Das Nord­land­fie­ber und der Ark­tis Bazil­lus sind alte Bekannte, die ich sicher­lich nie mehr los­werde. Es begann im August 1991, als ich erst­mals in Schwe­den unter­wegs war, und sich die nor­di­sche Ein­sam­keit sogleich tief in mir ein­brannte. Seit­dem bin ich immer wie­der zurück­ge­kehrt in die hohen Brei­ten, wan­derte den 800 km lan­gen Nord­ka­lott­le­den kom­plett an einem Stück oder unter­nahm zwei­mal eine Über­que­rung des grön­län­di­schen Inland­ei­ses von Ost nach West – Mei­len­steine in mei­nem Leben als „Polar­aben­teu­rer“.

Bis mich im Früh­jahr 2012 zwei Krampf­an­fälle aus hei­te­rem Him­mel zu Boden ris­sen, die Dia­gnose Epi­lep­sie gestellt wurde und mein Wan­der­erle­ben aus den Fugen geriet. In den Tagen im Kran­ken­haus und den Wochen danach, die es brauchte, um wie­der so rich­tig auf die Beine zu kom­men, ließ ich mich aller­dings nicht unter­krie­gen und fasste den Ent­schluss zu dem Pro­jekt „Mein Nor­den“. Erneut wollte ich alles noch ein­mal träu­men und auf­bre­chen zu den wun­der­vol­len Orten, die mir von frü­her so viel bedeu­te­ten – aber gleich­zei­tig auch Neu­land auf­spü­ren, in dem ich zuvor noch nie war, jedoch schon immer ein­mal hinwollte.

Elf Rei­sen tüf­telte ich aus, die mich über eine Spanne von vier Jah­ren hin­ein ins Aben­teuer führ­ten. Ich brach allein dort­hin auf, wo meine Pas­sion ihren Anfang genom­men hatte, zog mit Freun­den durch die dunkle Polar­nacht und über eisige Glet­scher, oder ging mit mei­ner Frau und unse­rer klei­nen Toch­ter auf Wan­der­tour. In all der Zeit trat die Epi­lep­sie völ­lig in den Hin­ter­grund. Und ich blieb zum Glück anfallsfrei.

Frag­mente aus der Zeit des Aufbruchs.
 

Schwe­den: Plötz­lich bin ich oben, stehe an der Abbruch­kante und unter mir geht es 700 Meter senk­recht hinab. Der Blick auf das Delta des Ráh­pa­ädno ver­schlägt mir den Atem. Tief unten schlän­geln sich die ver­äs­tel­ten Arme des mäch­ti­gen Flus­ses durch einen grün­blauen Tep­pich aus Seen, Sümp­fen und Wäl­dern. Ein­ge­keilt zwi­schen den Fels­ab­brü­chen des Ski­erffe und des gegen­über­lie­gen­den Tjah­ke­lij mün­den die pul­sie­ren­den Adern des mit Glet­scher­se­di­men­ten durch­setz­ten Was­sers in den Laitaure.
 

Island: Wir sind erleich­tert, als sich der Pan­zer des Vat­na­jö­kull vor uns aus­brei­tet und wir unweit des Vonars­karđ, des Pas­ses der Hoff­nung, über den Köl­duk­vís­lar­jö­kull auf die aus­ge­dehnte Flä­che ewi­gen Eises stei­gen kön­nen. Von hier an lau­fen wir ohne son­der­li­che Hür­den über den größ­ten Glet­scher Euro­pas. Vor­bei an der Gríms­vötn-Cal­dera und bis zu sei­nem süd­öst­li­chen Ende, dem Ská­la­fells­jö­kull, über den wir wie­der hin­ab­glei­ten in tie­fere Lagen, der Küste und dem Meer entgegen.
 

Schott­land: Mit einem mul­mi­gen Gefühl komme ich auf der Isle of Skye an – ich befürchte eine Was­ser­schlacht. Eine steife Brise tut ihr übri­ges dazu und treibt das Nass klat­schend über die Insel der Inne­ren Hebri­den. Aber was soll’s? So, als könne mich nichts erschüt­tern, kaufe ich mir erst ein­mal eine wet­ter­feste Karte des Weges, bevor ich in Broad­ford starte, und trotze in der fol­gen­den Zeit sto­isch den immer wie­der­keh­ren­den Regen­güs­sen, stür­mi­schen Win­den und schmat­zend feuch­ten Böden.
 

Färöer-Inseln: Wie eine Hai­fisch­flosse ragt die schroffe unbe­wohnte Insel aus den Flu­ten des Fjords Sør­vágs­fjørđur empor. Sie ist der größte Holm des Archi­pels und der Name Tind­hólmur geht auf die zacken­för­mi­gen Gip­fel Ytsti, Arni, Lítli, Breiđi und Bogdi zurück. Bizarr recken sie diese in den dun­kel bewölk­ten Him­mel und sor­gen für die dra­ma­ti­sche Form.
 

Schwe­den: Schnee bläst uns ins Gesicht. Fest ver­zur­ren wir die Kapu­zen bei minus 14 Grad und machen uns auf den Weg, den Tjäkt­ja­pas­set zu über­schrei­ten hin­über ins Tjäkt­ja­vagge. Das Weiß wir­belt über die Berg­kämme, über denen sich ein blauer Him­mel wölbt. Die Sonne, die sich in der Polar­nacht hin­ter dem Hori­zont ver­birgt und nie zum Vor­schein kommt, zau­bert nur einen blas­sen Schein auf die weni­gen Wolkenfetzen.
 

Island: Auf der Halb­in­sel Snæ­fells­nes bie­gen ab ins Lava­feld Neshraun und neh­men die holp­rige Piste zur Land­spitze Önd­ver­đar­nes in Angriff. In wil­dem Zick­zack fah­ren wir zwi­schen den erstarr­ten Lava­ge­bil­den hin­durch bis hin zu einer Weg­ga­be­lung. Rechts ab gelan­gen wir zu einem im Rei­se­füh­rer aus­ge­wie­se­nen Leucht­turm. Doch der ent­puppt sich als wenig foto­ge­nes klei­nes Häus­chen. Also zurück. Von dort, wo sich der Weg gabelt, haben wir in die andere Rich­tung noch einen wei­te­ren Leucht­turm erspäht. Ein­mal in der Nähe, kur­ven wir auch da näher ran – nur, um keine Gele­gen­heit auf ein loh­nen­des Foto­mo­tiv ein­fach links lie­gen zu las­sen. Und siehe da! Rei­zend steht der Leucht­turm Svör­tu­l­oft auf einer Anhöhe über dem Saxhólsbjarg.
 

Finn­land: Die baum­lo­sen, gerun­de­ten Berg­kup­pen thro­nen düs­ter über dem end­los schei­nen­den Wäl­der­meer, in dem sich dich­tes Nadel­ge­hölz mit lich­ten Baum­be­stän­den aus Kie­fern und Bir­ken abwech­selt. Wäh­rend der Tage, in denen ich in diese urwüch­sige Welt vor­dringe, komme ich aus dem Stau­nen nicht mehr her­aus. Vol­ler Freude sauge ich alle Ein­drü­cke auf, die sich ent­lang ver­wun­sche­ner Pfade nach jeder Bie­gung offenbaren.
 

Sval­bard: Der Schnee ist tief. Die Last der Schlit­ten schwer. Doch die Sze­ne­rie ringsum ent­schä­digt für alle Anstren­gung – das ark­ti­sche Ambi­ente hat mich längst in sei­nen Bann gezo­gen. Über den Elfen­bein­breen erklim­men wir das Nord­manns­fonna. Dort hält uns schlech­tes Wet­ter am Berg Dol­ken gefan­gen. Stür­mi­sche Böen trei­ben Schnee über die weit­läu­fige Glet­scher­land­schaft. Die Sicht schrumpft auf ein Mini­mum. Wir sit­zen fest.
 

Nor­we­gen: In Jotun­hei­men unter­neh­men wir eine Tages­tour auf das Biti­horn und genie­ßen die Aus­sicht über die Weite der Val­dres­flya auf der einen und die majes­tä­ti­schen Berg­gi­gan­ten der „Hei­mat der Rie­sen“ auf der ande­ren Seite. Beim Abstieg rutscht Selma auf dem Hosen­bo­den die zahl­rei­chen Schnee­fel­der hinab und jauchzt: „Das ist klasse!“ Als Fami­lie die Wild­nis zu ent­de­cken, ist das pure Glück!
 

Nor­we­gen: Die Wol­ken lösen sich von Tag zu Tag mehr und mehr auf. Strah­lend steht die Sonne am blauen Him­mel und sen­det zum Jah­res­aus­klang noch ein­mal som­mer­li­che Wärme. Wir ergrei­fen die Chance und gelan­gen von der Appels­inhytta hin­auf auf den Hardan­ger­jø­ku­len, den sechst­größ­ten Glet­scher des Lan­des, um die­sen nicht nur zu umrun­den, son­dern auch zu über­que­ren. Dass uns die­ses Schman­kerl auf­ge­tischt und dar­ge­reicht wird, ist kaum zu glau­ben. Wir erle­ben fan­tas­ti­sche Stun­den auf dem eisi­gen Pla­teau und fol­gen in den nächs­ten Tagen wei­te­ren kaum began­ge­nen Pfaden.
 

Grön­land: Einen Tag ver­bringe ich am Hul­let, die­sem kaum in Worte zu packen­den Chaos aus Eis­ber­gen, einer Sze­ne­rie, so spek­ta­ku­lär und ein­drück­lich, wie ich es anderswo noch nie gese­hen habe. Umge­ben von Aus­läu­fern des Inland­ei­ses zieht mich die­ser Ort so sehr in sei­nen Bann, dass ich mich nur schwer davon los­sa­gen kann. Mys­tisch ist die Stim­mung. Haus­hoch die auf Grund lie­gen­den Eisgebilde.
 

Im Juni erschien der Bild­band „Mein Nor­den“ mit Bil­dern und Tex­ten über Mar­tin Hül­les Reisen:

Limi­tiert auf 333 Exem­plare, num­me­riert und handsigniert
For­mat: 30x22 Zen­ti­me­ter, Hard­co­ver, 176 Seiten
Bestel­lun­gen und wei­tere Infor­ma­tio­nen unter http://www.martin-huelle.de/shop

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Martin Hülle

Martins Herz schlägt vor allem für die abgeschiedenen Regionen des hohen Nordens. Dabei sind die Fotografie und das Schreiben für ihn eine Lebensart – eine Möglichkeit, Gefühle einzufangen, auszudrücken und mit anderen zu teilen. Kamera und Notizblock sind seine ständigen Begleiter auf der Suche nach spannenden Geschichten, Reportagen und Dokumentationen. 2017 erschien sein erster Bildband „Mein Norden“ – Eine Liebeserklärung an raue Landschaften, karge Regionen und eine intensive Art des Unterwegsseins.

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