Bild­lich ist es kaum vor­stell­bar – neun Mil­lio­nen Qua­drat­ki­lo­me­ter Tro­cken­wüste, etwa so groß wie die USA, 26 Mal so groß wie Deutsch­land. Die Sahara. Der Name weckt Träume von Weite und Leere und Stille, dabei bedeu­tet das ara­bi­sche Wort ‚sahara‘ ein­fach nur Wüs­ten. Die Ein­hei­mi­schen nen­nen sie ‚die große Wüste‘, manch­mal das ‚Meer ohne Was­ser‘. Mit Wel­len aus Sand und einem Hori­zont, hin­ter dem es immer wei­ter­geht. Ein Teil die­ses Mee­res rollt durch den Süden Tune­si­ens, teils ganz sachte, teils lär­mend, teils zu den Klän­gen ara­bi­scher Musik. Ich tau­che ein in die Welt der Bedui­nen und Dro­me­dare, der Skor­pione und Wüs­ten­vö­gel. Und werde überrascht.

Es war ein­mal in der Wüste

Noch ein­mal nehme ich Anlauf, erklimme die höchste Düne, der gleich eine noch höhere folgt. Sehe ein Grüpp­chen durs­ti­ger Bäume. Schaue dem Wind dabei zu, wie er meine Spu­ren ver­wischt, als wären Sie etwas Unge­zo­ge­nes, das dort nicht hin­ge­hört. Viele nen­nen die Wüste ein Nichts, ein Nir­gendwo. Diese end­los auf den Hori­zont zuhal­ten­den Sandwellen.

Doch sind sie nicht ein Alles, jeder Fleck Sand so prä­sent auf der Land­karte wie die Metro­po­len der Welt? Genauso in Bewe­gung, dem Wind des Wan­dels aus­ge­lie­fert, Höhen und Tie­fen, die man mit Schwung erobert und noch schnel­ler zurück­rutscht. Leben in Sand­korn­for­mat. Ein Alles, das vor­gau­kelt, dass hier die Ewig­keit exis­tiert. Weil die Stille ein­lullt. Die Stille, deret­we­gen viele in die Wüste fah­ren. Die Stille, die aus der digi­ta­li­sier­ten, Stän­dig-erreich­bar-sein-und-funk­tio­nie­ren-Welt der Metro­po­len aus­ge­zo­gen ist auf der Suche nach Orten, wo ihr nicht zu jeder Tages- und Nacht­zeit geräusch­volle Gewalt ange­tan wird. Die Stille, die wir gerade in unse­ren Köp­fen drin­gend brau­chen und doch ver­trie­ben haben. Und die sogar in der Wüste Man­gel­ware gewor­den ist. Ich muss sie mir erkämp­fen, Düne um Düne. Weg vom Camp, das mit einem bevor­ste­hen­den Musik­fest Musik­lieb­ha­ber, Blog­ger, Insta­gra­mer und Sel­fie-Jun­kies anlockt. Weg von der x‑ten Quad-Tour, deren Moto­ren die Stille zer­fet­zen. Weg von Gelän­de­wa­gen mit Pro­vi­ant an Bord, weg vom Small Talk der in der Wüste Gestran­de­ten und Fra­gen, die gerade keine Ant­wort brauchen.

Ich stehe auf der längst nicht höchs­ten Düne, mit­ten in der Sahara. Und end­lich, end­lich höre ich sie. Die Stille. Hin­ter mir ein lan­ger Weg.

Das Tor zur Wüste 

Alles braucht ein Tor oder eine Tür, um uns begreif­lich zu machen, dass hier etwas beginnt und dass es okay ist, hin­durch­zu­ge­hen. So braucht auch die Wüste ein Tor. Es trägt den Namen Douz und ist eine Klein­stadt mit circa 30.000 Ein­woh­nern. Die Fahrt auf dem High­way to Nowhere ist lang. Die zunächst all­ge­gen­wär­ti­gen Oli­ven­haine in Mee­res­nähe wei­chen einem Berg­pass, wo Dör­fer aus­se­hen, als wären sie aus dem Stein des Bodens gewach­sen und wo Leute mit Eseln Gassi gehen. Wie in Toujane.

Es fol­gen Geröll- und Sand­ebe­nen, in denen das Auge nur an ille­ga­len Tank­stel­len hän­gen­bleibt – Bara­cken mit auf­ge­reih­ten Plas­tik­con­tai­nern vol­ler Ben­zin aus Libyen. Ab und an pas­sie­ren Dro­me­dare die Straße – ein­hö­cke­rige Kamele. Stra­ßen­schil­der war­nen vor den Ver­kehrs­teil­neh­mern, die in bes­ter Break-my-stride-Manier Mofa- und Auto­fah­rer auf die Bremse zwingen.

Dann end­lich: Douz. Es erhebt sich aus einer pal­men­rei­chen Ebene, ver­spricht Ankom­men und Auf­bruch. Die meis­ten Bewoh­ner sind Mra­zig, ein Volk aus noma­di­schen Vieh­züch­tern, die ihre vier Wände regel­mä­ßig ver­las­sen und in die Weite zie­hen. Die Häu­ser in Douz sind ent­we­der sand- oder schnee­far­ben, die Men­schen haben die Wüste im Blick. In einem klei­nen Laden ent­ste­hen Wüs­ten­schuhe – lederne Tre­ter mit rut­schi­gen Soh­len, die auf Sand jedoch beson­ders gut grei­fen sol­len. „Für ein Paar brau­che ich drei Tage“, erzählt einer der Arbei­ter ohne auf­zu­se­hen. Kos­ten pro Paar: 35 Dinar, etwa zehn Euro.

Douz ist der Super­markt für alle, die sich vor dem gro­ßen Aben­teuer wüs­ten­mä­ßig aus­staf­fie­ren möch­ten. Neben Wüs­ten­schu­hen gibt es Wüs­ten­ho­sen – dünne Stoff­ho­sen mit einem so aus­la­den­den Schritt, dass die bis in die Knie­keh­len absin­ken­den Hosen deut­scher Jugend­li­cher im Ver­gleich als Leg­gings zu bezeich­nen sind und man bequem einen Kar­tof­fel­sack darin lagern könnte. Zweck: Die Din­ger sind opti­mal, um sich auf den Rücken eines Kamels zu schwin­gen und darin tage­lang durch die Wüste zu rei­ten. Zwi­schen Tep­pi­chen en masse fin­den sich lange Schals, die bei Sand­stür­men um Kopf und Gesicht gewi­ckelt wer­den. Für den klei­nen oder gro­ßen Hun­ger kauft man Dat­teln pro Kilo. Das Geschäft mit den Dat­teln boomt, schwit­zende Ver­käu­fer ver­pa­cken die von der Decke hän­gen­den Stränge.

Drau­ßen vor den Stra­ßen­ca­fés sit­zen Män­ner zusam­men, rau­chen, plau­dern. Einer, der ver­sucht, es anders zu machen, ist Abdel­ma­jid Bel­haj Ibra­him, 36, in des­sen Café in der Ecke vom Place du mar­ché, dem Markt­platz, ich zufäl­lig einen Kaf­fee trinke. „Meins soll in Kul­tur­café wer­den“, erzählt er mir, ein Leuch­ten in den Augen, das ich nur bei Men­schen sehe, die für etwas bren­nen. „Ich habe in Alge­rien Über­set­zung stu­diert, doch nach dem Stu­dium gab es für mich keine Per­spek­tive. Ich wollte aber unbe­dingt in mei­ner Hei­mat­stadt Douz blei­ben.“ Dann sei ihm die Idee mit dem Kul­tur­café gekom­men. In der Ecke steht eine Vitrine vol­ler Bücher. „Die Leute sol­len hier­her­kom­men und lesen, und manch­mal orga­ni­siere ich Film­ver­an­stal­tun­gen.“ Die Bank habe ihm kein Dar­le­hen geben wol­len, aber Freunde und Bekannte hät­ten ihm die Ein­rich­tung gespen­det. Es in Tune­sien zu etwas zu brin­gen, sei nicht leicht, aber er sei hoff­nungs­voll. Auch in die­sem Café sit­zen nur Män­ner. Und Frauen? „Frauen gehen nor­ma­ler­weise nicht in Cafés, aber auch das soll sich ändern. Eine Jour­na­lis­tin aus Douz hat bereits den Anfang gemacht und besucht mein Café. Ich hoffe, andere wer­den folgen.“

Wie es sich für ein Tor zur Wüste gehört, hat Douz auch ein Sahara-Museum. Es ist wie ein Teaser zu den 40.000 Qua­drat­ki­lo­me­tern Wüste Tune­si­ens. Ein Resumé von Pflan­zen, Tie­ren und Men­schen, die in dem Sand­meer hei­misch sind. Wer behaup­tet, die Wüste sei ein Nichts, wird spä­tes­tens hier als Dumm­kopf ent­larvt. Da ist die Rede von Schlan­gen, Skor­pio­nen, Käfern, Gazel­len, Anti­lo­pen, Gepar­den und Hyä­nen. Von Vögeln und Schmet­ter­lin­gen. Dann folgt die erste Tuch­füh­lung mit der Wüste – bei einem Mini-Dro­me­dar-Aus­ritt bei Son­nen­un­ter­gang. Bei Offra befin­det sich die größte Düne am Anfang der Sahara, und ein kur­zer Ritt hin­term Höcker reicht aus, um die Sucht nach Weite und Stille zu befeu­ern. Nicht nur mir geht es so. Wer unter der moder­nen Volks­krank­heit des stän­di­gen Über­ma­ßes und der Geräusch­über­do­sis lei­det, sehnt sich nach Nichts. Doch so ein­fach, wie ich mir das vor­stelle, ist das gar nicht.

Mars

Würde man mich oder einen ande­ren Besu­cher in der Wüste aus­set­zen, wären wir sofort ver­lo­ren. Selbst auf einer Art Sand­schnell­straße von Douz in die Sahara, wo alle paar Minu­ten Gelän­de­wa­gen, Motor­rä­der, Quads und sogar Moun­tain­bike-Fah­rer vor­bei­sau­sen – ita­lie­ni­sche Jeep­sa­fa­ris, tune­si­sche Ral­leys, slo­we­ni­sche Aben­teu­rer – kön­nen die Spu­ren inner­halb von Sekun­den ver­we­hen, rei­fen­ge­prägte Pfade wer­den in einem Augen­blick wie­der jungfräulich.

Ich muss an Her­bert Grö­ne­meyer den­ken, der sang „Bleibt alles anders“. Wes­halb Aus­län­der, auch wenn sie ihren eige­nen fahr­ba­ren Unter­satz haben, nur in Beglei­tung eines kun­di­gen Tune­si­ers in die Sahara auf­bre­chen soll­ten. Einem Tune­sier wie Ham­med, der bis zu sei­nem 17. Lebens­jahr in der Wüste gewohnt hat und außer der Sand­farbe und mini­ma­len Größe viele Gemein­sam­kei­ten mit einem Wüs­ten­fuchs teilt. „Wenn man mich in der Wüste aus­set­zen würde, würde ich sofort mei­nen Weg zurück­fin­den“, erklärt er ohne Stolz. Wie alle, die die Wüste im Blut haben, kann er in den Sand­dü­nen lesen, in der Weite des Him­mels, in den für uns unsicht­ba­ren Spu­ren am Boden.

„Möch­tet ihr einen Skor­pion sehen?“ Ham­med tritt auf die Bremse, steigt aus, dreht Steine um, schüt­telt ent­täuscht den Kopf. Wenige Meter wei­ter das­selbe Spiel. Plötz­lich jubelt er, bückt sich und taucht mit einem grü­nen Skor­pion auf der Hand­flä­che wie­der auf. Sind die Vie­cher nicht gif­tig? Alle tre­ten einen Schritt zurück, wäh­rend Ham­med das schläf­rig wir­kende Wesen an seine Lip­pen führt und küsst. „Macht mir das nicht nach! Ich weiß genau, wie man mit dem Skor­pion umgeht, damit er nicht sticht.“ Das Tier scheint Ham­med nicht als Prinz zu deu­ten, bleibt wie erstarrt lie­gen. Was daran lie­gen mag, dass Skor­pione im Win­ter – zwi­schen Sep­tem­ber und Mai – tat­säch­lich eine Art Win­ter­schlaf hal­ten. „Im Som­mer wim­melt es hier von Schlan­gen und Skor­pio­nen und es sind um die 55 Grad – da kön­nen keine Tou­ris­ten kommen.“

Bald fah­ren wir an einem nicht enden wol­len­den Zaun ent­lang. Ist das etwa eine Mili­tär­zone? Immer­hin soll die gesamte tune­si­sche Wüste unter Mili­tär­kon­trolle ste­hen, ver­stärkt in der Nähe zu den Nach­bar­län­dern Alge­rien und Libyen. Wir befin­den uns etwa 100 Kilo­me­ter von der alge­ri­schen und 300 Kilo­me­ter von der liby­schen Grenze ent­fernt. „Nein, das ist der Jebil Natio­nal­park“, weiß Ham­med. „Die Gazel­len hier sol­len sich wie­der ver­meh­ren, manch­mal kann man sie am Zaun sehen.“ Doch gerade an die­sem Tag sind die Gazel­len so rar wie die Noma­den, die noch immer mit ihren Dro­me­da­ren oder Kame­len durch die Wüste zie­hen und wie Ham­med in der Land­schaft lesen wie unser­eins in einem Stadtplan.

Eine fla­che Hütte erscheint neben der Fahr­bahn, mit den gro­ßen Let­tern ‚Café du Parc‘. Ein Café mit­ten in der Wüste, davor geparkte Gelän­de­wa­gen, Motor­rä­der und Quads. Dies ist ein Treff für alle Wüs­ten­hung­ri­gen und ein will­kom­me­ner Stopp zum Bla­sen­lee­ren, bevor die wahre Wild­nis über­nimmt. Mus­tafa, ein Mann mitt­le­ren Alters, betreibt das Café seit 2002 und schenkt zusam­men mit sei­nem Sohn Kaf­fee aus. Vor dem Café plau­dern Besu­cher ver­schie­de­ner Natio­na­li­tä­ten zusam­men, als hät­ten sie sich nicht gerade erst getrof­fen. Auf einer Bank sit­zen Ein­hei­mi­sche mit Tur­ba­nen, nip­pen ebenso genüss­lich am Kaf­fee und beob­ach­ten lächelnd die Exo­ten mit ihren wüs­ten­taug­li­chen Gefähr­ten. Wir sind kaum in der Sahara ange­kom­men und schon alle gleich – Men­schen auf der Suche nach Weite und Stille und mit knir­schen­den Zäh­nen, da jedes Gespräch mehr Sand­kör­ner in den Mund weht.

Die Land­schaf­ten der Sahara sind so viel­sei­tig wie Berg­land­schaf­ten – mal flach und karg, mal hüge­lig und grün. Der Regen der ver­gan­ge­nen Tage hat einige Pflan­zen aus dem Sand her­vor­ge­zau­bert, hin­ter jeder Düne ist die Aus­sicht anders. Dann erkennt man sie am Hori­zont – weiße Punkte, die wie Boote in der Weite der Sand­dü­nen trei­ben. Die Punkte sind die Zelte des Camp Mars, 2008 von dem Tune­sier Riadh Mnif und sei­ner Frau eröff­net. Es nennt sich Luxus­camp, weil man statt einem ein­fa­chen Zelt samt Schlaf­sack große Dop­pel- oder Mehr­bett­zelte mit Bet­ten bekommt, mit Tep­pi­chen überm Sand, dicken Decken und einem Sei­den­vor­hang, hin­ter dem sich ein Dusch­tisch – Was­ser wird in einen Krug gefüllt – sowie eine Toi­lette befin­den. Zwar kein WC, aber ein Klo mit Plas­tik­tüte drin­nen und einer Kata­stro­phen­pa­ckung Holz­späne dane­ben, um Gerü­che zu dämp­fen. Wei­tere Toi­let­ten und Duschen – wer mag, kann einen Eimer Was­ser bekom­men und ihn sich über den Kopf kip­pen – gibt es drau­ßen, alles von Ham­mams inspi­riert. Im gro­ßen, offe­nen Restau­rant­zelt kom­men die Besu­cher zu den Mahl­zei­ten zusam­men, es gibt Wein und Krea­tio­nen aus der Küche, dar­un­ter typisch tune­si­sches Brik, Sup­pen, Wach­tel mit Bul­gur oder Dromedar-Goulasch.

Hin­term Camp erhebt sich der über 200 Meter hohe Tafel­berg Tem­bain. Am Nach­mit­tag klet­tere ich hoch, habe Glück – der Sand ist vom Regen der Vor­tage kom­pakt, nur am Ende wird es stei­nig und steil. Bald stehe ich oben, auf dem Dach der Wüste. Erspähe eine grüne Oase in der Ferne, die sich nach wei­te­rem Regen sehnt wie ich mich nach Stille. Ich beob­achte, wie eine Kara­wane vor­bei­zieht, denke an Ham­meds Worte, dass auf 55 weib­li­che Kamele ein männ­li­ches kom­men soll und dass die Tiere ab April in der Wüste frei­ge­las­sen und im Okto­ber wie­der ein­ge­sam­melt wer­den. Eigent­lich wollte ich nur ein paar Fotos aus der Höhe schie­ßen, doch dort oben ver­liert die Zeit an Bedeu­tung. Eine dicke Wol­ken­schicht droht den Son­nen­un­ter­gang zu ver­mie­sen, doch ich bin genauso hoff­nungs­voll wie Abdel­ma­jid mit sei­nem Kul­tur­café in Douz. Ich glaube an das, was unmög­lich erscheint – einen far­ben­ver­schwen­de­ri­schen Son­nen­un­ter­gang an mei­nem ers­ten Wüstenabend.

Unter­des­sen lau­sche ich der Stille, spüre den kal­ten Stein unter den Gesäß­hö­ckern, ab und an eine leichte Brise. Ver­su­che mir die Welt­karte vor Augen zu rufen und den Punkt mit­ten in der Sahara, wo ich sitze. Stun­den ver­ge­hen, ich fühle mich belohnt, auch ohne Son­nen­un­ter­gang. Und dann spielt der Him­mel doch noch mit. Möchte mir meine Illu­sion nicht rau­ben, dass wenn ich fest genug an etwas glaube, es auch pas­sie­ren kann. Kurz vor der Linie am Hori­zont taut die Wol­ken­schicht auf, macht dem Feu­er­ball Platz, der zum ers­ten Mal an die­sem Tag meine Augen kit­zelt. Die Sonne ver­wan­delt den zuvor grauen Him­mels­tep­pich in einen explo­die­ren­den Tusch­kas­ten mit einem Über­schuss an Rot- und Orange- und Pink­tö­nen, der auch die Sand­dü­nen rot malt. Will­kom­men auf dem Mars!

Musik und Stille

Es ist voll gewor­den im Lager. Am Fol­ge­tag ver­an­stal­tet Mnif zum vier­ten Mal das Fes­ti­val ‚Musi­que & Silence‘ unweit des Camp Mars, Musik und Stille. Im All­tag nutze ich Musik oft dazu, die Geräu­sche mei­ner Umwelt zu dämp­fen. Laufe mit Kopf­hö­rern durch die Stadt, meine Lieb­lings­rhyth­men im Ohr, um nicht die Moto­ren­ge­räu­sche und Sire­nen, das Han­dy­klin­geln, Gequat­sche und instän­dige Brum­men der Zivi­li­sa­tion zu hören. In der Wüste brau­che ich Musik eigent­lich nicht, und kann sie gerade des­we­gen umso mehr genie­ßen. Die Vor­freude auf den nächs­ten Tag wächst, wäh­rend einer der Küchen­chefs am offe­nen Lager­feuer Fla­den­brot backt. Er rollt den Teich auf einem Tuch aus, fegt die Asche des Feu­ers zur Seite, legt das Brot in die Mitte und bedeckt es schließ­lich mit der alten Glut. Zehn Minu­ten spä­ter ist das Brot gar, schmeckt nach fri­scher Luft und Feuer.

Camp Mars nennt sich selbst ein öko­lo­gi­sches Sozi­al­pro­jekt, denn nicht nur die Köche sind Ein­hei­mi­sche – als Auf­lage für einen Kre­dit galt, dass nur Ein­hei­mi­sche beschäf­tigt wer­den dür­fen. Selbst die Wäsche aus dem Camp wird nach Douz gebracht, wo eine Frau, die eine große Wasch­ma­schine besitzt, eben­falls am Tou­ris­mus­ge­schäft ver­dient. Ziel: mög­lichst viele Men­schen am Pro­fit zu betei­li­gen. „Seit der Revo­lu­tion 2010 und 2011 kamen kaum noch Tou­ris­ten, aber 2018 war wie­der ein gutes Jahr für uns“, berich­tet der Beduine Moham­med, 48, der das Café Tem­bain unter­halb des gleich­na­mi­gen Ber­ges betreibt.

Genau wie das Camp Mars gewinnt er Ener­gie aus der Sonne, zeigt stolz seine ein­zige Steck­dose, wo auch Besu­cher mal erschlaf­fende Akkus laden dür­fen. „Ich ver­kaufe auch Ben­zin oder helfe, wenn jemand eine Panne hat“, erzählt er in flie­ßen­dem Deutsch. Gelernt hat er die Spra­che nur mit Tou­ris­ten. Von Mai bis Okto­ber fahre er zurück nach Douz und arbeite in Pal­men­gär­ten, doch am meis­ten liebe er das Leben drau­ßen in der Wüste. Er laufe viel, suche Hasen. Auf die Frage, was er sich für die Zukunft wünscht, wei­ten sich seine Augen. „Ich wün­sche mir, dass alles so bleibt, wie es ist. Ich bin glück­lich.“ Ich kann mich nicht erin­nern, wann ich das zum letz­ten Mal gehört habe. Viel­leicht des­halb, weil es noch nie jemand gesagt hat. Auch Moham­med backt Fla­den­brot unter der Glut eines offe­nen Feu­ers und macht zum Früh­stück fan­tas­ti­schen Brik, der mit Dro­me­dar-Milch run­ter­ge­spült wird. Wenn er sich schnell fort­be­we­gen will, tut er das auf dem Motor­rad. „Ich hätte aber lie­ber einen Esel.“ Er lacht.

Kurz hin­ter dem Café Tem­bain bauen die Musi­ker ihre Instru­mente auf – ein Ensem­ble des in Tune­sien bekann­ten Musi­kers Riadh Fehri aus Tunis. Dazu gehö­ren zwei Vio­li­nen, eine Gitarre, eine Trom­mel und eine Oud, Kurz­hals­laute. Die Klänge erhe­ben sich aus dem stei­ni­gen Sand, krab­beln an der Fels­wand im Rücken empor und ent­schwin­den im Blau des Him­mels wie ein mit Gas gefüll­ter Luft­bal­lon. Alle sit­zen still. Lau­schen. Die ech­ten Wüs­ten­fans und die Stil­le­su­cher, die Blog­ger und Insta­gra­mer in ihren von Sty­lis­ten aus­ge­wähl­ten Outfts, die den Blick ein wenig stö­ren wie die Musik die Stille der Wüste. Und die doch alle­samt vom Sand­meer groß­zü­gig umarmt werden.

Wenn die Wün­sche ausgehen

Ich inha­liere die Stille wie eine Ver­hun­gernde die erste Mahl­zeit seit Lan­gem. Stelle mir vor, wie der Tank sich bis an den Rand füllt, um das Gebrab­bel des All­tags noch lange zum Schwei­gen brin­gen zu kön­nen. Am Nach­mit­tag kommt Wind auf. Noch kein Sand­sturm, aber mit genug Kraft, die fei­nen Kör­ner in Mas­sen wie Schaum über die Dünen zu bla­sen. Ich setze mich auf einer ab, sehe und höre das Wehen. Schließe die Augen. Öffne sie erst wie­der, als ich Nähe spüre. Ein schwar­zer Vogel mit wei­ßem Schwanz schaut mich aus weni­gen Metern Ent­fer­nung an, den Kopf schief­ge­legt. Irgend­wann laufe ich wei­ter, als Ziel­schild den Hori­zont. Bleibe immer wie­der ste­hen. Glotze. Staune. Zwei mei­ner Lieb­lings­ak­ti­vi­tä­ten. Ein­mal, als ich ganz ruhig bleibe, setzt sich ein oran­ge­far­be­ner Schmet­ter­ling auf mei­nem Arm ab. Ich denke an die Weis­heit über Schmet­ter­linge und Glück, die sich beide nur dann zu einem gesel­len, wenn man auf­hört, sie zu jagen.

Nach Son­nen­un­ter­gang klingt der Wind ab. Im Camp spielt die Musik wei­ter, doch mir reicht es für heute mit den mensch­lich erzeug­ten Tönen. Ich brau­che mehr von dem, was mir nur die Wüste schen­ken kann. Fernab des Feu­ers und der Ker­zen und Stim­men lege ich mich in den Dünen auf einer Decke ab. Hoff­nungs­voll, wie am ers­ten Abend mit der Sonne. Über mir spielt gro­ßes Him­mels­kino – das Best of der Milch­straße. Ich liege, spüre den küh­len Sand im Rücken. Genau über mir ver­ab­schie­det sich ein Stern vom Him­mels­zelt. Ich schi­cke ihm einen Wunsch hin­ter­her. Auch dem zwei­ten und drit­ten. Nach fünf Wün­schen beginne ich, mir etwas für meine Lie­ben zu wün­schen. Nach dem zehn­ten gebe ich das Wün­schen ganz auf. Lasse die Stille in mei­nem Her­zen auch in den Kopf ein­zie­hen. Wunsch­los glück­lich. Moham­med hat recht. Es sollte ein­fach mal alles genauso blei­ben, wie es jetzt gerade ist.

 Infor­ma­tio­nen:

Diese Reise wurde unter­stützt vom Frem­den­ver­kehrs­amt Tune­sien, https://www.discovertunisia.com/de/

Unter­künfte: 

Douz: Hotel Offra

Sahara: Camp Mars

Cate­go­riesTune­sien
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Bernadette Olderdissen

Bernadette Olderdissen ist eine Geschichtensammlerin- und schreiberin. Schon in jungen Jahren verstand sie, dass ganz so viel Fantasie zum Schreiben gar nicht nötig war, denn die besten Geschichten schenkte ihr das Leben umsonst. Schenkten ihr die Menschen um sie herum. Als sie viele Geschichten gehört hatte, zog sie weiter. Sperrte die Ohren auf und schrieb alles nieder, was ihr die Menschen zu erzählen hatten. So trieb es sie immer weiter durch die Welt, mit ungesättigter Neugier und in der Gewissheit, dass sich die Menschen zwar überall auf der Welt verdammt ähnlich sind, jedoch keine zwei Geschichten identisch. Dieser Umstand ist schuld daran, dass sie noch immer nichts für die Rente gespart hat, sondern das Geld immer nur für die nächsten Reisen reicht. Und das findet sie auch gank okay so.

  1. Bernadette says:

    Vie­len Dank für das Kom­pli­ment, lie­ber Mat­thias, ich freue mich sehr, dass dir mein Arti­kel gefal­len hat. Ich wün­sche dir, dass du bald mal in die Sahara kommst, es war unglaub­lich. Die Stille im Nor­den kenne ich auch und bin auch davon ein gro­ßer Fan – da müsste ich wie­derum bald mal wie­der hin :)
    Mit Marokko kenne ich mich lei­der nicht so gut aus – ich war ein­mal vor vie­len Jah­ren dort, aber lei­der nur in den Städ­ten, nicht in der Wüste. Wüs­ten­tech­nisch müsste es aber vom Klima her ähn­lich sein wie Tune­sien – sprich zwi­schen Sept. und Mai ist die beste Rei­se­zeit, da es im Som­mer uner­träg­lich heiß ist. Ob man sich über­all frei bewe­gen kann, dar­über infor­mierst du dich bes­ser genau bei Marokko-Foren o.Ä., bevor es losgeht :)
    LG
    Bernadette

  2. Matthias says:

    Wow, was für ein tol­ler Bericht! Span­nend und unter­halt­sam sind oft eure Rei­se­be­richte aus Städ­ten und von beleb­ten und unru­hi­gen Orten, aber die­ser hier ist wirk­lich ganz beson­ders mit­rei­ßend. Man fühlt wahr­lich den Wind und die nächt­li­che Kälte, man riecht das Lager­feuer, man schmeckt das Fladenbrot!

    In die Sahara würde ich auch gerne mal fah­ren, ich war schon im Death Val­ley und die Tage und Nächte dort waren auch ganz beson­ders. Wenn man dann nach Las Vegas kommt, haut der Dreck und Krach einen schier um.

    Die tiefe Ruhe gibt es auch im Nor­den, beson­ders im Win­ter. Wir waren einige Male in Lapp­land und nörd­li­chen Nor­we­gen und manch­mal war mor­gens das Auto einen Meter dick zuge­schneit, das gibt auch eine unheim­lich (schöne) Stille.

    Was ist denn die beste Zeit für Marocco? Im Som­mer hält man es sicher nicht aus und im Win­ter sind die Nächte ziem­lich frisch, nehme ich mal an? Darf man sich über­all frei bewe­gen? (Ich sollte mal googlen ;-) )

    Vie­len Dank noch­mal! Hat mir super gefallen!!!

    Mat­thias

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