Versuch’s mal mit Gemütlichkeit

Das deut­sche Wort „Gemüt­lich­keit“ fin­det nicht in allen Spra­chen eine Ent­spre­chung, wohl aber auf Dänisch: „Hyg­ge“ heißt es, wenn ein Ort so ein­la­dend und hei­me­lig daher­kommt, dass die Vor­stel­lung, ihn wie­der ver­las­sen zu müs­sen, tief in die gedank­li­che Abstell­kam­mer ver­bannt wird. Und „Hyg­ge“ ist es, was ich als Ers­tes ver­spü­re, als mich die Fäh­re von Esbjerg nach nur 12 Minu­ten Fahrt aus­spuckt und sich Nord­by, Fanøs 2.750 Ein­woh­ner star­ker Haupt­ort, vor mir erstreckt. Was die klei­ne Insel wohl so alles für mich bereit­hält?

Von Pup­pen­häu­sern, Schlach­tern und Hun­den

Auf mich wir­ken sie wie etwas groß gera­te­ne Pup­pen­häu­ser, die reet­ge­deck­ten bun­ten Häus­chen aus dem 19. Jahr­hun­dert, die Nord­by zie­ren. Als ech­ter deut­scher Brot­fan schlägt mein Herz höher, als ich weni­ge Schrit­te vom Fähr­an­le­ger ent­fernt die Fanø Bage­ri, Bäcke­rei, ent­de­cke, aus der ein Duft nach frisch Geba­cke­nem strömt.

Den Wurst­be­lag zum Brot gibt’s schräg gegen­über – bei Slak­ter Chris­ti­an­sen, einem der bes­ten Schlach­ter Däne­marks, wie ich wenig spä­ter von Lone Sig­aard erfah­re.

Lone und ihr Mann Gorm ver­mie­ten neben ihrem eige­nen Haus in den Gas­sen eine win­zi­ge Haus­hälf­te an Gäs­te – mei­ne eige­ne Pup­pen­stu­be mit Ter­ras­se, klei­ner Küche und einer stei­len Trep­pe zum aus­ge­bau­ten Dach­bo­den. Soll­te der Wind auf der Fäh­re noch nicht allen Stress von mir gebla­sen haben, so fällt der Rest ab, als ich das Häus­chen des Galea­sen B&B betre­te. Wer braucht einen 5‑S­ter­ne-Schup­pen, wenn er „Hyg­ge“ satt bekommt?

Nord­by rühmt sich damit, dass sei­ne Alt­stadt seit 1820 unver­än­dert ist – ein Gas­sen­la­by­rinth, von denen die soge­nann­ten „slip­pe“ in Rich­tung Wat­ten­meer füh­ren. Eins der ältes­ten Gebäu­de ist das 300 Jah­re alte Fanø Muse­um, das erzählt, wie es sich vor etwa 200 Jah­ren auf Fanø leb­te. Fast möch­te ich nicht glau­ben, dass die Insel einst eine Groß­macht der Segel­schiff­fahrt war und der Schiff­bau auf Fanø 1850 sei­nen Höhe­punkt erreich­te. Die Insu­la­ner bra­chen in die Welt auf und erar­bei­te­ten sich Reich­tum, der die Exis­tenz der schmu­cken Kapi­täns­vil­len erklärt. Und auch die bei­den weh­mü­tig drein­schau­en­den Por­zel­lan­hun­de, die in fast jeden Fens­ter­sims schmü­cken: Zwi­schen 1860 und 1900 war es für däni­sche See­fah­rer ein Muss, ihren Frau­en die­se Figu­ren aus Eng­land mit­zu­brin­gen, die Treue und Gebor­gen­heit sym­bo­li­sier­ten. Stach der Mann in See, schau­te ihm das Hun­de­paar nach, kehr­te er zurück, rich­te­ten die Hun­de den Blick nach innen auf die wie­der­ver­ein­ten Gelieb­ten.

Selbst in der Hoved­ga­den, der Haupt­stra­ße, ent­de­cke ich in den Fens­tern vie­le Hun­de­pär­chen. Doch haupt­säch­lich rei­hen sich dort klei­ne Geschäf­te, Bou­ti­quen, Cafés und Restau­rants anein­an­der, eine Crè­pe­rie wirbt mit Crè­pes mit Schin­ken von Schlach­ter Chris­ti­an­sen. Als Nach­tisch gibt es im Fanø Vaf­fel & Bols­je­hus neben Waf­feln auch typisch däni­sches Soft­eis mit Top­pings nach Wahl. Und wie las­sen sich die gesam­mel­ten Kalo­rien wie­der abtrai­nie­ren? Bei einer Fahr­rad­tour über die Insel, denn das bes­te Trans­port­mit­tel auf Fanø ist der Draht­esel – bei mir der von Lone, in den meis­ten Fäl­len ein Leih­fahr­rad vom Fahr­rad­la­den in Nord­by.

Luft unter den Flü­geln

Schon beim ers­ten Spa­zier­gang durch Nord­by fal­len sie ins Auge: blaue Schil­der mit wei­ßem Fahr­rad dar­auf, dazu die Zahl 404 und das Wort ‚Pan­ora­ma­ru­te‘. „Die Stre­cke besteht aus 26 Kilo­me­tern und ist eine von 25 däni­schen Pan­ora­ma­ru­ten in Küs­ten­nä­he“, erklärt Poul Ther­kel­sen bei der Tou­ris­ten­in­for­ma­ti­on. Sie sei Teil des Pro­jekts „Powered by cycling: Pan­ora­ma“, geför­dert vom Regio­nal­fond der EU. „Luft unter den Flü­geln, der Duft des Mee­res, Leben und unbe­schwer­te Tage, sowie der unwi­der­steh­li­che Charme von den Städ­ten Son­der­hø und Nord­by bewir­ken, dass sich Gedan­ken dar­über, wie das Leben eigent­lich gelebt wer­den soll­te, unter­wegs auf die­ser bezau­bern­den Rad­tour wie­der­holt in das Bewusst­sein drän­gen“, steht auf dem Zet­tel, der die Rou­te und ihre High­lights beschreibt.

Die Tour star­tet beim Wahr­zei­chen des Hafens – zwei trau­rig drein­schau­en­den Hun­den auf einem Sockel. Sie führt vor­bei an einer Sand­bank, wo sich neben Schif­fen und weni­ge Meter vor der Ufer­pro­me­na­de Rob­ben in der Son­ne rekeln. Unge­stört vom mensch­li­chen Publi­kum genie­ßen sie ihr Mini-Para­dies und ich bil­de mir ein, ein Grin­sen auf man­chem Rob­ben­ge­sicht zu erken­nen.

Kurz nach dem alten Segel­schiff Rebek­ka las­se ich Nord­by hin­ter mir und bald auch die Haupt­stra­ße in Rich­tung Son­der­hø, dem süd­lichs­ten Ort der Insel. Statt nach Süden fah­re ich nach Osten, hin­ein in die Land­schaft, zwi­schen Büschen und Wäl­dern, wo es kei­ne Autos mehr gibt, dafür aber Bie­nen­kör­be, klei­ne Seen und jede Men­ge Vögel. Wenn das Schild „Klit­plan­ta­ge“ erscheint, ist man ange­kom­men inmit­ten des Natio­nal­parks, in einem Wald­ge­biet aus 1.421 Hekt­ar, wo Berg- und Wald­kie­fern sowie die Sit­ka Fich­te auch vie­le Laub­bäu­me als Nach­barn haben und wo Rehe und Dam­wild leben. Ich lau­sche den Rei­fen auf dem Kie­sel­stein, mei­nem gleich­mä­ßi­gen Atem, spü­re den Wind­hauch.

Erst, als der Wald­spiel­platz am west­li­chen Ende des Wal­des näher­kommt, des­sen Spiel­ge­rä­te aus Holz des Wal­des gebaut wur­den, höre ich Kin­der­la­chen und plau­dern­de Erwach­se­ne. Dann geht es wei­ter unter frei­em Him­mel in Rich­tung der Dünen, wobei mich Zie­gen, deren Par­füm die sal­zi­ge Mee­res­bri­se über­la­gert, unter einem impro­vi­sier­ten Spitz­dach beäu­gen. Bald liegt er vor mir, Fanøs 12 Kilo­me­ter lan­ger Strand, der an den dicks­ten Stel­len gut 700 Meter breit ist. Autos und Rad­ler rol­len lang­sam über den kom­pak­ten Sand. Wahn­sinn! Strand-Radeln macht Spaß und ich fah­re wei­ter, hin­ein in den Son­nen­un­ter­gang, dem selbst ein leich­ter Wol­ken­vor­hang nicht die Schau steh­len kann.

Hei­ra­ten, Watt­wan­dern und was man sonst auf einer Insel treibt

Am Abend laden mich Lone und Grom auf ein Glas Wein auf ihrer Ter­ras­se ein. End­lich erfah­re ich, war­um ich ein Fahr­rad mit der Beschrif­tung „Wed­ding Island“ fah­re: Neben der Unter­kunft betreibt Lone näm­lich auch einen Hoch­zeits­ser­vice. „Vie­le Paa­re kom­men auf die Insel, um zu hei­ra­ten“, erzählt sie mir, „vor allem Pär­chen mit einem aus­län­di­schen Part­ner, für die eine Hoch­zeit in Däne­mark leich­ter ist.“ Die Geschäfts­idee sei ihr gekom­men, als sie stell­ver­tre­ten­de Bür­ger­meis­te­rin wur­de und auch das Amt der Stan­des­be­am­tin über­nahm. Mitt­ler­wei­le habe sie die Kom­mu­nal­po­li­tik hin­ter sich gelas­sen, aber am schöns­ten Teil ihrer Arbeit fest­ge­hal­ten – Paa­re zu trau­en. „Ich orga­ni­sie­re etwa 220 Hoch­zei­ten pro Jahr, die meis­ten am Strand.“

Hei­ra­ten gehört zwar nicht zu mei­nen bevor­zug­ten Akti­vi­tä­ten auf Fanø, eine Watt­wan­de­rung aber schon. Denn wenn man schon auf einer Insel mit­ten im Natio­nal­park Wat­ten­meer ist, zu dem er 2010 wur­de und den 2015 die Auf­nah­me ins UNESCO-Welt­erbe krön­te, muss man auch ein­mal bar­fuß über den mat­schi­gen Mee­res­bo­den spa­zie­ren. Früh­mor­gens geht es am Strand bei Son­der­hø ganz im Süden los, zei­tig genug, damit die Flut Watt­gän­ger nicht über­rum­pelt. Zunächst kann sich die Son­ne noch nicht gegen den Grau­schlei­er am Him­mel durch­set­zen, doch zumin­dest braucht man sich Ende August wenig Gedan­ken um See­ne­bel machen – der laut Helen Mäh­ler, einer gebür­ti­gen Deut­schen, die seit Jah­ren in Däne­mark lebt und auf Fanø als Watt­füh­re­rin arbei­tet, gera­de an lau­war­men Früh­lings­ta­gen zuschlägt. „Mir ist es pas­siert, dass ich los­ge­lau­fen bin, mich irgend­wann umge­dreht habe und den Strand nicht mehr sah“, berich­tet sie, wäh­rend sich die Kin­der der Grup­pe Eimer schnap­pen, in denen sie tote Kreb­se sam­meln.

Ich schaue auf die vor Näs­se glän­zen­de Wei­te, über den grau-brau­nen Schlamm­bo­den, der ohne das Meer wirkt wie ein run­ze­li­ger Mensch, dem man sämt­li­che Kla­mot­ten und allen Schmuck ent­ris­sen hat. Doch der ers­te Ein­druck, dass vor uns ein gro­ßes Nichts liegt, täuscht. „Die meis­ten Tie­re gra­ben sich tief in den Watt­bo­den ein und pas­sen sich den Schwan­kun­gen der Tem­pe­ra­tu­ren und Strö­mun­gen an“, weiß Helen. Die Grup­pe spa­ziert los, über schwam­m­ähn­li­che gel­be Bro­cken hin­weg. „Das ist Para­fin von Schif­fen, das sich am Strand ansam­melt.“ Dafür, Bern­stein zu fin­den, ist es noch zu warm – gera­de in der küh­le­ren Jah­res­zeit ist Fanø näm­lich für sei­nen Bal­ti­schen Bern­stein bekannt, der zwi­schen 30 und 50 Mil­lio­nen Jah­ren alt ist und bei Stür­men mit ande­rem Strand­gut an Land treibt.

Als Ers­tes stol­pe­re ich über ein Grün­ge­wächs, aus dem jede Men­ge haut­far­be­ner Würm­chen her­vor­ste­chen – Quel­ler, eine Watt­meer­pflan­ze, die ess­bar ist und gut zu Fisch passt. Ich kaue auf einem der Wür­mer her­um, der mee­rig und sal­zig schmeckt. Tram­pelt man an einer Stel­le des Watt­bo­dens her­um, kom­men nach kur­zer Zeit Herz­mu­scheln zum Vor­schein, das Lieb­lings­es­sen der Möwen. „Men­schen kön­nen die­se Muscheln nur essen, wenn das Was­ser küh­ler als 14 Grad ist“, warnt uns Helen. Die Möwen haben die­ses Pro­blem nicht. „Wenn ihr euch Möwen­kot genau anschaut, sieht er aus wie ein bun­tes Mosa­ik“, lacht Helen. Den Rest der Tour ach­te ich dar­auf, nicht in die künst­le­risch auf­wen­di­gen Mosai­ke zu tre­ten, die den Watt­bo­den zie­ren. Die Muscheln gra­ben sich unter­des­sen flink wie­der in den Sand ein. Selbst­er­hal­tungs­trieb Delu­xe.

Doch Möwen­mo­sai­ke sind nicht das Ein­zi­ge, was sich zu unse­ren Füßen sam­melt. Da wären auch immer wie­der dunk­le Spa­ghet­ti-Hau­fen. „Watt­wurm­ka­cke! Gegen­über den Hau­fen seht ihr meist ein Loch, da ist der Kopf des Wurms, und dort, wo die Spa­ghet­ti lie­gen, ist der Po.“ Eine Frau zieht den Fuß ange­wi­dert von einem der Häuf­chen. „Watt­wurm­ka­cke ist der sau­bers­te Sand, den es gibt, denn der Wurm saugt ihn auf – pro Jahr etwa 25 Kilo – fil­tert ihn und furzt ihn dann gerei­nigt wie­der raus.“

Da erschei­nen die grün begras­ten Kreb­se, die im Matsch her­um­wan­ken, fast lang­wei­lig. Ob da ein Männ­chen oder Weib­chen läuft, lässt sich auf einen Blick erken­nen: Männ­li­che Kreb­se haben einen spit­zen Schwanz, weib­li­che einen run­den. Die Zan­gen, eine gro­ße und eine klei­ne, sind bei bei­den gleich. „Mit einer hält er die Muschel, mit der ande­ren knackt er sie“, erklärt Helen. Im Gegen­satz zu den Bei­nen könn­ten die Zan­gen jedoch nicht nach­wach­sen, falls sie von einer Möwe aus­ge­ris­sen wür­den. Was ich auch noch nicht wuss­te: Kreb­se kön­nen ihren Rücken­pan­zer abwer­fen, wenn er ihnen zu eng wird, wes­we­gen im Watt vie­le ver­wais­te Pan­zer lie­gen. Es ist, als wäre einem Men­schen die Decke auf den Kopf gefal­len und er hät­te sich kur­zer­hand aus dem Staub gemacht.

Das Bes­te kommt zum Schluss: Eine Sand­bank andert­halb Kilo­me­ter tief im Meer, auf der sich 400 bis 500 See­hun­de und Kegel­rob­ben tum­meln. Dort aalen sie sich in der lang­sam her­vor­ste­chen­den Son­ne, eini­ge in Rücken­la­ge, als müss­ten sie auch ihre Unter­sei­te mal durch­bräu­nen. Uns trennt ein rei­ßen­der Was­ser­ka­nal von­ein­an­der. Helen erzählt von den Babys, die im Janu­ar oder Febru­ar gebo­ren wur­den und zum Teil noch ihren wei­ßen Baby­pelz zur Schau stel­len, wäh­rend die Teen­ager von sechs bis sie­ben Mona­ten bereits zu statt­li­chen Tie­ren her­an­ge­wach­sen sind. „Die Rob­ben kön­nen die ers­ten vier oder fünf Wochen nicht schwim­men und lie­gen ein­fach auf dem Sand.“ Pro Tag frä­ßen sie etwa 20 Kilo Fisch. Ein biss­chen benei­de ich sie, die­se See­hun­de und Rob­ben, die mit­ten im Meer unge­stört von der Welt vor sich hin chil­len und nur in die Wel­len zu sprin­gen brau­chen, wenn Appe­tit auf­kommt.

Vom Win­de ver­weht

Auf Fanø ent­de­cke ich mei­nen neu­en Lieb­lings­strand­sport: Blo­kart fah­ren. Gui­de Adri­an von Club Fanø ist gera­de beim Auf­bau der etwas luf­tig wir­ken­den, drah­ti­gen Segel-Ses­sel mit Rädern, als mich ordent­lich Rücken­wind mit mei­nem Fahr­rad anbläst. Ich wer­de mit Helm und Hand­schu­hen aus­ge­stat­tet, viel zu erklä­ren gibt es nicht. „Der Wind kommt heu­te stark von Nor­den, also fah­ren wir in Rich­tung Osten und Wes­ten. Wenn es zu sehr nach Süden geht, kom­men wir nach­her nicht mehr zurück.“ Das Gan­ze scheint denk­bar ein­fach: Beim Zie­hen an der Schnur wird das Segel fes­ter, lässt man los, hat der Wind das Sagen. „Wenn du um eine Kur­ve fährst, hol Schwung, dann lass die Schnur locke­rer.“ Alles klar.

Adri­an fährt vor, ich soll ihm fol­gen, immer schön im Sla­lom um die Ver­kehrs­hörn­chen, wie frü­her, als ich Fahr­rad­fah­ren lern­te. Der Wind bläst hef­tig von der Sei­te, über­mannt mein Segel, und ich schie­ße in gera­der Linie aufs Meer zu, wäh­rend Adri­an brav Sla­loms fährt. Ich sehe mich schon voll beklei­det mit mei­nem Blo­kart in der Nord­see, bis ich die Schnur ein wenig locke­re und in letz­ter Sekun­de doch noch die Kur­ve krie­ge.

Mit brei­tem Grin­sen schie­ße ich zurück in Rich­tung Dünen, nie­te eini­ge Hüt­chen um, und Adri­an lässt mich machen. Mehr­mals kip­pe ich um, schla­ge mir ein Knie und einen Knö­chel blau, doch ein gewis­ser Schwund ist halt dabei. Je län­ger ich über den Strand kur­ve, des­to bes­ser ver­ste­he ich das Spiel. Es ist wie im Leben: Wenn man mit zu viel Wind im Segel um die Ecke biegt, ver­liert man leicht das Gleich­ge­wicht. Mann muss die Schnur auch mal locker­las­sen kön­nen und den Wind den Rest machen las­sen, um es um die nächs­te Kur­ve zu schaf­fen – aber auch nicht all­zu lang, denn sonst bleibt man ste­cken.

Das schöns­te Dorf Däne­marks

Dafür, dass Fanø so klein ist, hat es eini­ges zu bie­ten. Dar­un­ter das angeb­lich schöns­te Dorf Däne­marks, Son­der­hø, an der Süd­spit­ze. Um vom Strand ins Dorf zu kom­men, rad­le ich an der Møl­le vor­bei, der Müh­le von 1895, die bis 1923 noch in Betrieb war, und an der Kir­che, wie die in Nord­by auch eine Hal­len­kir­che. Im Inne­ren bau­meln 15 Schiff­mo­del­le von der Decke, die größ­te Schiffs­mo­dell­samm­lung des Lan­des – eine ech­te See­fah­rer­kir­che mit weiß gestri­che­ner Decke und blau­en Bän­ken.

Genau wie bei Men­schen, wo mir eini­ge auf Anhieb sym­pa­thisch sind und ande­re nicht, füh­le ich mich auch an einem Ort ent­we­der gleich wohl oder eben nicht. Son­der­hø gehört zu denen, die mir ein Gefühl von Ankom­men und Blei­ben­wol­len ver­mit­teln. Ein Dorf mit engen Gas­sen, geziert von reet­ge­deck­ten Häu­sern, die meis­ten von Mit­te des 18. Jahr­hun­derts oder aus dem 19. Jahr­hun­dert. Zu der Zeit war Son­der­hø die bedeu­tends­te See­fah­rer­stadt an der jüt­län­di­schen West­küs­te. Vie­le der älte­ren Häu­ser haben eini­ge Merk­ma­le gemein­sam: Sie sind klein, eben­erdig, reet­ge­deckt und haben Wohn­raum und Stall in einem Gebäu­de. Wenn man genau hin­schaut, sind die Gie­bel nach Ost-West aus­ge­rich­tet, wodurch sie den kal­ten Win­ter­win­den bes­ser trot­zen kön­nen. Eini­ge der tra­di­tio­nel­len Reet­dach­häu­ser wei­sen über der Haus­tür einen halb­run­den Dach­er­ker auf, den „arken­gab“, außer­dem fal­len grü­ne, schwar­ze und wei­ße Zie­gel­stei­ne über Türen und Fens­tern ins Auge. „Die Far­ben sym­bo­li­sie­ren Geburt, Leben und Tod“, erzählt eine älte­re Dame in Han­nes Hus, einem alten See­fah­rer­haus, das nun als Muse­um dient.

Bereits beim Ein­tre­ten ver­neh­me ich den Atem ver­gan­ge­ner Gene­ra­tio­nen in mei­nen Lun­gen, viel Freu­de und Ängs­te der Men­schen, die hier seit dem Bau des Hau­ses 1750 leb­ten. Das Ambi­en­te ist so gut erhal­ten, dass man denkt, die Bewoh­ner sei­en kurz ein­kau­fen. Da ist der Ofen vor blau-wei­ßen Kacheln, da ist der Holz­tisch mit wei­ßer Tisch­de­cke, das klei­ne Bett mit einer Pup­pe dar­auf. Eine gewis­se Nost­al­gie über­kommt mich, ich sehe die Wit­we Han­ne hier mit ihren Kin­dern spie­len, wäh­rend Son­nen­strah­len durch die Fens­ter drän­gen. Wie es wohl war, hier sei­ne Kind­heit zu ver­brin­gen?

Das soll ich nie erfah­ren, wohl aber, wie ein fei­nes Zwei­gän­ge-Menü im Son­der­hø Kro schmeckt: Dorsch mit Lauch als Vor­spei­se und als Haupt­gang Fisch des Tages mit Muscheln und Fen­chel. Die Atmo­sphä­re in dem nied­ri­gen Raum mit Holz­bo­den ist genau­so hyg­ge­lig, gemüt­lich, wie das Essen köst­lich. Als es an der Zeit ist, nach Nord­by zurück­zu­ra­deln, schaut mir eine Kat­ze blin­zelnd von einer Haus­tür aus zu. „Bis zum nächs­ten Mal“, scheint sie sagen zu wol­len.

Skål!

Fanø hat nicht nur den bes­ten Schlach­ter und das schöns­te Dorf von Däne­mark, son­dern auch eins der bes­ten Bie­re, gebraut im insel­ei­ge­nen Fanø Bryg­hus. Gut gestärkt mit einem Fanø smør­re­brød, dem But­ter­brot aus dün­nen Weiß­brot­schei­ben mit sechs ver­schie­de­nen Auf­schnitt­ar­ten und in Drei­ecke geschnit­ten, bin ich bereit für die Bier­ver­kos­tung. „Die­ses Gebäu­de war frü­her ein Elek­tri­zi­täts­werk und bis Mit­te der 70er Jah­re in Betrieb“, erzählt Event Mana­ger Jes­per Voss. „2005 hat das ers­te Brau­haus eröff­net, ging jedoch nach zwei Jah­ren plei­te, aber Ende 2008 haben wir neu auf­ge­macht.“ Das Gebäu­de habe man mit Akti­en­gel­dern gekauft, aber auch Pri­vat­per­so­nen hät­ten inves­tiert, denn die Braue­rei erfreue sich auf der Insel gro­ßer Beliebt­heit. „Wir haben zwei ame­ri­ka­ni­sche Brau­meis­ter, denn die Ame­ri­ka­ner machen ein­fach das bes­te Bier“, gibt Jes­per lachend zu.

Erst­mals ler­ne ich vom deut­schen Bier-Rein­heits­ge­bot von 1516, dem­zu­fol­ge nur Was­ser, Hop­fen und Gers­te als Zuta­ten erlaubt sind – und über das sich das Fanø Bryg­hus stolz hin­weg­setzt. „Wir haben Bier mit Holun­der, Milch­scho­ko­la­dens­tout mit Milch­zu­cker­pul­ver und Kako­boh­nen und auch Bier mit Pfef­fer und Salat­gur­ken.“ Craft-Braue­rei­en sei­en in Däne­mark so beliebt, weil mal die ver­schie­dens­ten Bier­sor­ten aus­pro­bie­ren kön­ne. Die Brau­meis­ter hät­ten sogar ein Red Wed­ding Bier nach der Game of Thro­nes-Serie ent­wor­fen, das in Rot­wein­fäs­sern gela­gert wor­den sei. „Letz­tes Jahr haben wir 27 neue Bier­sor­ten auf den Markt gebracht, im Moment füh­ren wir aber nur noch 20 ver­schie­de­ne – vor dem Som­mer waren es 35, aber sie sind alle aus­ge­trun­ken.“ Kein Wun­der, denn angeb­lich ist Däne­mark das EU-Land, wo der meis­te Alko­hol getrun­ken wird. „Fanø ist die däni­sche Gemein­de, wo man in Däne­mark am meis­ten trinkt.“ Ob das der Grund ist, dass die Insu­la­ner alle­samt tie­fen­ent­spannt wir­ken? Bei 300.000 Litern Bier pro Jahr, die auf Fanø gebraut wer­den, kann ich mir das lang­sam vor­stel­len.

„Unser Bier gehört mit zum bes­ten in Däne­mark und zu den füh­ren­den 100 Bie­ren welt­weit“, rühmt sich Jes­per, der frü­her als Diplom­sport­leh­rer arbei­te­te, dann als Head­hun­ter und sich nach einem Burn­out der Insel und dem Bier ver­schrieb. Dass das Bier die bes­te Medi­zin war, glau­be ich ihm gern, als end­lich die ers­te Fla­sche auf­geht und ich dickes Red Wed­ding Bier schlür­fe, gefolgt von wei­te­ren Krea­tio­nen der gro­ßen Meis­ter, deren Bier­auf­kle­ber auch manch poli­ti­sches State­ment abge­ben: Eine Fla­sche ziert ein lang­na­si­ger Trump, eine wei­te­re ein dümm­lich drein­schau­en­der US-Prä­si­dent mit der Unter­schrift „Man­go Mus­so­li­ni“. Auch „Sex in a bot­t­le“ ist zu fin­den, ein­mal für die Frau mit Män­ner­ab­bild, ein­mal für den Mann mit Frau­en­ab­bild. Als ich die Braue­rei ver­las­se, ist mir das sehr undeut­sche „Rein­heits­ge­bot“ äußerst sym­pa­thisch gewor­den – alles, was irgend­wem schmeckt, geht, und die Fan­ta­sie ist so frei wie ein Ster­nen­him­mel jen­seits aller Licht­ver­schmut­zung.

Son­nen­un­ter­gang beim Atlan­tik­wall

Jedes Mal, wenn mei­ne Zeit an einem Ort, den ich ins Herz geschlos­sen habe, dem Ende zugeht, emp­fin­de ich eine gewis­se Nost­al­gie. Das Gefühl, dass ich wei­ter­muss, bevor ich dazu bereit bin, wie bei der Tren­nung von einem gelieb­ten Men­schen. Und doch ist es ein Gefühl, das bei jeman­dem, der vom Schrei­ben und Rei­sen lebt, wie das Klein­ge­druck­te in einem Ver­trag zum Job dazu­ge­hört. Ein letz­tes Mal rad­le ich nach einem abend­li­chen Plausch mit Lone und Gorm nach Fanø Bad, zu einem klei­nen Stück des lan­gen West­küs­ten-Stran­des. Noch immer bläst mir der Wind so stark ent­ge­gen, dass ich mich mit aller Kraft auf mei­nem Rad dage­gen­stem­men und wie wahn­sin­nig in die Peda­le tre­ten muss. Es ist, als soll­te ich nicht ankom­men, als woll­te mir der Wind einen letz­ten Son­nen­un­ter­gang vor­ent­hal­ten, aber so läuft das nicht.

Ich fah­re hin­ein in die Dünen – und ste­he bald vor einem Bun­ker am Meer, bekle­ckert mit Graf­fi­ti. „Pla­s­tic Beach“ steht auf dem grau­en Unge­tüm, zu dem eine gan­ze Bun­ker­an­la­ge gehört. Er ist einer von zahl­rei­chen Über­res­ten des soge­nann­ten Atlan­tik­walls auf Fanø – einer rie­si­gen Ver­tei­di­gungs­an­la­ge, errich­tet von der deut­schen Wehr­macht wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs, die von Nord­nor­we­gen bis nach Spa­ni­en reich­te. Damit soll­te das Fort­schrei­ten der west­li­chen Alli­ier­ten ver­hin­dert wer­den. Die Hafen­stadt Esbjerg war von beson­de­rer stra­te­gi­scher Bedeu­tung, wes­halb auch das vor­ge­la­ger­te Fanø vor­ran­gig in der Ver­tei­di­gung wur­de: Es ent­stan­den über 300 Bun­ker, Beton­stra­ßen, Geschüt­ze, Eisen­bah­nen, Pan­zer­grä­ben und Bara­cken. Eine 2.300 Mann star­ke deut­sche Besat­zungs­trup­pe zog auf Fanø ein, dazu kamen 1.275 däni­sche Arbei­ter, wel­che die Bun­ker errich­te­ten.

Über die Jahr­zehn­te hat die Natur das mit den Bun­kern und Anla­gen gemacht, was man nun mal mit häss­li­chen grau­en Unge­tü­men und allem, was man sonst nicht mehr sehen möch­te, macht: Sie hat Gras dar­über wach­sen las­sen oder Sand dar­über geweht. Die Bun­ker, die noch sicht­bar sind, die­nen Son­nen­un­ter­gangs­lieb­ha­bern wie mir als sand­frei­er Sitz­platz, von wo sich herr­lich beob­ach­ten lässt, wie der Him­mel pas­tell­far­be­ne Töne annimmt. Nicht das grel­le Oran­ge und Pink und Lila, mit dem der Him­mel in der Süd­see angibt. Auch nicht das knal­li­ge Rot eines hin­ter Afri­ka ver­sin­ken­den Feu­er­balls. Da sind nur Baby­ro­sa mit Baby­blau, bemalt mit ein paar Wol­ken, die den Tag ver­ab­schie­den. Sanft und lei­se wie Fanø selbst, ein Ort, wo die See­le nicht nur bau­meln, aber frei in der stän­di­gen Bri­se wehen darf. Ein Ort, wo Dünen und Sand klamm­heim­lich ver­ges­sen machen, was an Land noch schwer wog.

 Die­se Rei­se wur­de unter­stützt von Visit Den­mark

Unter­kunft: Galea­sen B&B

Emp­feh­lens­wer­te Restau­rants:

Nord­by: Rud­becks Ost & Deli und Syl­ves­ters

Fanø Bad: Kel­lers Bade­ho­tel & Spi­se­hus

Søn­der­ho: Søn­der­ho Kro

Erschienen am



Antworten

  1. Avatar von Bernadette

    Lie­ber Mar­cel,
    vie­len Dank für dei­nen net­ten Kom­men­tar. Ich wün­sche dir, dass du mal die Zeit für die Insel fin­dest, es wür­de dir bestimmt gefal­len.
    Schö­ner Blog, den du hast, wenn ich wie­der mal nach Mal­lor­ca fah­re, wer­de ich mir ger­ne bei dir Infos holen 🙂
    LG
    Ber­na­dette

  2. Avatar von Marcel

    schö­ne Bil­der und ein aus­führ­lich geschrie­be­ner Bericht. Dan­ke 🙂
    Die Ruhe und Natur wür­den mich zu die­sem Ort zie­hen.
    Mal schau­en ob ich irgend­wann mal Zeit fin­de. Lie­be Grü­ße aus Ber­lin Mar­cel
    PS: Besuch mich doch auch mal auf mei­nem Blog 🙂

  3. […] Rei­se­de­pe­schen bum­mel­te durch Riga. Oder fuhr Fahr­rad auf einer däni­schen Insel. […]

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