Es ist so laut, dass mein gan­zer Kör­per und alles um mich herum erzit­tert. Ich habe das Gefühl, die Erde atmet. Als ich oben ankomme bin ich end­lich am Ziel. Vor mir erstreckt sich das Inland­eis, eine schwin­del­erre­gend große Flä­che von 1.726.400 Qua­drat­ki­lo­me­tern unbe­rühr­tes Weiß. Wäh­rend ich tat­säch­lich auf die zweit­größte Eis­kappe der Welt hin­ab­schaue, bekommt der Begriff Weite eine neue Bedeu­tung für mich. Grade als ich wie­der zu Atem komme, höre ich erneut das Grol­len. Und vor mei­nen Augen bricht ein rie­si­ges Stück Eis vom Rus­sells Glet­scher ab und ver­schwin­det tosend im vor­bei­rau­schen­den Eis­was­ser, nur um den Bruch­teil einer Sekunde spä­ter wie­der an die Ober­flä­che zu schie­ßen. Ich jauchze auf, ob vor Freude, Erstau­nen oder Erschre­cken, ich kann es nicht sagen. „Hast du das gese­hen?!“ Ich drehe mich um. Aber hin­ter mir ist nie­mand. Ich habe völ­lig ver­ges­sen, dass ich alleine dort oben stehe. Die­ser Moment gehört nur mir alleine und ich fühle, dass ich meine Feu­er­taufe in der Wild­nis Grön­lands bestan­den habe.

Aber erst ein­mal von Vorne. Zum Zeit­punkt mei­ner Reise nach Grön­land bin ich 18 Jahre alt und habe knapp 4 Wochen zuvor mein Abi Zeug­nis erhal­ten. Schnel­ler als mir lieb war, zog mein letz­tes Schul­jahr an mir vor­bei und alle schwärm­ten von Frei­heit und sehn­ten das Ende her­bei. Gleich­zei­tig wur­den Pläne geschmie­det, von Work and Tra­vel, Urlaub, Stu­dium… Und ich selbst hätte am liebs­ten die Zeit ange­hal­ten. Denn ich wusste weder wohin, noch wie mein Leben nach der Schule wei­ter­ge­hen sollte. Einen Ent­schluss hatte ich jedoch schon früh gefasst. Ich musste Mut für meine Zukunft sam­meln und mir selbst bewei­sen, dass ich bereit war für alles, was von nun an auf mich zukom­men würde. Nor­ma­ler­weise ist man immer umge­ben von ande­ren Men­schen. Und auch wenn man denkt man wäre alleine, oder würde etwas auf eigene Faust tun, so schwimmt man doch meis­tens mit im Strom, erhält Hilfe wenn man sie braucht und kommt nur in sel­te­nen Fäl­len in eine Situa­tion, in der man tat­säch­lich nur auf sich alleine gestellt ist. Und genau letz­te­ren Zustand, wollte ich errei­chen. Denn ich wollte tat­säch­lich ein­mal etwas nur für mich alleine erleben.

Ich suchte lange und inten­siv nach einem mög­li­chen Rei­se­ziel und ent­deckte schließ­lich den Arc­tic Cir­cle Trail, einen ca. 180 km lan­gen Fern­wan­der­weg der quer über die längste eis­freie Flä­che Grön­lands führt. Wo, wenn nicht dort, würde mein Wunsch nach Aben­teuer und Ein­sam­keit in Erfül­lung gehen?! Als ich mei­ner bes­ten Freun­din Drotti auf einem Spa­zier­gang von mei­nen Plä­nen erzählte, war sie die erste Per­son, die meine Begeis­te­rung teilte und meine Beweg­gründe für die Reise nach­voll­zie­hen konnte. So beschlos­sen wir, den ACT gemein­sam zu wan­dern. Anschlie­ßend würde ich mich vom Ort Kan­ger­lus­suaq, dem Start­punkt des Trails, alleine auf den Weg zum Inland­eis machen. Heute wun­dere ich mich, wie ich damals meine Eltern über­zeu­gen konnte knapp 3 Wochen alleine durch ein Land zu wan­dern, dass laut Wiki­pe­dia nur 0,026 Ein­woh­ner pro Qua­drat­ki­lo­me­ter zählt. Aber ich habe es geschafft, denn auf ein­mal ging alles sehr schnell. Wir buch­ten unsere Flug­ti­ckets, stell­ten unsere Aus­rüs­tung zusam­men, mie­te­ten ein Satel­li­ten­te­le­fon für Not­fälle, teil­ten Wan­der­etap­pen ein…und stie­gen am 1. August 2016 ins Flug­zeug nach Grönland.

Als wir in Kan­ger­lus­suaq aus dem Flug­zeug stei­gen und auf die Lan­de­bahn hin­aus­tre­ten, bin ich so auf­ge­regt wie sel­ten in mei­nem Leben. Es ist eine Sache, sich vor­zu­stel­len 3 Wochen in einem Zelt zu schla­fen und auch, dass alle Hab­se­lig­kei­ten und das gesamte Essen in einem ein­zi­gen Ruck­sack pas­sen. Eine ganz andere jedoch, wenn man zum ers­ten Mal das Gewicht auf dem Rücken spürt und weiß, dass die Schuhe an den Füßen in den kom­men­den Tagen zum wich­tigs­ten Beglei­ter wer­den. Ab jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber das woll­ten wir auch nicht, denn der ACT hatte eine Art Sog ent­wi­ckelt, der uns von nun an antrieb.

Die erste Nacht ver­brin­gen wir auf dem Cam­ping­platz neben dem Flug­ha­fen. Ent­ge­gen unse­rer Erwar­tun­gen sind wir dort nicht alleine, denn meh­rere Wan­de­rer aus Deutsch­land haben sich eben­falls auf der klei­nen Wiese ein­ge­fun­den und wir ver­brin­gen einen recht amü­san­ten Abend zusam­men. Wie sich jedoch spä­ter her­aus­stel­len wird, wer­den wir unsere Mit-Star­ter auf unse­rer Reise nicht mehr wie­der­se­hen. Der nächste Mor­gen beginnt mit einer Ent­täu­schung in Form des „ulti­ma­ti­ven Smoothie­pul­vers“, wel­ches wir uns für schlappe 8 Euro pro Dös­chen zuge­legt haben (um angeb­lich eine vit­amin­rei­che Ernäh­rung zu gewähr­leis­ten). In mei­nem Becher schwimmt eine grüne Brühe und auch Drotti blickt mehr skep­tisch als ange­tan auf die schwim­men­den Stück­chen herab. Schmerz­los wan­dert unsere Fehl­in­ves­ti­tion in den Müll und wir machen uns lie­ber auf den Weg. Die ers­ten Kilo­me­ter zum Trail füh­ren über eine stau­bige Schot­ter­piste. Weit und breit ist keine Men­schen­seele zu sehen, bis völ­lig uner­war­tet das Geräusch eines knat­tern­den Motors hin­ter uns ertönt. Ohne zu zögern recken wir beide unsere Dau­men nach oben. Wenn wir schon im Aben­teu­er­mo­dus sind, dann kön­nen wir auch ver­su­chen zu tram­pen. Als der zer­beulte Wagen neben uns hält, stei­gen wir rasch ein bevor uns doch Beden­ken kom­men und schnel­ler als erwar­tet errei­chen wir das Ende der Schot­ter­piste und ste­hen auf ein­mal mit­ten in der Natur. Vor uns erstreckt sich eine weite, hüge­lige Land­schaft, die von strup­pi­gen, knö­chel­ho­hen Grä­sern, Moo­sen und Flech­ten bedeckt ist. Und dazwi­schen schlän­gelt sich ein unschein­ba­rer Tram­pel­pfad. Die­ser Weg wird uns nun 180 km von Kan­ger­lus­suaq quer durch die Wild­nis bis nach Sis­i­miut an der West­küste Grönands füh­ren. Außer mit dem Flug­zeug ist dies die ein­zige Ver­bin­dung zwi­schen den Orten, denn eine aus­ge­baute Straße gibt es hier nicht. Die Sonne scheint auf uns herab und wir fol­gen dem Pfad für meh­rere Stun­den. Als der Mit­tag ver­streicht wer­den wir skep­tisch, denn laut unse­rer Wan­der­karte hät­ten wir schon lange an unse­rem Rast­platz ankom­men müs­sen. Wir ver­tie­fen uns über die Karte und da erst bemer­ken wir, dass wir die Karte falsch gele­sen haben. Der Weg ist rich­tig, jedoch sind wir lange nicht so weit vor­an­ge­kom­men, wie gedacht. Das Kar­ten­le­sen braucht anschei­nend doch mehr Übung, als wir erwar­tet haben. Als wir die erste Etappe schließ­lich doch been­den und unser Zelt auf­ge­baut haben, sind wir zwar erschöpft und uns beide ziert ein dezen­ter Son­nen­brand, aber die Nudeln im Koch­topf und der glas­klare See direkt vor unse­rer Nase, las­sen die Stra­pa­zen des Tages im Hin­ter­grund ver­blas­sen. Dank der Mit­ter­nachts­sonne legt sich leich­tes Däm­mer­licht über die Natur. Doch Dun­kel­heit wird es hier nicht geben. Wie sich jedoch her­aus­stellt, zieht ohne die Sonne die Kälte des Nor­dens her­auf und wir ver­krie­chen uns schnell in unsere Schlaf­sä­cke. Tag 2 bringt uns bei­den zuerst steife Glie­der und Rücken­schmer­zen. Durch die unge­wohnte Belas­tung fal­len uns die ers­ten Stun­den Wan­dern schwer und jeder Schritt erfor­dert mehr Ener­gie als mir lieb ist. Ich bin leicht beun­ru­higt, denn in die­sem Zustand wer­den wir die nächs­ten Tage nicht bewäl­ti­gen kön­nen. Doch irgend­wie meint es Grön­land gut mit uns, denn die Land­schaft flacht ab und es scheint mir, als ob irgendwo in mei­nem Kör­per ein Schal­ter umge­legt wird. Auf ein­mal nehme ich den Ruck­sack auf mei­nem Rücken nicht mehr als Last wahr. Statt­des­sen genieße ich das Gefühl zu wis­sen, dass ich alles was ich benö­tige, um zu über­le­ben, mit mir trage. Ich merke, dass die­ses „alles was ich brau­che“ viel weni­ger ist, als ich ange­nom­men habe. Uner­war­te­ter Weise merke ich, dass diese mini­ma­lis­ti­sche Lebens­weise und die Aus­zeit von stän­di­gem zu viel mir gut tut und auch Drotti scheint lang­sam auf dem Trail anzu­kom­men. Wir errei­chen eine kleine Hütte am See, in der wir uns im Gäs­te­buch ver­ewi­gen. Viele Wan­de­rer stel­len über­schüs­si­ges Essen zum Ver­schen­ken in diese Hüt­ten und so fällt uns eine große, blaue Packung Instant-Chili con Carne in die Augen. Wir grin­sen uns an. Die Packung wan­dert in den Ruck­sack und unser Abend­brot für heute ist gesi­chert! Dass ich schon an Tag 2 eine sol­che Begeis­te­rung für der­ar­tig banale Dinge wie Instant-Food ent­wi­ckeln würde, hätte ich nicht erwar­tet. Gegen Nach­mit­tag endet unser Pfad auf ein­mal am Ufer eines wei­te­ren Sees und vor uns tür­men sich rie­sige Fels­bro­cken auf, die zum Teil noch bis ins Was­ser ragen. Ver­wun­dert schauen wir uns nach dem Weg um, aber er ist ver­schwun­den. Plötz­lich fällt mir ein klei­ner Spalt zwi­schen den Fel­sen auf und beim Näher­kom­men wird klar, dass wir wohl oder übel mit­ten hin­durch klet­tern müs­sen. Unsere Ruck­sä­cke schlei­fen an den rauen Stei­nen vor­bei, die meter­hoch über uns auf­ra­gen und unsere Wan­der­stö­cke kla­ckern und krat­zen laut in der Stille. Es sind einige beherzte Sprünge nötig doch ich habe keine Angst. Statt­des­sen strömt das Adre­na­lin durch mei­nen Kör­per und ich bin völ­lig auf meine Schritte fixiert und genieße die Her­aus­for­de­rung. Schnel­ler als gedacht lich­tet sich das Geröll­feld und wir ste­hen wohl­be­hal­ten wie­der auf dem Pfad. Kurz vor Ende des Tages kom­men uns zwei bes­tens gelaunte Ame­ri­ka­ner mit Ghet­to­blas­ter ent­ge­gen und infor­mie­ren uns, dass sie nur einige Kilo­me­ter von hier eines der öffent­li­chen Kanu ange­legt haben, dass wir für den Fol­ge­tag nut­zen kön­nen. Als wir an einem geeig­ne­ten Zelt­platz ankom­men, fal­len wir beide erst ein­mal erschöpft in den Staub und müs­sen lachen. Erleich­tert ent­le­di­gen wir uns unse­rer Wan­der­schuhe und stol­pern zum See, an des­sen Strand wir unsere ver­schwitzte Klei­dung waschen. Die kleine Tube mit bio­lo­gisch abbau­ba­rem Sham­poo wan­dert zwi­schen uns hin und her und wir tau­chen alles in das kühle Nass. Außer auf­ge­wühl­tem Sand und ein paar kläg­li­chen Schaum­bläs­chen tut sich aller­dings nur wenig. Als ich selbst ins Was­ser wate, um meine Haare zu waschen, bleibt mir fast die Luft weg. Trotz der stän­di­gen Sonne am Tag ist das Was­ser eisig und nach­dem ich mich über­winde mit dem Kopf unter­zu­tau­chen, um meine Haare eben­falls mit einem Tröpf­chen Sham­poo ein­zu­rei­ben, stehe ich keine Minute spä­ter wie­der zit­ternd an Land. Trotz­dem muss ich grin­sen. Wer kann schon von sich behaup­ten, mut­ter­see­len­al­lein mit­ten im Nir­gendwo in einen See zu sprin­gen, nur um pseu­do­mä­ßig seine Haare zu waschen? 

Als ich am nächs­ten Mor­gen auf­wa­che, bin ich mir nicht sicher, ob es noch Nacht ist oder schon Tag. Der Wind zerrt an unse­rem Zelt und der Him­mel ist grau. Ich krie­che leise aus dem Zelt und atme die kalte, fri­sche Luft ein. Als sich Drotti eine Weile spä­ter zu mir gesellt, haben sich die Wol­ken jedoch ver­zo­gen und es scheint ein wei­te­rer son­ni­ger Tag zu wer­den. Auf der Suche nach dem ver­spro­che­nen Kanu von ges­tern ver­las­sen den Tram­pel­pfad, der sich heute ohne­hin immer wie­der im Nichts ver­liert und wan­dern am Ufer des end­los gro­ßen und tief­blauen Sees ent­lang. Nach 3 Stun­den sind wir kurz davor unsere Suche abzu­bre­chen. Das Kanu sollte doch in der Nähe lie­gen. In wel­chen Dimen­sio­nen bewe­gen wir uns denn, wenn ein Ziel „in der Nähe“ nach einem mehr­stün­di­gen Marsch immer noch nicht in Sicht kommt? Ist uns womög­lich doch ein ande­rer Wan­de­rer zuvor­ge­kom­men? Schließ­lich ent­deckt Drotti die unschein­bare Metall­kon­struk­tion an einem Hang und wir lau­fen die letz­ten Meter hinab. Zu unse­rem Glück fin­den wir 2, mit Pan­zer­tape geflickte Pad­del und orange leuch­tende Schwimm­wes­ten vor. Die Freude ist, wie auch schon wäh­rend der letz­ten Tage, rie­sig und schon trei­ben wir schau­kelnd weg vom Land und auf den See hin­aus. Meine Beine dan­ken mir für die fast ver­lo­ren geglaubte Aus­zeit und erstaun­li­cher Weise kom­men wir als Ama­teur-Padd­ler recht gut voran. Wäh­rend der gan­zen Fahrt halte ich den Schlauch mei­nes Trink­sys­tems im Mund und fülle es gie­rig jedes Mal neben wir wie­der auf, sobald ich die 2 Liter aus­ge­trun­ken habe. Als wir am gegen­über­lie­gen­den Ufer anle­gen, über­ge­ben wir unser Kanu einem erleich­ter­ten Wan­de­rer, der in die andere Rich­tung unter­wegs ist. Wäh­rend der nächs­ten Tage reden wir sehr viel, auch über viele pri­vate Ange­le­gen­hei­ten, die wir wahr­schein­lich unter ande­ren Umstän­den nie­mals mit­ein­an­der geteilt hät­ten. Wir lachen so viel und so tief aus dem Her­zen wie lange nicht mehr. Andere Male wan­dert jeder für sich, der andere jeweils eine kleine Gestalt 100 Meter ent­fernt, und wir hän­gen schwei­gend unse­ren eige­nen Gedan­ken nach. Das Gehen ist zum All­tag gewor­den. Ich habe das Gefühl, die klare Luft hier durch­strömt mich und klärt mei­nen Kör­per und mei­nen Geist. Der ACT schenkt uns eine unbe­schwerte Zeit. Ich fühle mich befrei­ter, werde ruhi­ger und denke nur sel­ten an die Welt, die sich außer­halb der Berge und Seen befin­det, wel­che mich bis zum Hori­zont umge­ben. Wir begeg­nen Ren­tie­ren und Schnee­ha­sen und ab und an auch ver­ein­zel­ten Wan­de­rern aus der Gegen­rich­tung. Aber das sind nur unschein­bare Augen­bli­cke, denn hier auf dem ACT geht doch jeder ein­zeln für sich. Die Tage und Stun­den ver­schwim­men inein­an­der und irgend­wann kann ich nicht mehr aus­ein­an­der­hal­ten, was wann pas­siert ist oder wie lange wir schon unter­wegs sind. An einem Tag wan­dern wir Abends durch ein aus­ge­dörr­tes Tal und der erhoffte Bach starrt uns leer und aus­ge­trock­net ent­ge­gen. Es ist die erste Nacht mei­nes Lebens, die ich ohne Was­ser ver­bringe. Der mick­rige halbe Liter in mei­nem Trink­sys­tem muss für mich zum Kochen, Waschen und Trin­ken am Abend, sowie für mein Früh­stück am nächs­ten Mor­gen rei­chen. Jeder Trop­fen ist für mich in die­sem Moment unglaub­lich wert­voll und mir wird klar was für ein Glück ich habe, in einem Land zu leben, in dem bei Bedarf unbe­grenzt sau­be­res Was­ser aus dem Han strömt. An einem ande­ren Tag ver­brin­gen wir die Nacht in einer Hütte auf rich­ti­gen Matrat­zen und kochen gie­rig 3 ver­schie­dene Tüten­sup­pen hin­ter­ein­an­der, die ein Vor­gän­ger dort bereit­ge­stellt hat. Die letz­ten Nächte hatte ich mir immer gewünscht in einem rich­ti­gen Bett zu lie­gen, doch jetzt stört mich auf ein­mal die Decke über mei­nem Kopf und ich ver­misse den Wind und die Geräu­sche der Nacht. Wir kna­cken die 100 Kilo­me­ter Marke und sind somit jeweils 3 Tages­mär­sche in jede Rich­tung von der Zivi­li­sa­tion ent­fernt. In unse­rer Pause tref­fen auf ein älte­res Pär­chen aus Deutsch­land. Wir unter­hal­ten uns lange und es ist ein berei­chern­des und inspi­rie­ren­des Gespräch. Es erstaunt mich immer wie­der, wie viele unter­schied­li­che Men­schen die­ser Weg anzieht. Beim Wei­ter­wan­dern fin­den wir uns auf ein­mal auf der fal­schen Seite eines gro­ßen Baches wie­der. Erstaunt bli­cken wir auf den Pfad, der sich par­al­lel von uns auf der ande­ren Seite in die Berge win­det. So ein­fach über­que­ren kön­nen wir den Bach nicht und so ver­su­chen wir im Über­mut eine Brü­cke zu bauen, in dem wir Steine vom Ufer ins Was­ser plat­schen las­sen. Nach eini­ger Zeit geben wir auf. Wir schauen uns an und bre­chen in Geläch­ter aus. Wie kommt man bitte auf so eine Idee? Es tut gut, wie­der Kind zu sein und gleich­zei­tig ganz alleine die Ver­ant­wor­tung für sein Leben zu tra­gen. Letzt­end­lich fin­det sich einige Kilo­me­ter wei­ter eine geeig­nete Stelle zum Über­que­ren, doch unse­ren Ver­such hal­ten wir trotz­dem fei­er­lich mit der Kamera fest. 

Es geschieht sehr viel auf die­ser Reise und ich kann nur einen Bruch­teil des­sen hier Tei­len. Ich fühle mich, als wären wir eine Ewig­keit auf dem ACT unter­wegs gewe­sen, doch die letz­ten Tage ver­ge­hen viel zu schnell. Wir beide star­ren nur so vor Dreck. Meine Nägel, Füße und Haare sind gelinde aus­ge­drückt der Natur ver­fal­len, doch trotz allem ruht eine tiefe Zufrie­den­heit in uns bei­den. Als wir an unse­rem letz­ten Tag über einem gewal­ti­gen Tal ste­hen und zwi­schen zwei Ber­gen das Meer erbli­cken, fal­len wir uns jubelnd in die Arme. Wir hören die Hus­kys Sis­i­mi­uts heu­len und es schallt weit in die Nacht hin­ein. Es gleicht bei­nahe einem per­sön­li­chen Empfang. 

Von Sis­i­miut selbst fühle ich mich mehr über­rum­pelt, als dass ich mich freue am Ziel zu sein. Obwohl nur 10 Tage ver­gan­gen sind, bin ich es nicht mehr gewöhnt mich auf asphal­tier­ten Stra­ßen zu bewe­gen und die Men­schen, Autos und Häu­ser machen mich unru­hig. Tat­säch­lich erhalte ich genau in die­sem Augen­blick einen Anruf von mei­ner Mut­ter. Über eine Woche war ich für keine Men­schen­seele erreich­bar und die Men­schen denen ich flüch­tig begeg­net bin, kann ich an einer Hand abzäh­len. Es ist schwer die­sen Gefühls­zu­stand zu ver­mit­teln, jedoch holt die Nach­richt mei­ner Mum mich schlag­ar­tig in die Rea­li­tät zurück. Ich habe tat­säch­lich einen Stu­di­en­platz für Psy­cho­lo­gie erhal­ten. Über 700 Kilo­me­ter von zu Hause ent­fernt. Und heute endet die Dead­line für die Zusage. Ich stehe Mit­ten in Grön­land am Stra­ßen­rand und vor­bei­fah­rende Autos wir­beln mir Staub ins Gesicht. Es grenzt bei­nahe an Iro­nie, dass ich mich hier­her gewagt habe, um Ver­ant­wor­tung zu ler­nen und dann hier tat­säch­lich eine der­ar­tige Ent­schei­dung tref­fen muss, von der meine Zukunft vor­läu­fig abhängt. Ich druckse herum und sage schließ­lich zu. Heute habe ich den Stu­di­en­ort gewech­selt, was mir eben­falls eini­ges an Ent­schei­dungs­kraft abver­langt hat. Doch rück­bli­ckend bin ich froh, dass ich mich beide Male traute ja zu sagen. Als wir Sis­i­miut ver­las­sen und zum Flug­ha­fen tram­pen, sind wir beide erleich­tert. In weni­ger als 25 Minu­ten über­flie­gen wir eine Distanz, für die wir zu Fuß 10 Tage gebraucht haben. Es fühlt sich befremd­lich an und gleich­zei­tig bli­cken wir stau­nend hinab und begrei­fen, was wir gemeis­tert haben. Wir schauen uns an und in den Augen der ande­ren spiel­gelt sich stum­mer Respekt.

Am 13. August 2016 steigt Drotti alleine in Kan­ger­lus­suaq in den Flie­ger und ich warte so lange, bis er zwi­schen den Wol­ken nicht mehr zu sehen ist. Heute beginnt Teil 2 mei­ner Reise. Die nächste Woche bin ich nicht mehr Solo im Dop­pel­pack, son­dern tat­säch­lich völ­lig auf mich alleine gestellt unter­wegs. Und das ist nicht unter­trie­ben. Ich werde, außer eini­gen ein­hei­mi­schen Jägern die ich aus der Ferne erbli­cke, kei­nem ein­zi­gen Men­schen begeg­nen und kein Wort spre­chen. Von nun an beginnt meine 80 Kilo­me­ter lange Route weg vom ACT und hin zum Inland­eis. Ich bin auf­ge­regt und stopfe mir meine Kopf­hö­rer in die Ohren. Ich höre das Dschun­gel­buch in Dau­er­schleife und kann bald das Gesetz des Dschun­gels auf­sa­gen, sowie gemein­sam mit King Louie Mowgli über­re­den ein Feuer zu ent­zün­den. Ich wan­dere im san­di­gen Fluss­bett und neben mir rauscht der Glet­scher­fluss vor­bei. Der Tag ver­geht schnell und wie­der muss ich einen Abend ohne Was­ser ver­brin­gen. Als ich im Zelt liege und die Musik ver­stummt, kriecht plötz­lich die Stille unbarm­her­zig in jeden Zen­ti­me­ter mei­nes Kör­pers. Ich bin alleine. Erst jetzt wird mir die volle Bedeu­tung die­ses Sat­zes klar. Ich habe Angst und wühle mich aus mei­nem Schlaf­sack ins Freie. Mein Atem geht immer schnel­ler und ich fange ich an zu wei­nen. Warum tue ich das hier? Wem will ich damit etwas bewei­sen? Und warum kann ich mich nicht wie alle ande­ren mit einem nor­ma­len Urlaub begnü­gen? Ich weine die Erschöp­fung der letz­ten Tage hin­aus und auch die Wut auf mich selbst. Ich schreie und trete gegen die Sträu­cher, bis ich mich schließ­lich beru­hige und müde ins Zelt zurück steige. Am Mor­gen ratio­niere ich mein rest­li­ches Essen für die nächs­ten Tage. Da ich meine Gas­kar­tu­sche vor dem Flug abge­ben musste, blei­ben für die nächs­ten Tage nur meine Hafer­flo­cken und die Reste des Stu­den­ten­fut­ters übrig. Ich klaube jede ein­zelne Rosine vom Boden und fülle sie bedäch­tig zurück in die Tüte. Für den ein oder ande­ren mag dies eine schreck­li­che Aus­sicht dar­stel­len, doch mir machte es nichts aus. Ich hatte meine nega­tive Ener­gie am Vor­abend zurück­ge­las­sen und alles akzep­tiert und ab die­sem Zeit­punkt konnte ich die Wan­de­rung in vol­len Zügen genie­ßen. Ich schweige, denke nach, singe, erzähle frei her­aus der Natur was mir in den Sinn kommt und als ich das Inland­eis errei­che und der Glet­scher kalbt, bin ich tief erfüllt von Demut und Glück hier zu sein. Ich ver­bringe fast den gesam­ten Tag am Eis, mache Fotos, klet­tere auf nahe­lie­gende Fel­sen und staune über die gewal­tige Macht die sich dort vor mir auf­türmt. Es ist das erste Mal, dass ich einen Glet­scher sehe und bis heute eines der schöns­ten Natur­phä­no­mene, die ich erle­ben durfte. Schließ­lich muss ich mich ver­ab­schie­den und mache mich über eine andere Route auf den Weg zurück nach Kan­ger­lus­suaq. Die Berge um mich herum bil­den eine Schneise hin zum Glet­scher und der Wind weht seine Kälte in der Nacht zu mir hin­un­ter. Ich harre mehr aus als dass ich wirk­lich schlafe und wickle mei­nen zit­tern­den Kör­per in die sil­berne Sicher­heits­de­cke aus dem Erste-Hilfe Set. Doch auch diese Nacht ver­geht, die Sonne geht strah­lend auf und nur meine wei­ßen Fin­ger erin­nern mich an die ver­gan­ge­nen Stun­den. Ich stapfe quer­feld­ein durch das Gestrüpp einen Berg hin­auf, um einen bes­se­ren Über­blick zu gewin­nen. Dabei ver­liere ich den Weg und bewege mich somit abso­lut mit­tel­los durch die Land­schaft. Doch auch hier mache ich mir keine Sor­gen. Ich werde den Weg schon wie­der­fin­den, denn die Rich­tung ist auf jeden Fall die Rich­tige. Ich schmun­zele, als ich daran denke wie ich noch vor 2 Wochen in einer sol­chen Situa­tion reagiert hätte. Grön­land hat anschei­nend meine Art Dinge zu betrach­ten ver­än­dert. Ich lese ein wenig in mei­nem Weg­wei­ser-Buch und erfahre unter der Rubrik Gut zu wis­sen Fol­gen­des: „Falls Sie einer Herde Moschus­och­sen begeg­nen, ach­ten Sie dar­auf nicht oben auf einem Berg­kamm zu ste­hen, da die Tiere nach oben flie­hen.“ Na toll. Genau da befinde ich mich aktu­ell. Ich bin den Tie­ren bis jetzt zwar noch nicht begeg­net, aber es könnte ja immer das erste Mal sein. Ich setze mei­nen Ruck­sack ab und robbe wie ein Ninja auf dem Bauch zur Anhöhe, um dar­über zu spä­hen. Nichts zu sehen. Glück gehabt. Die Anspan­nung fällt von mir ab und gleich­zei­tig bin ich erleich­tert, dass nie­mand meine spon­tane Selbst­ret­tungs­ak­tion mit­be­kom­men hat. Es muss ein abso­lut eigen­ar­ti­ger Anblick gewe­sen sein. Einige Kilo­me­ter spä­ter stehe ich wie­der auf dem Pfad und setze mei­nen Rück­weg fort. Ich genieße die letz­ten Tage alleine und wäh­rend ich die Far­ben um mich herum und den Geruch der Natur in mich auf­sauge, hoffe ich instän­dig, dass ein Teil von Grön­lands Wild­heit in mich über­ge­hen möge. Als ich den Flug­ha­fen errei­che, bin ich end­gül­tig am Ziel. Doch das Hoch­ge­fühl der Erleich­te­rung, wel­ches mich durch­strömt, ist ein­deu­tig mit Weh­mut gemischt. Mein Flug geht erst mor­gen früh und so gönne ich mir im ein­zi­gen Laden 2 große Packun­gen Kekse und esse alles auf ein­mal auf. Es ist wie eine Geschmacks­explo­sion und ich fühle mich wie im Him­mel. Danach rolle ich mich auf einer Bank im War­te­be­reich zusam­men und schlafe ein. Ich werde von Stim­men­ge­wirr geweckt und als ich ver­schla­fen blin­zele, wuseln Men­schen in schi­cken Anzü­gen um mich herum und schauen auf mich herab. Ich bin ver­wirrt und richte mich auf und werde prompt ange­spro­chen. Was ich hier täte und ob es mir gut ginge. Ich bejahe hei­ser und einer der Män­ner setzt sich neben mich und blickt mich freund­lich an. „Du hast bestimmt Hun­ger nehme ich an?“ Ich will nicht unhöf­lich wir­ken, doch meine Augen ver­ra­ten zu viel und bevor ich mich beherr­schen kann, rutscht mir ein wei­te­res „ja“ hin­aus. Er führt mich in die Cafe­te­ria aus der es herr­lich duf­tet und spen­diert mir ein Früh­stück. Ein­fach so. Mir, einem wild­frem­den und nicht grade sau­be­ren Men­schen. Diese Geste berührt mich zutiefst und mir feh­len die Worte. Bevor der Mann geht, steckt er mir seine Visi­ten­karte zu. „Damit du weißt wer dir das Essen spen­diert hat.“ Und genauso schnell wie er auf­ge­taucht ist, ver­schwin­det er wie­der. Ich starre die Karte an und ver­schlu­cke mich an mei­nem Bröt­chen. Vorne prangt das Bun­des­wap­pen des deut­schen Adlers. Die­ser Bun­des­tags­ab­ge­ord­nete wird wahr­schein­lich ebenso wie ich von nun an eine erstaun­li­che Geschichte zu erzäh­len haben. 

Der Flug ver­geht schnell und als ich von Kopen­ha­gen aus mit dem Zug nach Hause fahre, zieht die Mor­gen­däm­me­rung her­auf und taucht die Land­schaft vor dem Fens­ter in fei­nen Nebel. Wäh­rend alles an mir vor­bei­rauscht, lasse ich die letz­ten 3 Wochen revue pas­sie­ren. Viele sagen, dass sie rei­sen, um sich selbst zu fin­den. Bis jetzt habe ich diese Aus­sage immer belä­chelt und konnte nur wenig damit anfan­gen. Ich habe nicht danach gestrebt mich selbst zu fin­den und doch hat sich ganz unauf­fäl­lig ein Wan­del in mir voll­zo­gen. Ich sehe jetzt häu­fi­ger die guten Dinge. Ich bin auf­merk­sa­mer. Ich akzep­tiere was ist und was kommt und mache das Beste dar­aus. Ich werde nie wie­der für selbst­ver­ständ­lich neh­men, was ich habe. Weder die mate­ri­el­len Dinge, noch meine wun­der­bare Fami­lie, die zu Hause auf mich war­tet und werde nie wie­der in Frage stel­len, dass ich geliebt werde. Ich bin geer­det. Ich bin erwachsen. 

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Carolin Krupop

Ich heiße Caro und bin 21 Jahre alt. Ich liebe Sport, bin immer in Bewegung und suche neue Abenteuer und schmiede Reisepläne. Egal ob beim Fallschirmspringen, Tough Mudder laufen, bei Wandertouren, oder vielen gemeinsamen Reisen mit meiner Familie; mein Lebensmotto lautet "bereit geboren". Seit meinem Abi 2016 war ich nun 3 Mal solo auf Reisen in Grönland, Südafrika und Chile. Dies hat mich zu der Person gemacht die ich heute bin und ich hoffe, dass noch viele weitere Reisen folgen werden.

  1. Eva says:

    Respekt an dich! Ich hätte mich nicht getraut, so eine Reise zu machen. 260 Kilo­me­ter zu Fuß und das noch auf Grön­land. Ich dachte, dass die schöns­ten Wan­de­run­gen Süd­ti­rol sind. Aber ich sehe, dass man sich auch mal andere Ziele set­zen sollte. LG

    1. Caro says:

      Danke liebe Eva! Manch­mal muss man tat­säch­lich ein­fach nur den ers­ten Schritt tun und sich über­win­den. Grade für die Muti­gen hält die Welt so viele Türen auf:) ich hoffe, du ent­deckst noch so einige schöne Wan­der­tou­ren für dich!

  2. Dorothee Meyer says:

    Vie­len Dank für diese unglaub­lich wun­der­schöne Zeit zu zweit in einem so wun­der­vol­len Land! Diese Eri­ner­run­gen sind so uner­setz­lich und wert­voll, ich bin unglaub­lich dank­bar dafür, Sie mit dir gemein­sam erlebt haben zu dür­fen! Auf unser ers­tes Aben­tauer und auf viele wei­tere kom­mende! Liebe dich, Drotti! <3

  3. Verena says:

    Mit­rei­ßen­dere Bericht, Mut und Frei­heit in sei­ner schöns­ten Form! Danke für den Blick hin­ter die Kulis­sen Caro :)
    Freue mich auf wei­tere Sto­ries von Dir :)

  4. Mo says:

    Das war sehr inter­es­sant die­sen Arti­kel zu lesen. Ich hatte immer Angst sol­che Reise zu machen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, dass die­ses Aben­teuer man erle­ben soll.
    Was mir am meis­ten gefal­len hat, ist, dass die Details per­fekt beschrie­ben wurden.

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