Fünf Inseln voller Zärtlichkeit

Hamarikyu-Garden-in-Tokyo

Hons­hū, Hok­kai­dō, Kyus­hū, Shi­ko­ku: Japan ist ein bogen­för­mi­ger Archi­pel mit dem Japa­ni­schen Meer an der West­küs­te und dem Pazi­fik im Osten. In Oki­na­wa locken Koral­len­rif­fe und Hidea­ways. Eine Rei­se über Tokyo in das ehe­ma­li­ge König­reich Ryūkyū.

Mit einem rhyth­mi­schen taka-tak-taka-tak schwebt der Zug in 120 Metern Höhe durch Tokyo. Wie eine gro­ße Schlan­ge aus Blech win­det sich die Ein­schie­nen­bahn in lan­gen Kur­ven von Shi­bu­ya nach Odai­ba. Es ist 9 Uhr, die Son­ne steht noch tief. Sie spie­gelt sich in den Glastür­men aus den 1990er-Jah­ren, die an den brei­ten Fens­tern mei­nes Abteils vor­bei­zie­hen. Drau­ßen war­ten Men­schen an Kreu­zun­gen vor Ampeln. Wie in einer Amei­sen­stra­ße rei­hen sich Män­ner in Anzü­gen und Frau­en in dunk­len Win­ter­män­teln in die Men­ge ein und huschen schein­bar laut­los über Zebra­strei­fen, vor­bei an Bild­schir­men und grell blin­ken­den Wer­be­ta­feln. Im Schat­ten der Beton­stütz­pfei­ler der Mono­rail ducken sich tra­di­tio­nel­le Sup­pen­kü­chen unter die schüt­zen­den Dächer von schach­tel­för­mi­gen Bret­ter­bu­den. 

Seit 36 Stun­den bin ich in Tokyo. Das ers­te über­wäl­ti­gen­de Gefühl in der größ­ten Stadt der Welt hat­te ich als Fuß­gän­ge­rin in der Rush Hour, um 7 Uhr am frü­hen Mor­gen. An der Metro­sta­ti­on Shi­na­ga­wa, in der Nähe mei­nes Hotels, mar­schier­ten die Men­schen im Gleich­schritt gera­de­aus, ohne nach links oder rechts zu bli­cken. Es sah aus, als wür­den die Scha­ren von einem gigan­ti­schen unsicht­ba­ren Magne­ten ange­zo­gen. Zur Arbeit zu gehen ist in Tokyo eine erns­te Sache: Nie­mand lächelt. Ich blieb ent­ge­gen der Lauf­rich­tung ste­hen, dreh­te ein Video und beob­ach­te­te, wie die Japa­ner nur eine Hand­breit links und rechts an mir vor­bei has­te­ten ohne mich zu strei­fen. Wäh­rend mich in deut­schen Groß­städ­ten stän­dig Leu­te anrem­peln oder mir in vol­len U‑Bahnhöfen ihre Ruck­sä­cke in die Rip­pen schleu­dern, ach­ten Japa­ner dar­auf, ande­ren Men­schen nicht zu nahe zu tre­ten. Weder kör­per­lich noch emo­tio­nal.

Skyline Tokyo vom Monorail aus beobachtet auf dem Weg nach Odaiba

Der Gedan­ke an die­ses Land schmerz­te oft: Bil­der von den Ver­wüs­tun­gen in Hiro­shi­ma und Naga­sa­ki durch die Atom­bom­ben, die ich als Schü­le­rin sah, gru­ben sich tief in mein Gedächt­nis ein, auch Vide­os der Nukle­ar­ka­ta­stro­phe von Fuku­shi­ma im Jahr 2011. In der japa­ni­schen Ein­schie­nen­bahn, die so sanft bremst, dass ich fast nicht mer­ke, wenn sie hält, spü­re ich nun nichts mehr von die­sem mul­mi­gen Bauch­krib­beln, das mei­ne See­le ange­sichts die­ser men­schen­ge­mach­ten Kata­stro­phen schwer wer­den ließ und mich ins Boden­lo­se zog wie eine Blei­ku­gel eine Angel­schnur.  

Jetzt, an die­sem son­ni­gen Dezem­ber­tag, füh­le ich mich frei wie ein Kind, das mit einer rosa­far­be­nen Zucker­wat­te in sei­ner kleb­ri­gen Hand über einen Jahr­markt schlen­dert und auf einem Ket­ten­ka­rus­sell Löcher in die Luft starrt, weil es sei­nen Träu­men nach­hängt. Über mir ist nichts als ein makel­lo­ses, sat­tes Win­ter­blau. Unter mir liegt der Hafen in der Bucht von Tokyo; ein Con­tai­ner­schiff schiebt gekräu­sel­te Wel­len vor sich her, die Gischt spritzt etwa 40 Zen­ti­me­ter am Bug hoch, ein Was­ser­bus legt ab. 

Aussicht Einschienenbahn Tokio

Es ist herr­lich, von Mee­ren umge­ben zu sein. Schon allein für sei­ne geo­gra­phi­sche Lage lie­be ich Japan. Dann ist da noch die­ses ganz selbst­ver­ständ­li­che Neben­ein­an­der von Alt und Neu, von Gei­sha-Look und Punk, das mich an Tokyo fas­zi­niert. Der Kon­trast zwi­schen der medi­ta­ti­ven Stil­le im Yoyo­gi-Park, des­sen Bäu­me sich von Novem­ber an rot und gelb fär­ben und dem elek­tro­ni­schen Gedu­del in Metro­sta­tio­nen, des­sen Sinn ich anfangs nicht rich­tig ver­ste­he. „Man­che Melo­dien kom­po­nie­ren Musi­ker mit einem Bezug zu dem Stadt­vier­tel oder der Sta­ti­on, an der sie abge­spielt wer­den“ ver­rät mir Jun­ko Taka­ha­shi, die mir Tokyo zeigt. 

Mit Jun­ko war ich am Vor­abend auch im Mats­un­oyu, einem tra­di­tio­nel­len Bade­haus im Stadt­teil Naka­no­bu. Nackt saßen wir neben­ein­an­der, seif­ten uns ein, schrubb­ten uns ab und stie­gen dann in einen 38 Grad hei­ßen Whirl­pool mit Was­ser aus einer Quel­le. Ich woll­te nicht in ein luxu­riö­ses Onsen, son­dern in ein gewöhn­li­ches Sen­tō, das Anwoh­ner besu­chen, weil sie es schö­ner fin­den, mit Nach­barn zusam­men in einer gro­ßen Wan­ne zu ent­span­nen als allei­ne in ihren klei­nen Appar­te­ments zu duschen. Die Ent­ste­hung die­ser städ­ti­schen Bade­kul­tur hat­te ursprüng­lich prag­ma­ti­sche Ursa­chen: Da das Was­ser in Haus­hal­ten frü­her mit offe­nem Feu­er erhitzt wur­de, ver­bo­ten Geset­ze irgend­wann aus Brand­schutz­grün­den den Ein­bau von Bade­wan­nen. Heut­zu­ta­ge haben Sen­tōs eine sozia­le Funk­ti­on. Nach­rich­ten wer­den aus­ge­tauscht. Senio­ren kom­men ins Gespräch. An mei­nem Sen­tō-Abend woll­te eine rund­li­che Japa­ne­rin von mir wis­sen, woher ich kom­me – und nach etwas Small Talk beschwer­te sie sich – bei­na­he ent­schul­di­gend lächelnd – dar­über, dass die Män­ner in ihrem Bade­be­reich mehr Platz haben als Frau­en. „Die Män­ner haben sogar einen klei­nen Gar­ten. Das ist nicht kor­rekt, in der heu­ti­gen Zeit soll­ten wir gleich­be­rech­tigt sein“, empör­te sie sich. Jun­ko und ich schmun­zel­ten und gaben ihr Recht. 

Lady Liberty in Tokyo

Ich stei­ge aus der Ein­schie­nen­bahn aus und mache mich auf den Weg zu einer Gran­de Dame. Nur elf Meter hoch ist die japa­ni­sche Schwes­ter der ame­ri­ka­ni­schen Lady Liber­ty. Sie steht vor einer 800 Meter lan­gen Hän­ge­brü­cke. Die soge­nann­te  Rain­bow­bridge ver­bin­det das Ufer von Odai­ba mit dem Shi­bau­ra-Pier auf der ande­ren Sei­te der Bucht von Tokyo. Ihren Namen bekam die Brü­cke, da ihre wei­ßen Trä­ger nachts in den Regen­bo­gen­far­ben ange­strahlt wer­den. Die künst­li­che Insel Odai­ba ist ein belieb­tes Aus­flugs­ziel mit Ein­kaufs­zen­tren und Muse­en. Ich schaf­fe es nicht, sie zu besich­ti­gen, denn ich flie­ge nach­mit­tags schon wei­ter nach Naha – aber selbst wenn ich noch genug Zeit hät­te, wür­de ich wahr­schein­lich ein­fach nur ein Dut­zend Mal hin- und her­fah­ren mit der Mono­rail und die Sky Line betrach­ten – so schön ist die Aus­sicht. 

Es ist nach sie­ben Uhr abends und schon dun­kel, als ich in Oki­na­wa lan­de. Nach der Fahrt mit einem Shut­tle­bus esse in mei­nem Appar­te­ment im Hoshi­noya. Der Zim­mer­ser­vice hat mein Din­ner in den Kühl­schrank gestellt. Es sieht so kunst­voll deko­riert aus, dass ich es unger­ne aus­pa­cke, wie ein teu­res Geschenk. Mit dem raf­fi­nier­ten Elek­tro­herd muss ich kämp­fen, auch mit der aus­ge­klü­gel­ten Tech­nik und den vie­len Knöp­fen in mei­ner Toi­let­te. Vor der brei­ten, boden­tie­fen Fens­ter­front faucht das tin­ten­blaue Meer, ich kann es kaum abwar­ten, es bei Tages­licht zu sehen. 

Yoyogi Park

Die Son­nen­auf­gän­ge, die ich in Oki­na­wa erle­be, sind wei­cher, flie­ßen­der und inten­si­ver als die Son­nen­un­ter­gän­ge. Mein ers­ter Mor­gen schenkt mir kurz nach sechs ein glän­zen­des Zart­ro­sa, das aus­sieht als hät­te sich Kirsch­blü­ten­staub zu einem brei­ten Band über dem Hori­zont for­miert. Das Hoshi­noya ist ein fan­tas­ti­sches Hidea­way in Yomi­tan. Umge­ben ist es von einer moder­nen Ver­si­on einer Gus­uku Mau­er, die auch alte Fes­tun­gen des ehe­ma­li­gen König­reichs Ryūkyū umschloss. Wer die Hotel­an­ge­stell­ten in der Lob­by hin­ter dem Pool nach Adres­sen fragt, bekommt mit Aqua­rel­len bemal­te Kärt­chen mit einer fili­gra­nen Schrift auf der Rück­sei­te in die Hand gedrückt. Zur Begrü­ßung gibt es einen Bubble Tea aus Oki­na­wa namens Buku-Buku, die Bläs­chen ent­ste­hen durch gerös­te­ten Reis. Wer möch­te, kann Kara­te ler­nen, das hier erfun­den wur­de oder bei einem Rund­gang durch den Gar­ten die hei­mi­schen Kräu­ter und Blu­men ken­nen­ler­nen. Ich erfah­re, dass sich der Hibis­kus aus Oki­na­wa nach unten öff­net, wäh­rend die Blü­ten aus Hawaii nach oben zei­gen und dass man nach einer Tas­se Kwan­so Tee schnel­ler ein­schläft. Mayu­mi Miya­gi, von der ich viel über Kräu­ter ler­ne, schmug­gelt etwas davon in mein Zim­mer, nach­dem ich ihr erzählt hat­te, dass ich wegen des Jet­lags kei­ne Ruhe fin­de.

Hoshinoya Okinawa

In den kom­men­den zwei Tagen bewe­ge ich mich nur in einem dun­kel­blau­en Haus­an­zug über das etwa drei Kilo­me­ter lan­ge Gelän­de, das an einem sau­be­ren Natur­strand liegt. Ande­re Gäs­te kom­men mir in der­sel­ben Klei­dung mit einem ent­spann­ten Lächeln ent­ge­gen. Das Hoshi­noya schirmt alle Men­schen ab von der Außen­welt, hüllt Besu­cher in wei­ches Vlies und eine war­me Bri­se aus Sorg­lo­sig­keit. Als ich über die Insel tram­pe, sehe ich klei­ne Schwei­ne, deren gekoch­ter Bauch in Oki­na­wa als Deli­ka­tes­se gilt. Der Bau­er hat Boxen in ihrem Stall ange­bracht und beschallt sie mit Musik, damit sie sich gut füh­len.   

Fünf Näch­te und sechs Tage sind schnell vor­über. Es fällt mir schwer, Japan nach so kur­zer Zeit schon wie­der zu ver­las­sen. Am Flug­ha­fen Hane­da den­ke ich an die bei­den klei­nen Mäd­chen aus dem Sen­tō, die mich fas­zi­niert anstaun­ten, weil ich blon­de Haa­re habe. An die Son­ne, die durch die Zwei­ge der Bäu­me blin­zel­te und an die Fami­li­en, die im Park auf gel­ben Blät­tern saßen wie auf einem edlen Tep­pich. Alles an die­ser Rei­se war leicht und ange­nehm, ohne Rei­bung. Von der ers­ten smoot­hen Lan­dung unse­res Flug­zeugs in Tokyo bis zu den letz­ten Minu­ten am Pazi­fik, der nach einer stür­mi­schen Nacht an mei­nem Abschieds­mor­gen nur noch lei­se gur­gelnd Salz aus­haucht. 

Wir bedan­ken uns bei der japa­ni­schen Frem­den­ver­kehrs­zen­tra­le für die Unter­stüt­zung der Recher­che.

Strand in Yomitan Okinawa

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Antwort

  1. Avatar von Daria
    Daria

    Vie­len Dank für die­sen groß­ar­ti­gen Arti­kel! Ich habe schon oft nega­ti­ve Kom­men­ta­re über Japa­ner als Men­schen gehört und wür­de ger­ne wis­sen, wie Ihre per­sön­li­chen Erfah­run­gen waren. Wie haben Sie die Men­schen dort erlebt? Und gibt es bestimm­te kul­tu­rel­le Unter­schie­de, die Ihnen beson­ders auf­ge­fal­len sind?

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