In einem Land vor unserer Zeit

Meh­re­re Anläu­fe hat­te ich gebraucht, um die­se Rei­sen nach Nord­ko­rea über­haupt antre­ten zu kön­nen. Nach eini­gen Jah­ren inten­si­ver jour­na­lis­ti­scher Aus­ein­an­der­set­zung mit dem bru­ta­len Korea-Krieg und der dar­aus resul­tie­ren­den Tei­lung der Korea­ni­schen Halb­in­sel in zwei Wel­ten, soll­te ich 2015 auf Ein­la­dung des heu­ti­gen Ehren­prä­si­den­ten der Deutsch-Korea­ni­schen Gesell­schaft, Hart­mut Koschyk, eine Bun­des­tags­de­le­ga­ti­on nach Nord­ko­rea beglei­ten – als damals ein­zi­ger Repor­ter. Ein Traum. Bis zum Tage des Abflugs hat­te mich die nord­ko­rea­ni­sche Sei­te aller­dings gezielt im Unkla­ren gelas­sen, ob ich nun ein Visum bekom­men wür­de oder nicht. Brie­fe auf hoher diplo­ma­ti­scher Ebe­ne spiel­ten Ping­pong zwi­schen den Bot­schaf­ten von Ber­lin und Pjöng­jang. Letzt­lich blieb ich zu Hau­se – rei­ne Schi­ka­ne also – und der Besuch der Bun­des­tags­po­li­ti­ker begann mit einem Eklat. Offen­bar stand ich dann auch auf­grund mei­ner regel­mä­ßi­gen Publi­ka­tio­nen über die Lage in der Kim-Dynas­tie auf einer ent­spre­chen­den Lis­te, denn der stän­di­ge Ver­such, end­lich ein Visum zu bekom­men, blieb stets erfolg­los. Aber wie annä­hernd über eine total iso­lier­te Regi­on fun­diert berich­ten, in die man noch nie zuvor auch nur einen Fuß gesetzt hat? Am Ende war es dann wie so oft im Leben: man muss die rich­ti­gen Leu­te ken­nen­ler­nen. Ich hat­te also Glück.

Als ich die Foto­gra­fin Xio­ma­ra Ben­der für ein Inter­view zu ihrem mich visu­ell über­ra­schen­den Nord­ko­rea-Bild­band “The Power of Dreams” traf, eröff­ne­te sich mir ein ganz ande­rer Zugang zu mei­nem jour­na­lis­ti­schen Lieb­lings­the­ma – der nun schon 71 Jah­re alten Dik­ta­tur. Xio­ma­ra foto­gra­fiert seit 2011 regel­mä­ßig in Nord­ko­rea, kennt das Land mitt­ler­wei­le fast aus­wen­dig, aus allen Blick­win­keln und mit all’ sei­nen Facet­ten. Durch ihren Vater Andre­as Ben­der, der welt­weit als Rei­se­füh­rer für eher unge­wöhn­li­che Rei­se­zie­le ope­riert und als einer der ers­ten Deut­schen eine Rei­se­lei­ter­li­zenz für Nord­ko­rea sei­tens des kom­mu­nis­ti­schen Regimes erhielt, kann sich Xio­ma­ra auf ein seit über 30 Jah­ren qua­si gegen­sei­ti­ges Ver­trau­ens­ver­hält­nis zwi­schen ihrer Fami­lie und der nord­ko­rea­ni­schen Tou­ris­mus­be­hör­de ver­las­sen, wel­che die strik­te Auf­ga­be ver­folgt, alle Aus­län­der im Land zu kon­trol­lie­ren und wäh­rend­des­sen mit min­des­tens zwei soge­nann­ten Rei­se­füh­rern auf Schritt und Tritt zu beglei­ten. Dank Xio­ma­ras Vater bekam ich nun ganz pro­blem­los ein Visum für Nord­ko­rea und beglei­te­te Sie zwei Mal in 2018 in das Land am Ende der Welt, trotz des­sen, dass die nord­ko­rea­ni­sche Sei­te natür­lich wuss­te, dass ich als Jour­na­list und weni­ger als Tou­rist ope­rie­ren wür­de. Aber offen­bar bekam ich das Prä­di­kat „harm­los“ ver­lie­hen.

Und ja, Nord­ko­rea hat sich in den letz­ten Jah­ren geöff­net, natür­lich auch des Gel­des wegen, wel­ches das von Sank­tio­nen total gehan­di­cap­te, ärm­li­che Land auch so bit­ter nötig hat. So bin auch ich letzt­lich nur ein Devi­sen-Brin­ger für das Unrechts­re­gime. Des­sen muss sich jeder Nord­ko­re­ar­ei­sen­de bewusst sein. Schließ­lich brach­te mein Auf­ent­halt je Ein­rei­se den nord­ko­rea­ni­schen Staat etwa 2500 Euro ein. Ein teu­res Unter­fan­gen also. Vom Abflug (von Peking oder Shang­hai) an über­nimmt die staat­li­che Tou­ris­mus­be­hör­de die Kon­trol­le. Sie legt Hotels, Restau­rants und Zeit­plä­ne fest. Wirk­lich Ruhe vor den “Gui­des” hat man erst, wenn man von jenen im “Aus­län­der­ho­tel” abge­ge­ben wird und es hin­ter einem die Türen schließt. Ein Gefäng­nis light, denn auf eige­ne Faust darf man es nicht ver­las­sen. Zudem blei­ben indi­vi­du­el­le Wün­sche (Rei­se­rou­te, Abläu­fe) bis zuletzt unbe­ant­wor­tet oder im Vagen. Obgleich sie Alles in ihrer Macht Ste­hen­de ver­su­chen, um Gäs­te zufrie­den­zu­stel­len. Das liegt in der Men­ta­li­tät der Korea­ner.

Für Tou­ris­ten, die nicht wie ich jour­na­lis­tisch tätig sind, ist der Visa-Antrag heut­zu­ta­ge pro­blem­los. So waren wäh­rend mei­nes ers­ten Auf­ent­halts anläss­lich der Fei­er­lich­kei­ten zu 70 Jah­ren Nord­ko­rea im Sep­tem­ber 2018 so vie­le Aus­län­der im Land wie nie­mals zuvor. Der Groß­teil davon Chi­ne­sen, für die Nord­ko­rea wie eine Kolo­nie, vor allem aber ein Abhän­gig­keits­staat ist. Und so füh­ren sie sich vor Ort auch auf. Kim Jong-un plant mit nahe­zu einer Mil­li­on chi­ne­si­scher Tou­ris­ten im kom­men­den Jahr, ver­mel­den Nord­ko­rea-Ana­lys­ten. Wie das in der Pra­xis aus­se­hen soll, bleibt mir ein Rät­sel. Für vie­le Chi­ne­sen ist ein Nord­ko­rea-Trip eine Rei­se in die eige­ne mao­is­ti­sche Ver­gan­gen­heit, inklu­si­ve Kon­trol­le und Gän­ge­lung. Vie­le sind nur bedingt an den Kul­tur­rei­sen durchs Land inter­es­siert, son­dern wol­len in die neu gebau­ten Spa-Hotels oder in die Ski­ge­bie­te, die alle­samt fern­ab lie­gen und gut zu kon­trol­lie­ren sind. Aus nord­ko­rea­ni­scher Sicht bedeu­tet „per­fek­ter Tou­ris­mus“, wenn Gäs­te kom­men, die ihr Geld mit­brin­gen – und ansons­ten gut abschirm­bar im Hotel oder einem iso­lier­ten Gebir­ge blei­ben.

Leer und sonderbar zart

Mei­ne ers­ten Gedan­ken vor Ort waren: die­se gro­ße Lee­re, das Nichts zwi­schen den Gebäu­den und Men­schen und die­se uni­for­men aber zar­ten, fast zer­brech­lich wir­ken­den Wesen, die mich durch ihre Erschei­nung, die auf­rich­tig und unbe­hel­ligt schien, sogleich in einen Bann zogen. Sie kamen mir ver­wandt vor, aber eben­so wie Außer­ir­di­sche von einem fer­nen, unbe­kann­ten Pla­ne­ten. Oder war ich selbst der­je­ni­ge, wel­cher sich hier­her ver­irrt hat­te, von einem nebu­lö­sen – klas­sen­ver­fein­de­ten – Him­mels­kör­per kom­mend? Ich kann es bis heu­te nicht benen­nen, so skur­ril erschei­nen die jewei­li­gen, gegen­sätz­li­chen Wahr­hei­ten, wenn der Rest der Welt – wie ich – auf Nord­ko­rea trifft. Und dann die­ses Gefühl, wie in einem Bern­stein ein­ge­schlos­sen zu wan­deln, Besu­cher einer kon­ser­vier­ten Kul­tur zu sein. Zu Gast in einer Appa­ra­tur, in wel­cher Denun­zia­ti­on und strik­te Über­wa­chung herr­schen, Depor­ta­tio­nen und Macht­miss­brauch zur Tages­ord­nung zäh­len und kaum Indi­vi­dua­li­tät mög­lich ist, bzw. als Ent­fal­tungs­form der eige­nen Bio­gra­fie völ­lig unbe­kannt sein muss. Zwei gan­ze Gene­ra­tio­nen schon ken­nen es nicht anders. Wie auch? Wie unter einer Glo­cke erscheint mir hier das Leben, drau­ßen Unmen­gen Was­ser, drin­nen ein wenig Luft zum Atmen. Sie wis­sen es ein­fach nicht bes­ser. Viel­leicht ist Nord­ko­rea die Tief­see unter den Län­dern der Erde. Kaum Licht dringt ein. Kein Inter­net, kei­ne Mode, kei­ne Pop­kul­tur, kei­ne Por­no­gra­fie, kein Hol­ly­wood, kein Ami auf dem Mond, kei­ne Dro­ge, kei­ne Ver­hei­ßung, kei­ne Mög­lich­keit der frei­en Ent­schei­dung. Die Gesprä­che mit Bruce Lee (so nann­te sich einer unse­rer Auf­pas­ser), wel­cher ein sehr gutes Deutsch beherrsch­te, stie­ßen immer wie­der auf eine Wand aus Unwis­sen­heit. “Die Beat­les? Noch nie gehört!”

Ein Hauch von Nostalgie

Auf einer der brei­ten, end­los wir­ken­den Stra­ßen der 3‑Mil­lio­nen-Metro­po­le Pjöng­jang, mit den weit­läu­fi­gen Sicht­ach­sen ent­lang der in Pas­tell­tö­nen ange­mal­ten Pracht­bau­ten, fährt ein älte­res Mer­ce­des-Modell und ein japa­ni­scher Klein­bus auf ver­schie­de­nen Spu­ren in die glei­che Rich­tung. Die Stra­ßen­in­fra­struk­tur einer Groß­stadt mit dem Ver­kehrs­auf­kom­men eines Dorfs in Deutsch­land. Eine Grup­pe von Frau­en – in einer Art Uni­for­mie­rung – absol­viert einen Appell am Stra­ßen­rand. Zu allen Him­mels­rich­tun­gen die beto­nier­ten Flu­re für Auf­mär­sche und Ver­samm­lun­gen von – wie sym­pto­ma­tisch für Nord­ko­rea – sorg­fäl­tig orga­ni­sier­ten Men­schen­mas­sen. So viel Raum und Platz. Eine Haupt­stadt mit der Atmo­sphä­re einer Film­ku­lis­se oder einer Modell­ei­sen­bahn­welt. Alles erscheint akku­rat und auf eine Wei­se künst­lich, obgleich die­ser Anschein (und so ein Groß­teil des abge­schot­te­ten Lan­des) einer ein­zi­gen Insze­nie­rung gleicht. Nach den Plä­nen und der Ideo­lo­gie der Füh­rer der Kim-Dynas­tie. Den drei Göt­tern Nord­ko­re­as.


Es sind Erin­ne­run­gen, wel­che mich wäh­rend mei­ner Auf­ent­hal­te in Nord­ko­rea heim­su­chen und das Rei­sen durch eine sel­te­ne Welt – viel­leicht die Letz­te ihrer Art – zu einer inten­si­ven Emp­fin­dung haben wer­den las­sen. Ich kann­te die Sym­me­trien bereits von irgend­wo­her. Man­che Far­ben, auch Gerü­che, viel­leicht auch die Mode mit ihren stren­gen Schnit­ten, kamen mir bekannt vor. Ganz bestimmt aber die Pjöng­jan­ger Stra­ßen­bah­nen, denn die roten Tatra-Wagen aus der ehe­ma­li­gen Tsche­cho­slo­wa­kei, ruckeln durch die Haupt­stadt der Kim-Dik­ta­tur, als sei ich auf einer Zeit­rei­se durch mei­ne eige­ne Kind­heit in der DDR. Auf viel­leicht den­sel­ben Sitz­scha­len saß ich in Dres­den auf dem Weg in den Kin­der­gar­ten, in wel­chem wir uns auf den glei­chen Metall­klet­ter­ge­rüs­ten die Knie und Köp­fe auf­schlu­gen. Das Irgend­wo­her in mei­nem Kopf war mei­ne eige­ne Ver­gan­gen­heit. Hier wur­de sie wie­der leben­dig. Sehr schnell kam die­ses Gefühl einer Rück­kehr in mir auf, obgleich mein Unter­be­wusst­sein sehr wenig mit der kul­tu­rel­len Rea­li­tät vor Ort abglei­chen konn­te. Aber die Idee von der sozia­lis­ti­schen Stadt, die erkann­te ich sofort wie­der.

Zerschmetternde Klischees

Ich konn­te mir vor Rei­se­an­tritt nur schwer vor­stel­len, wie frei und unein­ge­schränkt Xio­ma­ra in der Kim-Dynas­tie foto­gra­fie­ren konn­te, aber dem war so, ich konn­te es haut­nah mit­er­le­ben. Ein Fakt, der Sie zu einer Chro­nis­tin des Wan­dels der Dik­ta­tur hat wer­den las­sen. Und so konn­te auch ich unge­hin­dert her­um­knip­sen. Wenn ich jetzt wäh­rend des Schrei­bens an Nord­ko­rea zurück­den­ke, erin­ne­re ich mich vor allem immer wie­der an ein zärt­li­ches Gefühl den Men­schen gegen­über. Aus­lö­ser vor Ort war zum Bei­spiel ein son­der­ba­rer und berüh­ren­der Moment zugleich. Eine war­me Emp­fin­dung brei­te­te sich aus­ge­rech­net wäh­rend einer Mili­tär­pa­ra­de in mir aus. Erwar­tet hat­te ich Waf­fen. Stäh­ler­ne Kano­nen und bedroh­li­che Rake­ten. Feind­se­li­ge Prah­le­rei und fre­ne­tisch zele­brier­te Pro­pa­gan­da. Eine Prä­sen­ta­ti­on der angeb­li­chen Macht hat­te ich mir, dem Anlass gerecht, wäh­rend mei­ner Rei­se­vor­be­rei­tun­gen zu Hau­se aus­ge­malt. Vor allem aber rech­ne­te ich mit Aggres­si­on und Hys­te­rie – gegen die USA, den Impe­ria­lis­mus, die west­li­che Welt. Ganz böse und bewusst beängs­ti­gend wirk­te es in mei­nen Gedan­ken vor und erschuf in mir gehö­rig Respekt vor dem erst­ma­li­gen Auf­ent­halt auf der Korea­ni­schen Halb­in­sel. Wie sonst soll­te die letz­te, im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes übrig­ge­blie­be­ne sta­li­nis­ti­sche Dik­ta­tur ihren run­den Geburts­tag zele­brie­ren? Und wie anders könn­te ein Land Wir­kung erzeu­gen, wel­ches medi­al über Jahr­zehn­te hin­weg als glo­ba­le, sogar ato­ma­re Bedro­hung in den Köp­fen der meis­ten Men­schen welt­weit ein­ge­nis­tet wur­de? So asso­zi­iert man mit dem Namen Nord­ko­rea zual­ler­erst Angst, Beklem­mung, Unter­ernäh­rung und eine ver­gleichs­lo­se Trau­rig­keit, wel­che die unter­drück­te Bevöl­ke­rung aus­strah­len muss – glaubt man der Bericht­erstat­tung.

Doch es soll­te der fried­volls­te, fröh­lichs­te und bun­tes­te Auf­marsch sein, den ich bis­her erle­ben soll­te. Und so stand ich also da, neu­gie­rig und erstaunt, inmit­ten einer die­ser typi­schen, aus­la­den­den und ellen­lang gera­den Pracht­stra­ßen Pjöng­jangs. Wäh­rend­des­sen roll­ten die Last­wa­gen­kon­vois mit offe­ner Lade­flä­che, auf der sehr jun­ge, zier­li­che Sol­da­ten und Sol­da­tin­nen jubel­ten, zu mei­nen bei­den Sei­ten an mir vor­über. Sie hiel­ten Luft­bal­lons, anstatt Geweh­ren in ihren Hän­den und sie wink­ten unge­niert und lach­ten fast kind­lich zu der Men­ge an hübsch her­aus­ge­putz­ten Nord­ko­rea­nern am Stra­ßen­rand, wel­che ihrer­seits je Kon­voi ein herz­li­ches Dan­ke aus­rie­fen. Die Frau­en in tra­di­tio­nel­ler, bon­bon­far­be­ner Tracht, die Män­ner mit schlich­ten Kra­wat­ten und in grau­tö­ni­gen Sak­kos.

Es war ein Kli­schee-zer­schmet­tern­des Bild, wie die aus Sowjet­zei­ten stam­men­den LKW auf mich zuroll­ten und aus­ge­las­se­ne Freu­de, statt Zorn trans­por­tier­ten. Ich stand da allein auf wei­tem Asphalt, kei­ner der zahl­rei­chen Poli­zis­ten, Ord­nungs­hü­ter oder einer unse­rer bei­den obli­ga­to­ri­schen Auf­pas­ser hat­ten mich dar­an gehin­dert, die Men­schen­men­ge zu durch­bre­chen und ein­fach auf die Fahr­bahn zu tre­ten. Ich glau­be in die­sem Moment war die Kon­trol­le über uns ver­lo­ren­ge­gan­gen, denn ein jeder aus unse­rer Grup­pe ver­schwand für eini­ge Augen­bli­cke in der Men­ge der jubeln­den Nord­ko­rea­ner. Und so reck­te ich mei­ne Hand mal links mal rechts aus, zu den Hän­den der viel­leicht jüngs­ten Gar­de der nord­ko­rea­ni­schen Armee. Die zier­li­chen Hand­flä­chen schlu­gen von oben auf die mei­ne, wel­che ich ihnen von unten ent­ge­gen­hielt. Hun­der­te vor­bei­fah­ren­de Bli­cke konn­te ich so erha­schen. Man­che der gegen­sei­ti­gen Berüh­rungs­punk­te konn­te ich für Sekun­den fest­hal­ten, indem sich mein Blick­feld mit dem jewei­li­gen Kopf auf dem Kon­voi mit­dreh­te. Aus dem kur­zen Klat­schen wur­de so fast ein sehn­süch­ti­ges, bei­der­sei­ti­ges Hin­ter­her­schau­en. So hielt ich man­chen Gesichts­aus­druck in mei­nen Gedan­ken fest und nahm die­se Form der Ein­dring­lich­keit und Berüh­rung mit mir zurück nach Hau­se, gen Deutsch­land, in die Frei­heit. In eine ande­re Welt, so weit weg wie der Mond und sei­ne erd­ab­ge­wand­te, dunk­le Sei­te. Denn ich war hier der Voy­eur, wel­cher uner­reich­bar hin­ter den Mau­ern, Land­mi­nen und Sta­chel­dräh­ten, jen­seits der Abschot­tung, eige­ne Ein­drü­cke sam­mel­te. Und eben Gesich­ter, die ich so zuvor noch nir­gend­wo gese­hen hat­te und denen ich nicht näher kam, als mit mei­nem eige­nen Lächeln. Gesich­ter, die ein biss­chen stolz, ein biss­chen gut­gläu­big, schmäch­tig, etwas schüch­tern, lie­be­voll und vor allem eines aus­strahl­ten: Wür­de und Güte.

Formation und Gemeinschaft

Die­se alter­tüm­li­che Beschei­den­heit und Ein­fach­heit begeg­ne­te mir sowohl in der Haupt­stadt, als auch auf dem Land, in den Dör­fern, in den Fabri­ken und land­wirt­schaft­li­chen Genos­sen­schaf­ten, am Meer wie im Gebir­ge. Ein Klein­bus fuhr uns hol­pernd und schep­pernd in die Hafen­städ­te Won­s­an und Ham­hung im Nord­os­ten. Dazwi­schen Fel­der, Ebe­nen und Hügel – aber vor allem land­wirt­schaft­li­ches Gewu­sel. Alle Kraft für die genos­sen­schaft­li­che Pro­duk­ti­on. Ein Ein­druck domi­nier­te mei­ne Wahr­neh­mung dabei immer wie­der: Das Auf­tre­ten in For­ma­tio­nen und immer­zu in Gemein­schaft. Ob bei der Mais­ern­te, beim Tai Chi am Fluss­ufer des Taedong, bei gym­nas­ti­schen Übun­gen oder Tanz­ein­la­gen am Stra­ßen­rand der pseu­do-moder­nis­ti­schen Haupt­stadt, wel­che vor allem den soge­nann­ten Pri­vi­le­gier­ten vor­be­hal­ten ist – also den Par­tei­treu­en. Nie­mand erscheint allein, ent­schei­det allein nach sei­nem eige­nen Gefal­len oder hegt auch nur irgend­ei­ne denk­ba­re, ver­gleichs­ba­re Frei­heit, wie wir sie ken­nen und um deren Ver­wirk­li­chung wir uns erei­fern. Die­ses Wis­sen schwingt stän­dig im Hin­ter­kopf mit und trübt das roman­ti­sche Erschei­nungs­bild, die sonst ursprüng­li­che Natür­lich­keit des Anblicks.

Den abso­lu­ten Super­la­tiv die­ser Grup­pen­dy­na­mik stellt das Ari­rang-Fes­ti­val dar, wel­ches ich im »Sta­di­on Ers­ter Mai« in Pjöng­jang zur Pre­mie­re anläss­lich der Jubi­lä­ums­fei­er­lich­kei­ten erle­ben konn­te. Eine akri­bisch per­fek­tio­nier­te Insze­nie­rung der sieb­zig­jäh­ri­gen Geschich­te Nord­ko­re­as, eine gewal­ti­ge Cho­reo­gra­fie aber­tau­sen­der Akro­ba­ten, Tän­zer, Ath­le­ten, Musi­ker und Kin­der­grup­pen. In einer Syn­chro­ni­tät jen­seits von etwas je Gese­he­nem, von wel­cher hie­si­ge Cho­reo­gra­fen nur träu­men kön­nen. In einer Ästhe­tik und Epik wel­che man mit jener einer Leni Rie­fen­stahl ver­glei­chen kann – aller­dings in Far­be. Die Orga­ni­sa­ti­on von Mas­sen beherrscht wohl kaum ein ande­res Land der­ar­tig opti­miert und kon­di­tio­niert, wie es die Ideo­lo­gie der Kim-Dynas­tie sei­nen Unter­ta­nen durch Drill und Dis­zi­pli­nie­rung auf­er­legt hat. Und so offen­bar­te sich vor mir eine noch nie erleb­te Dra­ma­tik, ein Schau­spiel, wel­ches sei­nes Glei­chen sucht. Die Per­fek­ti­on der Per­for­mance, der par­al­le­len Bewe­gun­gen und Abläu­fe der etwa hun­dert­tau­send Betei­lig­ten, beein­druckt mich bis heu­te. Unse­re Tri­bü­ne war kei­ne hun­dert Meter Luft­li­nie von der Herr­scher­lo­ge ent­fernt, in wel­cher kein Gerin­ge­rer als Kim Jong-un selbst, nebst sei­nen Getreu­en, Platz genom­men hat­te. Ein sono­res Rau­nen ging durchs wei­te Rund, des größ­ten Sta­di­ons der Welt, mit einem Fas­sungs­ver­mö­gen für etwa 150.000 Men­schen, als der obers­te Füh­rer höchst­per­sön­lich in Erschei­nung trat. Gefei­ert fast wie ein Mes­si­as, wie ein Enkel Got­tes in jedem Fal­le, ihres Got­tes. Denn sie wis­sen von kei­ner ande­ren Glau­bens­form. Doch was weiß ich, der ein­ge­bil­de­te Freie? Das wird eine ganz ande­re Fra­ge sein, bei wel­cher ich immer noch über­le­ge, wie mei­ne per­sön­li­che Ant­wort aus­fällt.

Der Reisende wird gespiegelt

Doch so oder so: Nord­ko­rea hält uns West­lern den Spie­gel vor. Das Land am Ende der Welt ist schlicht und ein­fach das gan­ze Gegen­teil des­sen, was wir von hier, von Deutsch­land, von unse­rem Leben im Über­fluss, ken­nen. Obgleich ich Erin­ne­rungs­re­lik­ten mei­ner Kind­heit in der Deut­schen Demo­kra­ti­schen Repu­blik über­all begeg­ne­te. Die spä­ten Acht­zi­ger sind hier noch all­ge­gen­wär­tig. Mit den Plat­ten­bau­ten in Rei­he und Glied, den klei­nen Büd­chen, in denen es das Nötigs­te zu kau­fen gib. Hier und da hüll­te es mich immer wie­der in eine nost­al­gi­sche Stim­mung. Zwei Male konn­te ich Xio­ma­ra in die­ses Land vor unse­rer Zeit beglei­ten und davon pro­fi­tie­ren, dass Sie sich ver­hält­nis­mä­ßig frei bewe­gen kann. So bil­de ich mir ein, den ein oder ande­ren Blick hin­ter die Kulis­sen, an den Wider­sprüch­lich­kei­ten vor­bei, erhascht zu haben. Was an Ein­drü­cken domi­niert, fühlt sich absurd und auch befremd­lich an. Aber eben­so bleibt eine unglaub­li­che, sel­te­ne Form der Schön­heit jen­seits der Uni­for­mie­rung und Kol­lek­ti­vie­rung zurück.

Was nimmt man mit, zurück in die rest­li­che Welt? Den fes­ten Glau­ben dar­an, dass eine Wie­der­ver­ei­ni­gung Kore­as mög­lich ist? Ja! Und ich wün­sche es von gan­zem Her­zen! Behut­sam und sen­si­bel müss­te es dann aller­dings von­stat­ten­ge­hen. So fra­gil schei­nen die See­len der Men­schen durch ihr Unwis­sen, ihre Unschuld. An einer Stel­le der Rei­se wur­de mir beson­ders mul­mig zumu­te. Auch, weil man als Deut­scher auf eine ähn­li­che Geschich­te zurück­blickt, dank­ba­rer­wei­se mit glück­li­chem Aus­gang. Ich lief allein auf wei­ter Flur über ein para­die­si­sches Sand­stück an der Ost­küs­te Nord­ko­re­as, die Son­ne schien wie auf einer Urlaubs­post­kar­te und ich blick­te über das Japa­ni­sche Meer, qua­si in Rich­tung Frei­heit. Vie­le Nuss­scha­len ver­lie­ßen schon die­se Küs­te. In der Hoff­nung auf ein selbst­be­stimm­tes Leben – dabei ist die Küs­te Japans viel zu weit weg, vie­le Boo­te ken­tern oder die ver­zwei­fel­ten Flücht­lin­ge ver­hun­gern auf offe­ner See. Wer Nord­ko­rea als Nord­ko­rea­ner ver­lässt, muss es für immer tun, tot oder leben­dig. Es gibt kein Zurück, so oder so. Zwei Tage spä­ter stei­ge ich ganz selbst­ver­ständ­lich und pri­vi­le­giert in den Flie­ger nach Peking. Kei­nen der Men­schen, denen ich begeg­net bin, wer­de ich sehr wahr­schein­lich so schnell je wie­der­se­hen.

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Antwort

  1. Avatar von Kerstin Schmidt
    Kerstin Schmidt

    Ja.. Nord­ko­rea ist ein Land für Rei­sen­de, die bereits viel von der Welt gese­hen haben und etwas Außer­ge­wöhn­li­ches suchen, ein Land, das man mit kei­nem ande­ren ver­glei­chen kann..

    MfG Kers­tin

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