Belfast – Stadt der Hoffnung

Im Euro­pa Hotel fun­kelt der Weih­nachts­baum, gol­de­ne Kugeln hän­gen von den Zwei­gen her­ab. Gäs­te aus Deutsch­land, Japan, Däne­mark oder Chi­na wuseln in der Ein­gangs­hal­le umher, es riecht nach Tan­nen­na­deln und Glas­rei­ni­ger. Im Restau­rant herrscht Hoch­be­trieb, an einem Tisch kichern acht Damen, alle sind weit über sieb­zig, sie tra­gen Pumps und Pail­let­ten­klei­der, sie plau­dern und trin­ken Sekt. Ihre wei­ßen Haa­re sind zu Löck­chen gedreht, eine Kell­ne­rin ser­viert iri­sches Wei­de­rind.
Das Vier­ster­ne­ho­tel mit­ten in Bel­fast ist beliebt bei Jour­na­lis­ten und aus­län­di­schen Besu­chern. Die Clin­tons buch­ten vor eini­gen Jah­ren 110 der 272 Zim­mer, und die Nord­iren fei­ern ihre Hoch­zei­ten hier. Das Euro­pa Hotel ist aber auch das meist bom­bar­dier­te Hotel in West­eu­ro­pa. Drei­und­drei­ßig­mal gin­gen hier Spreng­kör­per der IRA hoch. Das Hotel steht noch immer.

Bil­ly war­tet im Foy­er. Er ist Mit­te fünf­zig, arbei­tet als Tour­gui­de und chauf­fiert Tou­ris­ten mit sei­nem schwar­zen Taxi durch die Haupt­stadt Nord­ir­lands.
»Bel­fast hat eini­ges zu bie­ten«, ver­rät er, »wir haben den womög­lich schöns­ten Pub der gan­zen Insel, dann hoch­klas­si­ge Restau­rants und Muse­en.«
Der Tou­ris­mus hat ange­zo­gen in der letz­ten Zeit. Auch wegen der Kult­se­rie Game of Thro­nes. Etli­che Sze­nen wur­den in Bel­fast und Umge­bung gedreht.
Wir fah­ren durch die Stadt, die Son­ne scheint von einem blau­en Him­mel her­ab. Vor der Queen’s Uni­ver­si­ty pro­tes­tie­ren zwei Dut­zend Dozen­ten. Sie hal­ten Pla­ka­te in die Luft und for­dern eine bes­se­re Bezah­lung. Alles wirkt fried­lich. Vor vier Jahr­zehn­ten war das anders. Damals fie­len Schüs­se, Hand­gra­na­ten explo­dier­ten, Zäu­ne wur­den errich­tet, Ghet­tos ent­stan­den, in denen bis heu­te fast aus­schließ­lich Pro­tes­tan­ten oder Katho­li­ken leben.
Der Nord­ir­land­kon­flikt und die Stra­ßen­kämp­fe wer­den hier schlicht als trou­bles bezeich­net. Die trou­bles bestimm­ten den All­tag der Nord­iren wäh­rend der gesam­ten 70er‑, 80er- und frü­hen 90er-Jah­re, und die Erin­ne­rung an das Leid sitzt tief.
»Frag einen Nord­iren nie­mals, ob er Pro­tes­tant oder Katho­lik ist«, sagt Bil­ly und lacht, doch sein Lachen klingt ernst. Sei­ne Kon­fes­si­on ver­rät er nicht.
Am Taxi­fens­ter zie­hen die Mau­ern vor­bei, die Bel­fast zer­tei­len. Auf ihnen pran­gen murals, impo­san­te Wand­ma­le­rei­en, die von Krieg und Hel­den­tum erzäh­len und das Stadt­bild Bel­fasts prä­gen.

Bis heu­te ste­hen sich zwei Grup­pen gegen­über: die eng­lisch- und schot­tisch­stäm­mi­gen unio­nis­ti­schen Pro­tes­tan­ten und die über­wie­gend irisch-natio­na­lis­ti­schen Katho­li­ken. Mit Reli­gi­on hat der Zwist nur wenig zu tun. Viel­mehr geht es um Iden­ti­tät.
Die Vor­ge­schich­te der trou­bles reicht bis ins Mit­tel­al­ter zurück. Um 1200 hat­ten die Ang­lo-Nor­man­nen einen Groß­teil der iri­schen Insel erobert. Doch die eigent­li­che Annek­tie­rung begann im 16. Jahr­hun­dert, als Hein­rich VIII. ver­such­te, die Refor­ma­ti­on in Irland zu ver­an­kern. Um den Wider­stand der katho­li­schen Bevöl­ke­rung zu bre­chen, wur­den Anfang des 17. Jahr­hun­derts die ers­ten eng­li­schen Pro­tes­tan­ten nach Nord­ir­land umge­sie­delt, wo sie die Län­de­rei­en der katho­li­schen Iren besetz­ten. Als Irland 1922 sei­ne Unab­hän­gig­keit erklär­te, blieb das pro­tes­tan­tisch gepräg­te Nord­ir­land Teil des Ver­ei­nig­ten König­reichs.
Ab Ende der 1960er Jah­re eska­lier­te die Gewalt dann end­gül­tig. Rund 10.000 Bom­ben gin­gen wäh­rend der trou­bles hoch, 3.600 Men­schen star­ben. Mitt­ler­wei­le ist es ruhig. Der Frie­dens­ver­trag zwi­schen bei­den Par­tei­en, das soge­nann­te Kar­frei­tags­ab­kom­men, ist jetzt 22 Jah­re alt.
An der Peace Wall stoppt Bil­ly sein Taxi. Die Mau­er trennt die Wohn­ge­bie­te der pro-iri­schen Repu­bli­ka­ner und der pro-bri­ti­schen Unio­nis­ten von­ein­an­der. Murals auf den Wän­den zei­gen die Kon­flik­te die­ser Welt; in Paläs­ti­na, in der spa­ni­schen Regi­on Kata­lo­ni­en, in Kur­di­stan, im Jemen, und natür­lich hier in Nord­ir­land. Ein paar Meter wei­ter haben zahl­lo­se Men­schen mit Filz­stif­ten ihre Wün­sche an die Mau­er geschrie­ben. Lie­be, Frie­den und Frei­heit in ver­schie­de­nen Spra­chen.

Gegen­über des so oft bom­bar­dier­ten Euro­pa Hotels gab es jedoch einen Ort in Bel­fast, wo all der Hass kei­ne Rol­le spiel­te. The Crown Liqu­or Saloon öff­ne­te 1880 sei­ne Pfor­ten und ver­sorgt seit­dem die Durs­ti­gen mit Gin und Bier. Auch als sich Pro­tes­tan­ten und Katho­li­ken auf der Stra­ße die Köp­fe ein­schlu­gen, herrsch­te Ein­klang im Pub. Die Poli­tik blieb drau­ßen, und die Fein­de tran­ken gemein­sam. Das mag an der Qua­li­tät des Gins gele­gen haben oder an der him­mel­schö­nen Innen­ein­rich­tung. Dunk­les Holz, ver­zier­te Fens­ter – das Crown ist ein Traum, auch wenn Damen hier frü­her uner­wünscht waren.

Zwei Kilo­me­ter wei­ter im Crum­lin Road Gaol hielt sich die gute Lau­ne in Gren­zen. Gaol ist die bri­ti­sche Bezeich­nung für das Wort »Knast«. Seit 1846 ver­büß­ten hier Die­be, Femi­nis­tin­nen, Kin­der­mör­der und spä­ter IRA-Kämp­fer ihre Frei­heits­stra­fen. Manch einer kas­sier­te bloß Schlä­ge, auf ande­re Häft­lin­ge war­te­te der Gal­gen. Sieb­zehn Män­ner star­ben durch den Strick, der letz­te 1961.
»In vik­to­ria­ni­schen Zei­ten war der Hin­rich­tungs­tag ein Fei­er­tag,« erklärt Mit­ar­bei­ter Har­ry, »es wur­de gesof­fen und her­um­ge­hurt. Des­halb heißt der Tag nach dem Erhän­gen Han­go­ver
Ob der Schwank stimmt, bleibt unge­wiss, denn Har­ry grinst. Sein Vater saß in den 1970ern ein. Unter­su­chungs­haft, acht­zehn Mona­te lang. Har­ry war damals zehn Jah­re alt. Er besuch­te sei­nen Vater so oft er konn­te. Heu­te führt er Tou­ris­ten durch die Gemäu­er.
»Jeder in Bel­fast kennt jeman­den, der getö­tet, ver­letzt oder inhaf­tiert wur­de. Das war ganz nor­mal.«, sagt er und streicht durch sei­nen Bart.

Die größ­te Tou­ris­ten­at­trak­ti­on Bel­fasts ist aller­dings nicht das Gefäng­nis, son­dern das Tita­nic Quar­ter auf dem ehe­ma­li­gen Gelän­de der Werft Har­land & Wolff, die mitt­ler­wei­le Insol­venz anmel­den muss­te. Das Vier­tel wur­de nach der RMS Tita­nic benannt, die in Bel­fast vor 111 Jah­ren gehäm­mert wor­den ist. »Hier fuhr sie noch«, spöt­teln des­halb die Bel­fas­ter. Das Ende ist bekannt. Der Besu­cher sieht noch, wo das einst größ­te Schiff der Welt auf Kiel gelegt wur­de und wo es Rich­tung Sout­hamp­ton abge­legt hat. Ins­be­son­de­re das rie­si­ge Muse­um lohnt. Neun inter­ak­ti­ve Gale­rien erzäh­len die Geschich­te der Tita­nic – vom Bau bis zum Unter­gang. Im letz­ten Raum zieht das Wrack als Video­in­stal­la­ti­on unter den Füßen des Besu­chers hin­weg. Ein magi­scher Moment.

Bel­fast ist span­nend, Bel­fast kann man lie­ben. Da sind Sam­son und Goli­ath – die bei­den gigan­ti­schen Krä­ne von Har­land & Wolff, die sich aus dem Nebel schä­len. Da sind die roten Back­stein­häu­ser und da ist das Cathe­dral Quar­ter mit sei­nen Bars und der Kathe­dra­le. Dann die klei­nen Läden, die nur mit Zuta­ten aus der Regi­on kochen, backen und kel­tern. Die vie­len Pubs, die amü­san­te Namen tra­gen wie »Dre­cki­ge Zwie­bel«, »Durs­ti­ge Zie­ge« oder »Sehr häss­lich«, und da ist natür­lich die Musik von Van Mor­ri­son.
Trotz­dem ist Bel­fast bis zum heu­ti­gen Tag geteilt. Aber es ver­sucht, die Wun­den zu hei­len. Mit Kunst, Kul­tur, Tou­ris­mus und der Hoff­nung, dass es tat­säch­lich wie­der zusam­men­wach­sen kann. Obwohl Natio­na­li­tät und Iden­ti­tät an Bedeu­tung ver­lo­ren haben, reißt der Brexit alte Grä­ben auf. Es bleibt abzu­war­ten, wie die Nord­iren mit der Situa­ti­on umge­hen wer­den.

Zurück im Euro­pa Hotel. Drei Pries­ter stei­gen in den Auf­zug. Sie tra­gen Puder auf den Wan­gen, Weih­nachts­mann­müt­zen auf dem Kopf und Hawaii­ket­ten um den Hals.
»Das muss jetzt etwas selt­sam auf Sie wir­ken.«, sagt Pater Euge­ne. Ich läch­le. The Priests sind welt­be­rühmt, ihre Klas­sikal­ben lan­den regel­mä­ßig ganz oben in den Charts. Heu­te Abend hat­ten sie einen Auf­tritt im Euro­pa Hotel.
»Sind Sie tat­säch­lich ech­te Pries­ter?«, fra­ge ich, als die drei aus­stei­gen.
»Natür­lich«, schmun­zelt Pater Euge­ne, »fro­he Weih­nach­ten!«

Wei­te­re Infos

Nord­ir­land und Bel­fast

The Crown Liqu­or Saloon

Crum­lin Road Goal

Tita­nic Quar­ter

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