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Willkommen in der „ohne-Stadt“ Managua

Ankom­men in Mana­gua heißt für mich: ein rie­si­ges Fra­ge­zei­chen auf der Stirn, das sich erst bei Abflug wie­der auf­löst. Keine Stadt ist wie Mana­gua, eine Haupt­stadt schon gar nicht. Für mich ist es die „ohne- Stadt“,die Stadt ohne Zen­trum, die Stadt ohne Clubs, die Stadt ohne Städ­ter, die Stadt ohne Stras­sen­na­men und ohne Haus­num­mern. Wohl dem der  ein Taxi erwischt. Und weiß wo er hin will. Das Auf­fin­den einer Adresse in Mana­gua  ist eine beson­dere Her­aus­for­de­rung. Beson­ders für Men­schen, die hier nicht die letz­ten 40 Jahre ver­bracht haben. Eine Adresse lau­tet zum Bei­spiel: „de donde fue la Pepsi dos cua­dras al este“ was soviel heißt wie „wo ein­mal die Pepsi stand, 2 Häu­ser­blö­cke wei­ter öst­lich“. Pepsi steht seit 1972 nicht mehr und Häu­ser­blö­cke auch nicht. Wer glaubt er könne sich mit Hilfe des Kom­pas­ses wenigs­tens nach Osten ori­en­tie­ren, der irrt. Denn der Mana­guer hat eine ganz eigene Vor­stel­lung von Him­mels­rich­tun­gen: der Wes­ten wird als „abajo“, also unten bezeich­net, denn da geht ja die Sonne unter. Da wo der Euro­päer den Nor­den ver­mu­tet, näm­lich oben oder „arriba“ ist in Mana­gua der Osten. Denn der liegt ja logi­scher­weise gegen­über von Wes­ten, also „abajo“, näm­lich unten,  alles klar? und der Nor­den heißt in Mana­gua „al lago“, also Rich­tung See, und der liegt – auf­at­men- tat­säch­lich im Nor­den der Stadt.

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Wäh­rend ich noch über die Orts­lo­gik grü­bele fährt mein Taxi auf einer der weni­gen brei­ten, asphal­tier­ten Stras­sen Rich­tung See und plötz­lich taucht wie Kai aus der Kiste ein rie­si­ger Platz auf. „Hugo Chá­vez Eter­nal Coman­dante Rotonda“ über­setzt die „des-unsterb­li­chen-Kom­man­dant-Hugo-Cha­vez-Rotonde“. Der  (Platz) oder die (Rotonde) oder das (Mons­ter) war bei mei­nem let­zen Besuch  noch nicht da: ich sehe und staune. In der Mitte des Plat­zes ein etwa 8 Meter hohes Monu­ment mit dem Kon­ter­fei von Hugo Cha­vez. Schön bunt, könnte glatt aus einem Kau­gum­mi­au­to­ma­ten sein. Drum herum, knatsch­gelbe, ebenso hohe Skulp­tu­ren, die aus­se­hen wie Bäume aus einem Lego­kas­ten. Den äuße­ren Rand zie­ren kleine grüne Plas­tik­tan­nen­bäume, die ohne wei­te­res als übrig geblie­bene künst­li­che Weih­nachts­bäume im Dis­coun­ter durch­ge­hen könn­ten. Ansons­ten ist der rie­sige Platz leer, ein ein­sa­mer Ver­kehrs­po­li­zist regelt den nicht vor­han­de­nen Verkehr.

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Das gute in der „ohne-Stadt“: es gibt kei­nen Ver­kehr, wir kom­men ohne Stau durch. Mein Hotel ist eines der Aus­nahme-Häu­ser die nicht nur aus Stein sind son­dern auch meh­rere Stock­werke haben. Eines der weni­gen Häu­ser die das große Erd­be­ben von 1972 über­stan­den haben. Ich wohne in der 8. Etage und denke: wenn es das damals über­lebt hat wird es ein wei­te­res Beben auch über­ste­hen. Spä­ter belehrt mich ein Nica eines bes­se­ren. Sein Cou­sin habe im Auf­trag der chi­ne­si­schen Hotel­be­sit­zer den Zustand prü­fen las­sen. Und der sei kata­stro­phal. Tra­gende Teile des Daches seien kom­plett ver­ros­tet und müss­ten aus­ge­tauscht wer­den. Aber das sei den Chi­ne­sen zu teuer. Über­haupt ist man in Nica­ra­gua nicht gut zu spre­chen auf die Chi­ne­sen. Die hat­ten näm­lich dem gebeu­tel­ten Land einen Kanal ver­spro­chen, der im Wett­be­werb zum Pana­ma­ka­nal Wohl­stand für alle Nicas brin­gen sollte. Und jetzt sieht man jede Menge Chi­ne­sen in Mana­gua, die sich auf­füh­ren als gehörte ihnen das Land – allein, der Kanal­bau wird von Tag zu Tag unwahr­schein­li­cher, glaubt man der loka­len Presse.

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Von der ach­ten Etage aus schaue ich auf die Stadt. Die „ohne Stadt“ ist auch eine Stadt ohne Stadt­bild. Ich sehe auf eine wun­der­bar grüne Land­schaft, in der sich exo­ti­sche Vögel zu Hause füh­len. Ich höre Papa­geien und Tukane, Hunde und Kat­zen. Aber was ist mit den Men­schen? Irgendwo unter den Baum­wip­feln befin­den sich Häu­ser, die man eigent­lich nicht so nen­nen kann. Bruch­bu­den, Bara­cken, Bret­ter­ver­schläge mit Well­blech­dä­chern würde es wohl eher tref­fen. In der Zei­tung lese ich von einer inter­na­tio­na­len Stu­die. Sie besagt, dass über 85% aller Behau­sun­gen in Mana­gua den ein­fachs­ten Ansprü­chen einer men­schen­wür­di­gen Unter­kunft nicht ent­spre­chen. Keine Sani­tär­an­la­gen, keine Was­ser­ab­läufe, keine fes­ten Fuß­bö­den. Wenn die tro­pi­schen Regen­güsse fal­len ver­sinkt alles in Matsch und damp­fen­der Feuchtigkeit.

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Da hilft dann nur noch ein küh­les Bier am Abend, eine Tonja, zusam­men mit guten Freun­den. Und das ist genau der Moment wo die „ohne-Stadt“ zur „mit-Stadt“ wird. Denn die Mana­guer sind über­aus freund­lich und lie­bens­wert und machen damit alle Defi­zite wett.

Cate­go­riesNica­ra­gua
Gitti Müller

Mein erster Anfall von Fernweh hat mich 1980 ein Jahr lang als Backpackerin nach Südamerika geführt. Damals wog so ein Rucksack noch richtig viel und das Reisen war beschwerlich. Seitdem kann ich es einfach nicht lassen. Heute habe ich vor allem einen Laptop und meine DSLR im Gepäck. Als Fernseh-Journalistin und Ethnologin komme ich viel rum aber in Lateinamerika fühle ich mich einfach wie zu Hause. Damit ich auch in abgelegenen Andenregionen ein Schwätzchen mit den Leuten halten kann habe ich die Indianersprachen Aymara und Quechua gelernt.
Im Mai 2017 hat der Piper-Verlag mein Buch "Comeback mit Backpack - Eine Zeitreise durch Südamerika" herausgebracht (ISBN-10: 3890291422, 272 Seiten mit Fotos) Es erzählt von meinen Reisen in analogen und in digitalen Zeiten.

  1. Evelyn says:

    Wow, das liest sich nicht nur span­nend, son­dern auch über­aus lustig.
    Ich werde gespannt sein. Kom­men­den Okto­ber werde ich für min­des­tens ein hal­bes Jahr in Mana­gua und Umge­bung leben.. Wer weiß, ob ich die Ohne-Stadt mit ihren Men­schen am Ende ebenso lie­bens­wert fin­den werde wie du – davon gehe ich aber auf jeden Fall aus :)

    LG Eve­lyn

    1. Gitti says:

      Freu Dich drauf, Eve­lyn. Es gibt kaum freun­di­chere Men­schen als die in Nica­ra­gua. Du wirst sicher schnell Freunde fin­den. Mal sehen wie du dich in der „ohne-Stadt“ ori­en­tie­ren kannst (-:

    1. Hein, nein, das sind kri­chen­mu­si­ker! blas­ka­pelle in der kir­che gibts wahr­schein­lich nur in Nica­ra­gua. Da flie­gen dir die ohren weg!

  2. Charles Rahm says:

    Seit wann gibt es eigent­lich Back­pa­cker? (Beziehe mich auf die Autorinnen-Beschreibung)
    Zum Ver­gleich: In San Jose, Costa Rica, sind die Adres­sen ja auch ähn­lich chao­tisch. Aber die Chance, etwas zu fin­den, schei­nen doch höher zu sein. :-)
    Danke für den guten Artikel!

    1. Hallo Charles,
      Back­backer gab es in den 80ern schon. Damals gab es eine art „bibel“ für ruck­sack­rei­sende: das south ame­ri­can hand­book. des­halb haben sich die back­backer immer in den glei­chen hos­tels gefun­den, tipps aus­ge­tauscht und oft auch im laufe der reise wiedergetroffen.
      In san jose ist es wirk­lich ein­fa­cher etwas zu fin­den, da hast du recht.

  3. Nina says:

    Vie­len Dank für den span­nen­den Bericht aus der „Haupt­stadt ohne Stadt“ – wie unter­schied­lich doch die Welt ist: Ich bin gerade eben­falls in einer Haupt­stadt Süd­ame­ri­kas, Bue­nos Aires… eine Stadt mit ganz viel Stadt sozusagen ;-)…

  4. Timo says:

    Dies Stadt die keine Stadt ist. Sehr inter­es­sant aber auch gleich­zei­tig etwas zu belä­cheln. Mir zumin­dest ging es so als ich den Part über die Him­mels­rich­tun­gen gele­sen habe.
    Und da sieht man auch noch­mal, dass es auch ande­res geht als die „West­li­che-Patent-Lösung“. Osten ist nicht immer Osten und Wes­ten nicht immer Westen. 

    Viele Grüße Timo
    http://www.headformylife.com

    1. Timo, das stimmt, es gibt eine menge andere kon­zepte zu zeit und raum. So zei­gen die aymara india­ner in boli­vien hin­ter sich wenn sie von der zukunft spre­chen und nach vorne wenn sie von der ver­gan­gen­heit reden. warum? sie sagen: die ver­gan­gen­heit habe ich gese­hen, meine augen sind vorne, also liegt die ver­gan­gen­heit vor mir. die zukunft ist noch unsicht­bar, also liegt sie im rücken. macht total sinn ist aber für uns sehr ungewohnt.

    2. Marie Scharff says:

      Zu belä­cheln? Denk bitte beim nächs­ten Mal über deine Wort­wahk nach. Viel­leicht belei­digt du uns Mana­gua­ner ein biss­chen damit… Und Clubs gibt es hier übri­gens in Hülle und Fülle… (An die Ver­fas­se­rin des Beitrags)
      Viel­leicht sollte man nicht hat von jedem Ort auf der Welt die glei­chen Maß­stäbe und For­men erwar­ten, wir in sei­ner Heimat.…

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