Ich sitze auf einem Klappstuhl im Brautmoden-Geschäft, als Mitglied einer vierköpfigen Jury. Im Halbkreis sind wir vor der Umkleidekabine zusammengerückt. Zwölf Mal tritt Alina in unsere Mitte, zwölf Mal dreht sie sich und sieht abwechselnd in den Spiegel und fragend in unsere Gesichter, bevor sie aufgeregt wieder in die Kabine verschwindet. Gut sieht sie aus, glücklich.
Das Leben der anderen
Ich schaue meine langjährige Freundin im Brautkleid an, ich schaue in die Vergangenheit und in die Zukunft. Alina und ich haben zusammen studiert, wir waren im Ausland, wir sind in dieselbe Stadt gezogen, haben angefangen zu arbeiten. Alles mehr oder weniger gleichzeitig. Jetzt heiratet Alina. Und bald tritt noch eine Freundin vor den Traualtar. Und dann noch eine. Und … noch eine. Kinder sind geplant und Wohneigentum.
Und ich stehe außen vor und staune.
Staune, wie Freunde sich einrichten in ihrer Stadt, in ihrem Leben. Wie sie „ankommen“. Ganz sicher bin ich nicht, was die Leute meinen, wenn sie sagen, sie seien angekommen. Nur eines weiß ich genau: Ich bin es nicht.
Wenn Alina heiratet, werde ich auf Reisen sein. Am anderen Ende der Welt. Für ich-weiß-noch-nicht-wie-lange. Und mit allerhand Konsequenzen: Ich hänge meinen Job an den Nagel, ich untervermiete meine Wohnung, ich lasse meine Freunde und Familie zurück. Ich habe eine Weile gespart – „Fluchtgeld“, wie Meike Winnemuth es nennt. Alles Weitere? Ungewiss. Und danach? Keine Ahnung.
Ich sehe mich in zehn Jahren
Manchmal wache ich nachts auf und die Angst malt mir mit schwarzer Tinte alles aus, was schief gehen kann. Dann rechne ich hin und her. Dann reicht es vorne und hinten nicht. Dann ist das Ganze eine Scheißidee. Aber am nächsten Morgen, wenn ich zur Arbeit hetze, die Treppe zur U1 hinauf, entsteht ein zweites Bild in mir, eines, das mich weitaus mehr quält: Dann sehe ich mich in zehn Jahren, wie ich zur Arbeit hetze, mit demselben zentnerschweren Fernweh im Herzen – aber mit viel mehr Verpflichtungen. Und dieser hartnäckig bohrenden Frage im Kopf: Warum hab ich’s nicht einfach gemacht, damals, als es so leicht gewesen wäre, als so wenig dagegen sprach, als mich kein Mann, kein Kind und kein Vertrag hier hielten?
Die Braut bezahlt ihr Kleid, es kostet so viel wie mein Flug. Jetzt fehlen fast nur noch die Ringe, sagt sie, während die Verkäuferin den Sekt öffnet. Ich blicke auf den Ring an meiner linken Hand und lächle. Den habe ich mir vor zwei Jahren in Amsterdam gekauft, als ich zum ersten Mal allein verreist bin. Damit er mich immer dran erinnert, dass alles gut ist, dass ich zurechtkomme allein. Genau das tut er auch jetzt. Das Leben der anderen, das habe ich nicht. Weil mein Leben ein anderes ist. Weil es mein Leben ist. Und dann stoßen wir endlich mal an.


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