meln sich auf Sofas, andere sit­zen oder lie­gen am Boden, die meis­ten star­ren auf ihre Han­dys. Sie wol­len, dass ich ein Bild von ihnen schieße. Trotz zehn Ver­su­chen ist es unmög­lich, ein nicht ver­wa­ckel­tes zu machen, denn die Jungs sind auf­ge­dreht, zap­peln und scher­zen und fan­gen an zu raufen.

Ob ich nicht noch ein Bier wolle, fragt mich eine wei­tere Toch­ter Gol­dies, dabei habe ich kaum an der Fla­sche in mei­ner Hand nip­pen kön­nen. Als die Kin­der, die an die­sem Abend aus­nahms­weise mal bis drei Uhr auf­blei­ben dür­fen, lachend und schrei­end vor­bei­drän­gen, werde ich mit auf die Veranda gescho­ben, wo einige Frauen zusam­men­sit­zen. „Ich war auch schon mal in Deutsch­land“, erzählt mir eine der Tan­ten oder Cou­si­nen oder Nich­ten von Gol­die, so ganz komme ich da nicht mehr nach, und drei andere stim­men mit ein, plau­schen über das Rei­sen und das Leben.

Plötz­lich erscheint ein älte­rer, leicht tau­meln­der Herr in der Tür, der mich fixiert – mit einem Blick, der auf eine Über­do­sis Via­gra schlie­ßen lässt. Er schnippt mit den Fin­gern, bekommt einen Stuhl und setzt sich mir gegen­über. „Du bist aber schön, wie heißt du?“ Als ich mei­nen Namen nenne, schreit er auf. „So ein Zufall, ich heiße Ber­nard! Das ist Schick­sal, dass wir uns hier tref­fen!“ Die Frauen grin­sen. Ber­nard, den ich auf min­des­tens 70 schätze, schaut mir lange und tief in die Augen, dann beugt er sich vor. „Ich bin viel­leicht alt, aber mein Schwanz, der funk­tio­niert noch!“ „Ber­nard!“, kommt der Auf­schrei von den Frauen, und wäh­rend er mir noch erklärt, dass er eigent­lich nur aus Nas­sau zur Toten­feier sei­ner Tante gekom­men sei, um eine Frau auf­zu­rei­ßen, da er nach vier Ehen gerade wie­der Sin­gle sei, wird schnell das Thema gewechselt.

Wei­ter geht es in einem lee­ren Nach­bar­shaus, des­sen gro­ßes Wohn­zim­mer an die­sem Abend als Fest­saal dient. Meh­rere Rei­hen mit Stüh­len sind auf­ge­stellt, das Schlag­zeug ist spiel­be­reit, feh­len nur noch die Mikros. Einige der Cou­si­nen oder Nich­ten oder sons­ti­gen Ver­wand­ten von Gol­die neh­men Platz, es wird wei­ter geplau­dert. Bald beginnt eine der Frauen zu sin­gen, die schönste Gos­pel­me­lo­die, mit star­ker, kla­rer Stimme. Wei­tere stim­men mit ein, die Melo­die gewinnt an Kraft und Geschwin­dig­keit. Plötz­lich durch­bricht ein Schrei den Gesang: Eine von Gol­dies Töch­tern reißt die Hände hoch, schreit, Trä­nen rol­len ihre Wan­gen hinab. Frauen stür­zen zu ihr, trös­ten, strei­cheln, brin­gen Was­ser. „Wir behal­ten nichts in unse­rem Inne­ren, wir las­sen alle raus“, habe ich bereits an die­sem Tag gelernt.

Stun­den­lang schaue ich den Tan­zen­den zu, lau­sche den Gesän­gen und Geschich­ten. Sammy von Sammy’s Bar, Gol­dies Sohn, singt sich mit einer Frau mitt­le­ren Alters die Seele aus dem Leib, sprüht vor Freude und bricht im nächs­ten Moment vor Trauer zusam­men. Er macht vor, wie nah die aller­schöns­ten und aller­schlimms­ten Emo­tio­nen bei­ein­an­der lie­gen, und die Fami­lie und Freunde spie­geln durch ihren Gesang und Tanz, aber auch durch ihre Trä­nen, seine Gefühle wider. Im Neben­raum wird Hüh­ner­suppe aus­ge­schenkt, drau­ßen toben Kin­der. „Wir wol­len Gol­dies Leben fei­ern, nicht ihren Tod bekla­gen“, heißt es in einer kur­zen Rede. Lyn­don und Nick haben sich bereits in Sammy’s Bar den Rest gege­ben und es nicht mehr zur Toten­feier geschafft, wie ich spä­ter erfahre, doch ich werde ewig dank­bar sein für mein Date at the wake, auch wenn ich ver­setzt wurde. Denn einen Abend lang mit den Andro­si­ans einen Men­schen zu betrau­ern und zu fei­ern, den ich nicht kannte und doch ein wenig ken­nen­ler­nen durfte, und wie eine Ein­hei­mi­sche auf­ge­nom­men zu wer­den, ist für mich das Größte. Der Anfang einer gro­ßen Liebe zu einer Insel, von der ich wenige Monate zuvor noch nie gehört hatte und mit Men­schen, die ich nie ver­ges­sen werde. Und wenn ich mir auch vor­nehme, wie sie öfter meine Emo­tio­nen zu zei­gen, möchte ich doch etwas sicher in meine innere Gefühls­kiste packen und mit nach Hause neh­men: das große Glück dar­über, auf Andros eine kleine Geschichte gefun­den zu haben, wie sie nur das Leben, aber kein Rei­se­füh­rer, schrei­ben kann.

Die Reise wurde unter­stützt vom Tou­ris­mus-Minis­te­rium der Baha­mas: https://www.bahamas.com/ mit Direkt­flug mit Con­dor von Frank­furt nach Nassau.

Cate­go­riesBaha­mas
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Pingback:reisedepeschen.de: Date at the wake – Bahamas-Blog.de

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