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Der Plan, zum ersten Mal einen Sechstausender zu besteigen, fällt bei einem starken 0,6‑Liter-Bier.
Wir sitzen in Arequipa, der »weißen Stadt« von Peru, auf der Dachterrasse eines dieser kleinen, modernen Hostels, die free wifi haben und Frühstücksomlettes und Cocktail-Happy-Hour und einmal im Jahr, natürlich im Oktober, sogar ein echtes, deutsches Oktoberfest.
Hinter den Häusern der Stadt strahlt das Nachmittagslicht den ebenmäßigen Vulkankegel des 5822 Meter hohen Misti an. Nebenan leuchtet der Gipfelschnee des sogar noch etwas höheren Chachani in den Himmel.
Wir sitzen also da mit einem Bier, in guter Trinklaune, in bester Urlaubslaune, und überlegen: Wäre es nicht möglich, auf diesen mehr als 6000 Meter hohen Chachani hinaufzusteigen, in diese dünne Luft, in der die atmosphärische Sauerstoffdichte nicht einmal mehr halb so hoch ist wie auf Meereshöhe?
Wir sagen uns: Natürlich ist das möglich, wir probieren das aus, wir machen das einfach mal. Und damit ist abgemacht, dass wir auf jeden Fall da hinauf gehen werden, auf den Chachani: mächtiger Berg, machbarer Berg, unser erster Sechstausender.
Der Vorteil unserer Reiseplanung: Wir wollen erst noch weiter reisen zum Colca-Canyon und von dort weiter über Puno bis nach Copacabana in Bolivien am Titicacasee. Wir werden uns also für ein paar Tage dauerhaft oberhalb von 3500 Metern aufhalten. Der höchst gelegene Aussichtspunkt der Straße, die über die Altiplano zum Titicacsee führt, ist der Mirador Alto Lagunillas: 4413 Meter über dem Meer.
Der Plan, uns vorher in vergleichbaren Höhen zu akklimatisieren, um sich dem Chachani dann auf dem Rückweg, sozusagen nach einem kräftigen Luftholen zu nähern, erscheint uns jetzt, auf der Dachterrasse des Hostels, absolut bombensicher, also: eine Agentur in Arequipa suchen und gleich die Bergtour buchen.
Arequipa ist zum Glück so touristisch, dass der Bergsteiger einfach durch die Gassen spazieren kann, bis er vor dem Werbeplakat eines kleinen Outdoor-Reisebüros steht, das mit Sicherheit auch Touren auf den Chachani anbietet.
Unsere Wahl fällt auf den gleich sympathischen, weil etwas unaufgeräumten Anbieter Aliberty in der Santa Catalina. Der Chef stellt sich als Raul Espinoza Dueñas vor: ein gedrungener Typ in geschäftiger Eile. Man werde diese Räumlichkeiten bald aufgeben und umziehen, sagt er, deshalb die Unordnung, das mögen wir bitte entschuldigen: kein Thema. Wir wollen ja auch bloß auf den Chachani steigen.
Der Deal: Für 385 Nuevos Soles pro Kopf – das sind etwas mehr als 100 Euro, das rechnen wir schnell um – fahren wir am ersten Tag mit einem Geländewagen auf 4900 Meter, von dort ist es dann noch eine gute Stunde bis zum Basislager. In der Nacht: Aufstieg mit unserem Bergführer auf den Gipfel des Chachani, der natürlich am besten genau bei Sonnenaufgang erreicht ist.
Wir besprechen kurz kumpelmäßig auf deutsch dieses Angebot, dieses Rundum-Sorglos-Paket. Das schlechte Gewissen des Bergsteigers: Man fährt uns hier, total touristenmäßig, gleich auf eine stattliche Höhe, wir nähern uns dem Berg also nicht, wie sich das eigentlich gehört, mühsam von ganz unten, sondern kürzen ab. Das Erschließen des Berges, seine Eroberung, fällt damit zum Teil aus.
Andererseits: Noch einmal zwei Tage zusätzlich die staubtrockenen Hänge hinaufzusteigen, um überhaupt das Basislager zu erreichen, erscheint uns keinen großartigen Mehrwert zu bieten. Wir wollen uns ja nicht mühsam und kleinschrittig aus der Zivilisation zurückziehen, wir wollen einfach mal schauen, wie das ist: auf 6000 Metern stehen, die Luft dort atmen, in die Ferne schauen.
Deshalb wird der Deal jetzt einfach klargemacht. Raul ist zufrieden mit dem Geschäft, Raul sagt: »Okay, perfect.« Alles klar, perfekt.
Nach fünf Nächten sind wir wieder in Arequipa, und nicht zu früh am Morgen steigen wir in den Jeep, der uns hinauffährt ins Gebirge, der uns überhaupt erst einmal in die Nähe des Chachani bringt.
Der Trugschluss: Natürlich liegt der Berg nicht direkt neben der Stadt, wir müssen ganz im Gegenteil mindestens drei Stunden über nicht asphaltierte, mehr oder weniger gut gesicherte Schotterpisten langsam den Berg umrunden, um uns dem Gipfel über die nicht ganz so steile Ostflanke nähern zu können. Nur von dort, erklärt uns unser Bergführer, der den lässigen Namen Jesús trägt, lasse sich der Berg ohne große Kletterei besteigen.
Der Misti und der Chachani liegen in einem Naturreservat, vor unserem Jeep laufen wilde Guanakos über die Straße, in der Ferne: noch mehr schneebedeckte Gipfel, die aus dem Hochland in den Himmel ragen.
Gegen Ende der Fahrt wird die Piste wirklich schlecht. Der Fahrer weicht den kraterartigen Schlaglöchern, scheinbar einer jenseits des menschlichen Verstandes liegenden Intuition folgend, in einem undurchsichtigen Zickzack-Kurs aus.
Wir sind mal eben 2000 Höhenmeter nach oben gefahren: Ausrüstung umladen, die Rucksäcke schultern, auf zum Basislager.
Das Licht ist schon wirklich schön, als wir unseren Lagerplatz erreichen, eine trockene Staubwüste am Fuß des Gipfelaufbaus. Das Licht ist nicht mehr so gleißend-weiß wie um die Mittagszeit, das ist ja in äquatornahen Gegenden immer so ermüdend, und das Fotografieren kann man sich auch gleich sparen.
Hier oben, unterhalb des Chachani, kommen die Farben am Nachmittag richtig gut raus: die Braun- und Rottöne der Erde, das Grün der spärlichen, aber weithin verstreuten Wurzgewächse, das Weiß des Schnees.
Wir bauen unser Zelt auf. Es ist windstill, es gibt keine Geräusche in dieser Höhe außer unser Lärmen und Rascheln und Herumlabern. Die Abwesenheit jeglicher anderer Laute gibt einem das Gefühl, sich in einem gewissermaßen entgrenzten Raum zu befinden, in einer Art künstlicher Kulisse, wie sie etwa in dem Science-fiction-Film Matrix als Trainingsterrain in das Gehirn projiziert wird.
Am Nachmittag, als das Licht schon scheint wie flüssiges Gold auf 5000 Metern, entsteht im Herz des Bergsteigers diese Gewissheit, jetzt noch einmal höher steigen zu müssen, bis zu einem Ort, an dem man mehr Aussicht hat über das weite Land, an dem das Leben noch ein bisschen größer scheint. Deshalb: schnell dem Drang nach oben folgen, eine Wasserflasche mitnehmen, die Kamera, und dann den Pfad hinauf, der in der morgigen Nacht auch auf den Gipfel des Chachani führen wird.
Der Weg vom Basislager aus ist steinig und unregelmäßig, aber nie ausgesetzt, der Bergsteiger steigt höher, 5200 Meter, 5300 Meter, sicher sind es schon 5400 Meter. Abgleich mit dem Berg gegenüber, der laut Karte auf jeden Fall höher als 5700 Meter ist: gleiche Höhe. Der Gedanke: Das ist ja schon irre hoch jetzt.
Nach zwei Stunden Aufstieg schaut man von den Hängen des Chachani über viele Kilometer Land, über ferne Höhenzüge, und man spürt hier oben, wie sonst allzu selten, das Gefühl wohligen Allein-Seins, in dieser extraterrestrischen Ödnis, die in einem Hohlraum über dem eigentlichen Land und ihren Menschen zu liegen scheint. Tolles Gefühl, hier oben auf 5700 Metern.
Die Unfähigkeit, den Moment jetzt richtig zu verarbeiten, führt zu dem unreflektierten und deshalb vielleicht genau richtigen Ausruf: »Wuhuuuuuuu.« Einmal laut in die Ferne rufen und lachen: macht man auch viel zu selten sonst.
In den Bergen – das ist immer so – kommt der Philosoph in einem ins Grübeln, aber hier am Chachani kommt gleichzeitig auch das Kind ins Staunen. Der Mensch braucht wohl beides, um sein Glück zu machen.
Weil der Abend nicht mehr fern ist, geht es zurück ins Basislager, immer die sandige Geröllmoräne herunter, die vom Gipfel herabfließt. Man kann hier auf den Hacken rutschen, der Weg ist nicht schwierig.
Unten am Zelt ist es Zeit für das Abendessen. Jesús kocht auf einem Gaskocher Nudeln, dazu gibt es Tomatensoße und Dosenthunfisch. Die Sonne ist jetzt schon hinter dem Grat verschwunden, es wird sofort kalt auf der staubigen Ebene, auf der unsere Zelte stehen.
Hinter dem schwarzen Grat scheint die Luft der Atmosphäre eine orange Farbe anzunehmen. Hinter dem Berghang, das spürt der Bergsteiger, liegt ein großer Ausblick. Ein Moment, der nur noch etwa eine halbe Stunde so zu erleben sein wird.
Der Wind fegt kalt über das Lager, die Nase ist rot, aber es geht jetzt nicht anders: Die Notwendigkeit, über die Felsen bis zur Gratlinie zu laufen, um den Blick zu bekommen auf die Szenerie, die sich vom Lager aus nur erahnen lässt, ist nicht mehr zu ignorieren.
Es ist das Gefühl, gegen die Zeit zu laufen, und im Falle des Scheiterns etwas ganz Bedeutendes zu verpassen.
Stolpern über den von Felsbrocken übersäten Hang, noch ein paar Schritte, dann das Finale: Das Licht der untergehenden Sonne fällt über die mehr als 6000 Meter hohen Berge der Altiplano, über den Ampato und, viele Kilometer weiter entfernt, über den Coropuna. Das Licht schneidet die Gratlinien an wie feine Pinselstriche. Das Licht füllt den Raum zwischen den Bergen mit zartem Orange und Mattblau.
Es ist vollkommen windstill, es gibt kein Geräusch. Die Umgebung scheint der Realität der Welt enthoben zu sein, eine Aussicht wie über einen fremden Planeten, den noch nie zuvor je ein Mensch gesehen hat. Ein Gemälde, ein Traumbild.
Erst ist da euphorische Überforderung, nach wenigen Sekunden schlägt sie um in eine tiefe, überwältigende Rührung.
Der Ausblick bestätigt die These, dass nichts von Menschenhand Geschaffenes unser ästhetisches Bewusstsein so sehr berührt wie die Natur. Es ist ihre Vergänglichkeit, die den Einblick in die Schönheit der Welt ausmacht. Die Architektur oder die Kunst können ein paar Leben überdauern. Aber die Wolken ziehen sich zu, die Sonne geht unter, der Schnee schmilzt, Blätter fallen, und das Bild ist zerstört. Es ist ein kurzer Einblick in etwas, das wir nicht verstehen. Es hat die gleiche Tiefe wie der Moment, in dem wir glauben, in den Augen eines anderen Menschen das große Ganze, den tieferen Sinn der Dinge sehen zu können, auf den Grund unseres eigenen Wesens zu schauen.
Am Chachani ist das Bild nach zehn Minuten verschwunden, Dunkelheit fällt über das Land.
Die Besteigung in der Nacht ist dann, um ehrlich zu sein, eher unspektakulär.
Wir brechen gegen 2 Uhr auf, durch die totale Schwärze steigen wir mit unseren Stirnlampen über den steinigen Pfad zum Gipfel. Das Licht reicht aus, um den Weg im Dunkeln zu erkennen.
Irgendwann verteilt sich unsere Gruppe, bedingt durch unterschiedliche Geschwindigkeiten, gleichmäßig über den Berg: flackernde Lichtpunkte im Nirgendwo. Je dünner die Luft wird, umso schwerer werden die Beine, umso schneller geht der Atem. Aber das Terrain ist nicht schwierig.
Wir sind ein bisschen zu früh oben am Gipfel. Dort erstreckt sich ein Feld aus hartgefrorenen Eiszacken über das Geröll, aber eine richtige Vergletscherung wie in den Bergen weiter im Norden, in der Cordillera Blanca, gibt es es hier oben nicht.
Wir müssen feststellen, dass es vor allem bitterkalt ist. Wir sind mit unseren Bergstiefeln samt Wollsocken und den normalen Winterhandschuhen ganz offensichtlich zu dünn angezogen: Die Zehen und Finger werden taub. Der Moment des Sonnenaufgangs ist aufgrund der erbärmliche Kälte ein eher eingeschränktes Vergnügen.
Langsam bekommt der Horizont Farbe, die Gipfelpyramide des Chachani wirft einen gewaltigen Schatten über die Hochebene. Der Wind ist schneidend. Jesús fotografiert uns vor dem halb verfallenen, kaum einen Meter hohen Gipfelkreuz. Unsere Gesichter sind verzogen. Wir lutschen an unseren Fingern, weil sie so kalt sind.
In der Ferne leuchtet das Gipfeleis des Ampato im Morgenlicht.
Der Sonnenaufgang in großer Höhe ist, im Gegensatz zum Sonnenuntergang, ein eher kurzes, punktuelles Vergnügen. Sobald der Kreis des Lichtkörpers nämlich einmal ganz zu sehen ist, ist das Spektakel im Grunde schon vorbei, auch wenn man noch ganz aufgeregt wartet: Schöner wird es dann nicht mehr.
Wir steigen schnell über die große Schuttmoräne ab und warten darauf, dass die ersten Sonnenstrahlen in die Mulde scheinen und auf unsere Hände treffen. Auf immerhin 6075 Metern waren wir, aber die Natur hat uns schnell wieder fortgescheucht von diesem Ort.
Chachani (6075 m)
Reisezeit: ..Am besten für eine Besteigung sind die trockenen Sommermonate, der Gipfel ist im September und Oktober teils eisfrei.
Anreise: ..Mehrere Fluggesellschaften fliegen Lima mit ein oder zwei Zwischenstopps von Deutschland aus an. Die Busse von der Hauptstadt nach Arequipa brauchen etwa 18 Stunden. Von dort fahren Geländewagen bis unterhalb des Gipfelaufbaus auf etwa 4900 Metern.
Anforderungen: ..Der Chachani bereitet technisch keine Schwierigkeiten. Bergsteiger müssen aber gute Kondition haben und ausreichend akklimatisiert sein. Empfehlenswert sind wenigstens ein paar Tage in Höhen zwischen 3500 und 4000 Metern, zum Beispiel am Titicacasee. Wer die Kälte der Nacht unterschätzt, kann sich in der großen Höhe schnell leichte Erfrierungen zuziehen.
Veranstalter: ..Verschiedene Agenturen in Arequia bieten geführte Touren auf den Chachani an, die meist zwei Tage dauern. Enthalten sind An- und Abreise mit einem Jeep, der Bergführer, Ausrüstung wie Zelt, Isomatte und Schlafsack, aber auch Steigeisen und Eispickel sowie Verpflegung. Die Preise liegen bei umgerechnet 100 bis 150 Euro.
Übernachtung: ..In Arequia gibt es Unterkünfte unterschiedlicher Preisklassen – vom Sternehotel bis zu einfachsten Herbergen. Am Berg selbst wird in Zelten übernachtet.
Geld:..In Arequipa gibt es zahlreiche Banken, die alle gängigen Kreditkarten akzeptieren. 1 Euro entspricht etwa 3,4 Nuevos Soles (Stand Januar 2013).
Antworten
Hey Max, ich kann die Tour wirklich empfehlen. Nur mit dem Ausleih-Equipment ist das natürlich immer so eine Sache: Mich hat nach der Nacht im geborgten Schlafsack eine Woche ein fieser Floh begleitet.
Wunderschöne Fotos. Die etwas unwirklich wirkende Strecke gefällt mir ebenfalls, das wäre etwas für mich. Die knappen 100 Euro waren es sicher wert.
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