UNESCO-Welterbe: Von Mühen, Maschinen und Menschlichkeit – unterwegs an alten Industriestandorten (1)

Teil 1: Zwischen Aufklärung und Industrieller Revolution

Von Koh­le, Schie­fer und Eisen in Eng­land über das Ticken der Uhren in der Schweiz bis zu den Meis­ter­wer­ken indus­tri­el­ler Ästhe­tik in Ita­li­en

Manch­mal reicht ein Geruch oder ein Geräusch – das unauf­halt­sa­me Dre­hen eines Was­ser­rads, der fei­ne Hauch von Koh­le in der Luft, das lei­se Rat­tern ver­ges­se­ner Zahn­rä­der. Schon sol­che Ein­drü­cke kön­nen eine gan­ze Epo­che wach­ru­fen. Das Klop­fen von Werk­zeug auf Stein, der Klang der Arbeit – sie beglei­ten mich auf mei­ner Rei­se zu den his­to­ri­schen Indus­trie­stand­or­ten Euro­pas.

Ich bin die­sen Spu­ren gefolgt. Nicht nur der Tech­nik wegen, son­dern um zu ver­ste­hen, was die­se Orte bedeu­te­ten: für die Men­schen, die dort leb­ten, schuf­te­ten, bau­ten und hoff­ten. Vie­le von ihnen sind heu­te Teil des UNESCO-Welt­erbes – und erzäh­len nicht nur von Maschi­nen, son­dern von Indus­trie­kul­tur, Gesell­schaft und Zukunfts­vi­sio­nen.

New Lanark – sozialer Idealismus in Stein gegossen

New Lanark

Die von Robert Owen gegrün­de­te Mus­ter­sied­lung New Lanark in Schott­land war nicht nur ein Ort der Pro­duk­ti­on, son­dern auch ein gesell­schaft­li­ches Expe­ri­ment.

Weit ent­fernt vom Bild dunk­ler, ver­qualm­ter Fabrik­hö­fe emp­fing mich in New Lanark eine grü­ne, gepfleg­te Indus­trie­sied­lung am Fluss. Die impo­san­ten Müh­len, das his­to­ri­sche Bil­dungs­in­sti­tut sowie die Arbei­ter­woh­nun­gen – alles wirk­te noch heu­te erstaun­lich leben­dig. Ein Ort der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on, an dem Fort­schritt und sozia­le Ver­ant­wor­tung schon früh zusam­men gedacht wur­den.

Die Sied­lung ist Wohn­ort und Muse­um zugleich. Das gro­ße Mühl­rad dreht lei­se und unauf­halt­sam wie seit ewi­ger Zeit, in den alten Fabrik­hal­len sind Ate­liers unter­ge­bracht, und im his­to­ri­schen Krä­mer­la­den las­sen sich Waren aus ver­gan­ge­nen Tagen ent­de­cken. Es war ein selt­sa­mes Gefühl – so sehr Gegen­wart und Ver­gan­gen­heit inein­an­der ver­zahnt zu sehen.

Owens Visi­on: ein gerech­tes Leben für alle. Man spürt sie noch heu­te in jedem Stein.

Saltaire – Gartenstadt mit goldenem Glanz

Sal­tai­re bewahrt die Spu­ren des Unter­neh­mers Titus Salt. Die rie­si­gen Tex­til­fa­bri­ken am Fluss Aire, gebaut aus war­mem Sand­stein, leuch­te­ten in der Mor­gen­son­ne. Die zuge­hö­ri­ge Sied­lung war eben­so funk­tio­nal wie ästhe­tisch durch­dacht: Schu­le, Park, Kran­ken­haus, Kir­che – alles war da. Der Stolz der Arbei­ter scheint bis heu­te zwi­schen den gepfleg­ten Rei­hen­häu­sern zu woh­nen.

In der frü­hen Mor­gen­son­ne spie­gel­ten sich die alten Fabrik­ge­bäu­de im ruhi­gen Was­ser, wäh­rend das Wehr noch immer mit alter Kraft rausch­te. Wo einst Maschi­nen rat­ter­ten, ist heu­te ein Kran­ken­haus, eine Gale­rie und ein Zen­trum für Kunst.

Gleich neben­an liegt der gepfleg­te Roberts Park, in dem bun­te Bän­ke und ein klei­ner Pavil­lon zum Ver­wei­len ein­la­den – damals wie heu­te ein Ort für alle. Beim Spa­zier­gang durch die Wohn­sied­lun­gen begeg­ne­ten uns bun­te Läden und offe­ne Türen. Man spürt sofort: Hier wird Indus­trie­ge­schich­te nicht nur bewahrt, son­dern auch ger­ne gelebt.

Ein idea­lis­ti­scher Gegen­ent­wurf zu den Elends­vier­teln der Indus­trie­zeit.

Ironbridge – Wiege der Eisenzeit

Der Weg ins Severn-Tal führ­te nach Iron­bridge, dem viel­leicht sym­bol­träch­tigs­ten Ort der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on in Eng­land. Hier wur­de 1779 die ers­te Eisen­brü­cke der Welt gebaut – ein Mei­len­stein der Tech­nik­ge­schich­te. In der his­to­ri­schen Kulis­se mit vik­to­ria­ni­schen Stra­ßen, Pubs und Muse­en spür­te man sofort den Pio­nier­geist ver­gan­ge­ner Zei­ten.

Iron­bridge Gor­ge ist ein tou­ris­tisch bes­tens erschlos­se­ner Ort, der sei­ne Geschich­te selbst­be­wusst prä­sen­tiert. Neben der Brü­cke und meh­re­ren ori­gi­na­len Indus­trie­stand­or­ten gibt es das Open-Air-Muse­um Blists Hill Vic­to­ri­an Town, das das vik­to­ria­ni­sche All­tags­le­ben mit erstaun­li­cher Detail­treue zum Leben erweckt – und zwar kom­plett mit Dorf­la­den, Schu­le und Dampf­ma­schi­nen­hal­le.

Ent­lang des Fluss­ufers muss­te man erst ein­mal nach einem pas­sen­den Foto­spot für das iko­ni­sche Bau­werk suchen. Spä­ter zog der Nebel über das Was­ser und zwi­schen den Guss­ei­sen­bö­gen schien es, als leuch­te ein Stück Welt­ge­schich­te hin­durch.

Iron­bridge

Blaenau Ffestiniog – Schiefer, Schweiß und Stolz

Blaen­au Ffesti­ni­og, das his­to­ri­sche Zen­trum der wali­si­schen Schie­fer­indus­trie, war dann eine ech­te Über­ra­schung. Am Bahn­hof stand schon gleich ein Relikt der Ver­gan­gen­heit: eine his­to­ri­sche Schmal­spur­bahn, die heu­te wie­der Besu­cher durch die ein­drucks­vol­le Schie­fer­land­schaft Nord­west­wales bringt. Das Feu­er in der Lok war bereits ent­facht, und in den Wagen saßen gespann­te Rei­sen­de – gut ver­sorgt mit Sand­wi­ches vom uri­gen Bahn­hofs­ki­osk.

Blaen­au Ffesti­ni­og

In den Stein­bruch Llech­wedd ober­halb des Ortes fährt die steils­te Gru­ben­bahn Euro­pas 150 Meter in die Tie­fe. Frü­her wur­de hier hoch­wer­ti­ger Schie­fer geför­dert – für Dächer, Paläs­te und Par­la­men­te in ganz Euro­pa.

Die Arbeit war hart, dun­kel, gefähr­lich, doch die unter­ir­di­sche Füh­rung mach­te sie greif­bar – mit ros­ti­gen Werk­zeu­gen, Erzäh­lun­gen vom Lärm und Staub, von Ver­let­zun­gen und Kame­rad­schaft. Der Abschluss am bunt beleuch­te­ten See war dann still und ein­drucks­voll: In der Däm­me­rung las der Gui­de den Brief eines alten Berg­manns an sei­nen Sohn. Die Wor­te hall­ten lan­ge nach.

Blaen­au Ffesti­ni­og – ein Ort vol­ler Respekt vor har­ter Arbeit und Gemein­schaft.

Wer dar­über hin­aus noch mehr über den wali­si­schen Berg­bau erfah­ren möch­te, soll­te unbe­dingt nach Blae­na­von fah­ren. In die­ser Berg­ar­bei­ter­stadt liegt alles bei­sam­men: Gru­be, Gie­ße­rei, Sied­lung – und all das, was das Leben dazwi­schen aus­mach­te.

Crespi d’Adda – italienische Vision im Dornröschenschlaf

Cre­spi d’Ad­da

Eine Fabrik­stadt, schön wie ein Schloss. Aus den Visio­nen eines fort­schritt­li­chen Unter­neh­mers ent­stan­den, bot sie ihren Bewoh­nern mehr als Arbeit: Gär­ten, Schu­le, Kir­che, Thea­ter, sogar ein Ärz­te­haus. Zunächst erhielt ich im Besu­cher­zen­trum, das in der ehe­ma­li­gen Schu­le unter­ge­bracht ist, ers­te Ein­bli­cke. Hier ste­hen his­to­ri­sche Maschi­nen, Zeit­ta­feln bele­gen die Geschich­te und dann beginnt mit einem Lage­plan in der Hand die Spu­ren­su­che.

Die Wohn­häu­ser sind bewohnt, lie­be­voll gepflegt und far­ben­froh gestri­chen – die Vor­gär­ten blü­hen, und irgend­wie liegt über allem ein Hauch ita­lie­ni­scher Leich­tig­keit. Etwas wei­ter hin­ten ste­hen die statt­li­che­ren Häu­ser der lei­ten­den Ange­stell­ten. Ganz am Ende ragt das Ver­wal­tungs­ge­bäu­de empor: ver­spielt und ver­ziert.

Die Tex­til­fa­brik liegt still, doch die Sied­lung lebt wei­ter – far­big, blü­hend, wür­de­voll. Beim Rund­gang durch die alten Stra­ßen glaubt man, das Echo der Ver­gan­gen­heit zu hören.

Ivrea – Bauhaus trifft Gemeinschaftsidee

Ivrea, einst Hei­mat von Oli­vet­ti, ist eine Zeit­rei­se in die Moder­ne. Glas, Stahl, kla­re Lini­en – und dahin­ter die Idee einer Indus­trie­ge­sell­schaft mit mensch­li­chem Maß. Der Stadt­teil erzählt von Sozi­al­uto­pien, die in Archi­tek­tur gegos­sen wur­den: Schu­len, Hal­len­bad, Wohn­ge­bäu­de, alles durch­dacht, funk­tio­nal und doch visio­när.

Ein Leit­sys­tem führt direkt zum his­to­ri­schen Oli­vet­ti-Gelän­de. Hier geben Tafeln, QR-Codes und ein moder­nes Welt­erbe-Besu­cher­zen­trum Ori­en­tie­rung. Dann ließ ich mich ein­fach trei­ben – kam vor­bei an Spie­gel­glas­fas­sa­den, die lei­se von den Gedan­ken der Archi­tek­tu­riko­nen erzäh­len, durch expe­ri­men­tel­le Wohn­an­la­gen und auch hin zu Ver­wal­tungs­bau­ten, die mit jedem Detail eine Idee von Fort­schritt ver­kör­pern.

Ivrea, einst Zen­trum der Schreib­ma­schi­nen­pro­duk­ti­on, ist kein nost­al­gi­scher Ort, son­dern ein leben­di­ges Denk­mal der Indus­trie­ar­chi­tek­tur und Stadt­pla­nung – so, wie man sich in den 1950er-Jah­ren die Zukunft erträum­te. Wer durch die­se moder­ne Modell­stadt geht, spürt, wie nah sich tech­ni­scher Fort­schritt, aber auch Arbeits­welt und Mensch­lich­keit kom­men kön­nen.

La Chaux-de-Fonds & Le Locle – zwei Städte im Takt der Uhren

Zunächst begann ich mei­nen Weg durch die Zeit in Le Locle, wo in einer alten Vil­la das Uhren­mu­se­um unter­ge­bracht ist. Anfangs führ­te der Uhr­ma­cher­meis­ter durch die Aus­stel­lung – es ging von feins­ten his­to­ri­schen Chro­no­gra­fen bis hin zu hoch­mo­der­nen Atom­uh­ren und ganz vie­len phi­lo­so­phi­schen Gedan­ken über Ver­gäng­lich­keit und Takt.

In La Chaux-de-Fonds, dem Welt­erbe der Uhr­ma­cher­kunst, wur­de der indus­tri­el­le Wan­del sogar im Stadt­plan sicht­bar: Schach­brett­ar­tig ange­legt, damit jedes Haus aus­rei­chend Licht für die fei­ne Arbeit bekommt.

Des­halb fuhr ich zum Pan­ora­ma­turm, an dem außen eine rie­si­ge Zahn­rad­uhr mit einem 25 Meter lan­gen Pen­del hängt und hin­auf in die 14. Eta­ge, wo sich eine Aus­sichts­ter­ras­se befin­det, von der sich ein wun­der­ba­rer Blick auf das geord­ne­te Ras­ter die­ser funk­tio­nal geplan­ten Indus­trie­stadt eröff­net.

Zwei Städ­te – und ein Leben im Takt der Zeit.

La Chaux-de-Fonds

Mei­ne Rei­se führ­te mich zu Schweiß, Visio­nen und gesell­schaft­li­chem Wan­del. Euro­pas his­to­ri­sche Indus­trie­stand­or­te erzäh­len Geschich­ten von har­ter Arbeit und muti­gem Auf­bruch – zwi­schen Dampf, Schie­fer und Sand­stein, zwi­schen Werk­hal­le und Uto­pie.

Auch in Deutsch­land erin­nern Iko­nen der Indus­trie­kul­tur wie die Zeche Zoll­ver­ein im Ruhr­ge­biet oder die Völk­lin­ger Hüt­te im Saar­land an die Wucht und Ästhe­tik indus­tri­el­ler Pro­duk­ti­ons­stät­ten. Wer sich auf ihre Spu­ren begibt, ent­deckt nicht nur tech­ni­sche Meis­ter­wer­ke, son­dern auch Orte im Wan­del, die sich kul­tu­rell neu erfun­den haben, Fes­ti­val­ge­län­de oder moder­ne Muse­en. Per­fek­te Zie­le also für eine Ent­de­ckungs­rei­se durch Euro­pas Indus­trie­ge­schich­te.

Und doch ist hier noch lan­ge nicht Schluss. Denn die­se Rei­se zu Euro­pas his­to­ri­schen Indus­trie­stand­or­ten lie­ße sich fort­set­zen – etwa mit archi­tek­to­nisch her­aus­ra­gen­den UNESCO-Welt­erbe­stät­ten wie dem Dampf­pump­werk Wou­da in Lem­mer (Nie­der­lan­de) oder dem his­to­ri­schen Was­ser­kraft­werk Rjukan-Notod­den in Nor­we­gen, ein­ge­bet­tet in eine einst visio­nä­re Indus­trie­an­sied­lung im hohen Nor­den.

Aber: Noch bevor das ers­te Zahn­rad sich dreh­te, gru­ben Men­schen Gän­ge in den Fels, wuschen Gold aus roten Hügeln und lie­ßen Was­ser­rä­der Salz zu Tage för­dern. Des­halb keh­ren wir im nächs­ten Teil zurück – zu den frü­hes­ten Spu­ren euro­päi­scher Indus­trie­ge­schich­te, in die Zeit lan­ge vor der Dampf­ma­schi­ne.


Antworten

  1. Avatar von Matthias Kutzscher
    Matthias Kutzscher

    The­ma fin­de ich rich­tig gut – klas­se Text & Bil­der.

    Alte »Indus­trie­stand­or­te« fas­zi­nie­ren ein­fach: auf mei­ner Juni-Rei­se zu den Ork­neys in Schott­land habe ich die »Baro­ny Mill« besucht – die letz­te Was­ser­müh­le der Insel­grup­pe; und der ein­zi­ge Ort welt­weit, an dem noch Bere-Gers­te (ca. 5.000 Jah­re alte Getrei­de­sor­te) gemah­len wird.

    1. Avatar von Cornelia Huthmann

      Dan­ke für das Lob! Die Aus­wahl ist echt schwer gefal­len, es gäbe so viel zu erzäh­len. Und, Schott­land ist alles in allem sowie­so ein Sehn­suchts­ziel, ich muss drin­gend wie­der einen Besuch pla­nen 😉

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